ADB:Marr, Heinrich (Schauspieler)

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Marr, Heinrich“ von Joseph Kürschner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 20 (1884), S. 417–420, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Marr,_Heinrich_(Schauspieler)&oldid=- (Version vom 20. Dezember 2024, 04:30 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Band 20 (1884), S. 417–420 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Heinrich Marr in der Wikipedia
Heinrich Marr in Wikidata
GND-Nummer 11857809X
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|20|417|420|Marr, Heinrich|Joseph Kürschner|ADB:Marr, Heinrich (Schauspieler)}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=11857809X}}    

Marr: Heinrich M., der Letzte der alten Schule, ausgezeichneter Schauspieler, geb. am 30. August 1797 zu Hamburg. † daselbst am 16. Septbr. 1871. M. ist eine der merkwürdigsten Persönlichkeiten der modernen Theatergeschichte, die schon als seltener Typus längst eine eingehende biographische Würdigung verdient hätte. Er selbst hat dazu ein stattliches Material hinterlassen, von dem aber bisher nur einige Theile durch seine noch lebende zweite Gattin, Elisabeth Sangalli aus Heinrichswalde (vermählt am 2. Septbr. 1849) in Zeitschriften (Salon 1875 f.) veröffentlicht wurden. M. vertrat in einer Zeit, welche dem schauspielerischen Virtuosenthum in ausgesprochener Weise huldigte, die natürliche Einfachheit und Wahrheit der alten Schule mit allem Nachdruck, wo es sein mußte, mit aller Rücksichtslosigkeit ohne Ansehen der Person. Manche menschliche Schwächen mochte man mit Recht dem Künstler vorwerfen, Mangel an Liebe zu seiner Kunst gewiß nicht. Noch auf dem Sterbebette nannte er sie [418] seine geistige Trösterin, seine „Scheherazade, die mir die wunderbarsten und lachendsten Märchen erzählt“. So sah und empfand er den Tod nicht, der an seiner Seite stand – wie Wehl (Gartenlaube 1871, Nr. 44) sagt – vor lauter Liebe und Begeisterung für seine Kunst. M. stammte aus einem wohlsituirten Bürgerhaus; die ersten theatralischen Eindrücke, die er empfing, gingen von der Bühne seiner Vaterstadt aus, die mit Recht eines glänzenden Rufes genoß und deren Mitglieder großentheils in seinem Elternhaus verkehrten. So war die Lust selbst Schauspieler zu werden rasch geweckt und er folgte ihr, nachdem er als kaum sechszehnjähriger Jüngling den Kampf gegen den französischen Unterdrücker mitgemacht hatte. Friedrich Ludwig Schmidt, Herzfeld, Jakobi und Zimmermann nahmen an seinem Vorhaben zur Bühne zu gehen, Antheil und am 14. April 1815 betrat er dieselbe zum ersten Mal als Bürger von Eger in dem Kuno’schen Schauspiel „Die Räuber von Maria-Culm“. Da die heimische Bühne wenig Gelegenheit zu seinem Fortschritt bot, ging er von Schmidt und Zimmermann empfohlen nach Lübeck, wo Director Hinze das Directionsscepter schwang. Hatte ihm Jacobi auf der gefeierten Hamburger Bühne die künstlerische Würde des Standes vor Augen gestellt, so wurde ihm durch seinen Principal in Lübeck die sociale Stellung des Schauspielers vor Augen gerückt. Das Prinzip Hinze’s war: können wir auch zur Hebung der Kunst nichts thun, so wirken wir doch auf die Sittlichkeit des Künstlerstandes. Die Hinze’sche Regel: „Anständige und honette Acteurs betreiben auch ihr Bühnengeschäft anständig und honett“, konnte ganz wohl auch Eckhof gegeben haben. Daß es der Direction Ernst mit ihren Grundsätzen war, bewies sie M. 1818. Der junge Mann hatte sich im März genannten Jahres durch eine schöne Schauspielerin verführen lassen, sie ohne Urlaub bei ihrer Abreise von Lübeck zu begleiten und erst nach 2 Tagen wieder einzutreffen. Unnachsichtlich erhielt er seinen Abschied, mit der in unsrer Zeit unter gleichen Verhältnissen gar nicht denkbaren Mahnung: Hüten Sie sich, lieber Marr, sich nicht mit dem Vorwurf zu beladen, auch das Ihre zur Verlotterung des Bestehenden beigetragen haben.“ Aehnlich hatte ihm Friedrich Ludwig Schmidt als Lebewohl zugerufen „Respect vor dem Ganzen“. Hinze empfahl M. an Klingemann nach Braunschweig, wo aber M., unzufrieden, nicht rascher vorwärts zu kommen, nur kurze Zeit blieb. Auch in Cassel, wohin er durch Klingemann’s Empfehlung gekommen und „sich als jugendlicher Liebhaber versuchte, ohne daß man an ihm die spätere feinere Charakteristik zu erkennen vermochte“ (Lynker, Gesch. d. Th. u. d. Mus. in Cassel p. 352), blieb er nicht lange, weil er die Grundsätze seiner Schule, die hier wenig galten, bedroht sah. Mit Rücksicht auf seine Familie – er hatte in Braunschweig geheirathet – nahm er ein Engagement am Stadttheater zu Magdeburg, fand sich aber so wenig befriedigt, daß er auch diese Stadt bald wieder verließ und nach Dresden ging, um dort zu gastiren. Seine Familie ging inzwischen zu seinen Eltern. In Dresden fand der Gast beifällige Aufnahme und würde wohl dort geblieben sein, wenn ihm nicht von einer geheimnißvollen Protektorin der Weg nach Hannover erschlossen worden wäre. Seit 1820 wirkte er nun am dortigen Hoftheater und hier vollzog sich sein Uebergang zum Charakterfach, in dem er nachmals so Ausgezeichnetes leistete. Die erste Charakterrolle die er spielte war Franz Moor (25. Juni 1821). Seine Beliebtheit stieg bald außerordentlich und er durfte manchen Streich ausführen, der bei anderen zu Mißhelligkeiten aller Art geführt hätte. Unhaltbar wurden die Verhältnisse, als Holbein zum Director berufen wurde, den M. mißachtete. Er verhehlte dies nicht und bat schließlich um seine Entlassung, ohne sie jedoch zu erhalten. Sein Drang von Hannover fortzukommen, wuchs, als ihm Herzog Karl II. von Braunschweig seinen Wunsch zu erkennen gab, ihn auf seiner [419] Bühne zu sehen, ja ihn direct zum „Durchgehen“ aufforderte. M. widerstand den Lockungen nicht und Ende Juni 1827 führte er wirklich seine Flucht aus. Bis 1838 blieb er in Braunschweig und war nicht allein als Schauspieler, sondern auch als Regisseur thätig. Hier auch war es, wo er bei der ersten Aufführung des „Faust“ (19. Januar 1829) den Mephistopheles, nachmals eine seiner bedeutendsten Rollen, spielte. Hierbei gestattete er sich zur Erzielung eines effectvollen Abgangs die berüchtigte Verbesserung: „Dir wird gewiß einmal bei Deiner Gottähnlichkeit bange, – bange … bange!!!“ Sowohl 1830 als 1837 gastirte er am Burgtheater zu Wien, dessen Mitglied er 1838 wurde und bis 1844 blieb. Laube in seiner „Geschichte des Burgtheaters“ erwähnt dieses Engagements mit keinem Wort und Wlassaks Chronik desselben Instituts beschränkt sich auf die dürftige Mittheilung: Er übernahm einige Rollen des 1837 verstorbenen Costenoble und war ein vortrefflicher Darsteller gewisser fein komischer Rollen, hatte übrigens auch tüchtige Leistungen im Charakterfach aufzuweisen (a. a. O. p. 198). Auch über Marr’s Wirksamkeit in Leipzig unter Director Dr. Schmidt beschränkt sich Laube (Nordd. Theater p. 116) auf das Lob der sorgsamen energischen Regieführung Marr’s. Die Leipziger Zeit ist ein Glanzpunkt in Marr’s Leben; er war, wie Kneschke (Gesch. d. Th. u. d. Mus. in Leipzig p. 187) richtig sagt, der eigentliche artistische Leiter, die Seele und der Mittelpunkt des Ganzen, der Schule machte und junge Talente zu bemerkenswerther Höhe entwickelte. Ebenso treffend ist Kneschke’s Urtheil über den Künstler M. und verdient zur Charakteristik desselben hier einen Platz: M. gehörte zu den immer seltener werdenden Mitgliedern der sogenannten alten Schule, in welcher Naturtreue und Lebenswahrheit, Ernst des Strebens und Reife der Auffassung oberster Grundsatz waren. In Marr’s Spiel fand man vielleicht nur wenig Spuren genialen Gepräges, dafür aber höchste Intelligenz, Schärfe des künstlerischen Verstandes, Gediegenheit der Ausführung bis ins Detail hinein und meisterliche Technik. M. erreichte denn auch in Leipzig Bedeutendes und verhalf dem Schauspiel zu glanzvoller Stellung, was ihm aber von den Freunden der Oper, die diese unterdrückt glaubten, so sehr verübelt wurde, daß sie ihn eines Abends auspfiffen (Devrient V, p. 18). 1848 trat M. in den Mitgliedverband des Thaliatheaters in Hamburg ein und blieb bis 1852 als Schauspieler und Oberregisseur hier thätig. Der Abgang Marr’s von den damals Vereinigten Theatern Hamburgs geschah aus tiefer Entrüstung über die traurigen Zustände, die dort zu herrschenden geworden waren. Trotzdem kehrte er 1858 nach Hamburg zurück und verblieb hier bis an seinen Tod, wohl am meisten um die Entwickelung der trefflichen Schauspielbühne des Thaliatheaters verdient. 1853 war M. einem Ruf an das Hoftheater nach Weimar gefolgt, aber wegen eines Zusammenstoßes mit dem Oberhofmarschall von Beaulieu 1856 pensionirt worden. 1865 hatte M. in Hamburg sein 50jähriges Bühnenjubiläum, in außerordentlicher Weise gefeiert, begangen und unternahm dann noch einmal eine große Gastspielreise durch Deutschland. – Das Beste hat M. als Schauspieler in bürgerlichen Dramen geleistet; besonders gelungen war seine Darstellung des Riccaut, des alten Feldern, Kaufmann, Schewa, Baruch, Marquis (Helene v. Seiglière). Einen besseren Regisseur als ihn hat es kaum gegeben. Immer das Ganze im Auge, kannte er keine Rücksicht, und ruhte nicht, bis auch das Kleinste „klappte“ und ging mit derselben Strenge gegen Andere ins Gericht, die er gegen sich selbst übte. Ueber Alt und Jung goß er die Lauge seines scharfen Spottes aus und duldete von keiner Seite Opposition; doch erreichte er damit ausgezeichnete Resultate, und selbst die, welche unter seiner Schärfe zu leiden gehabt hatten, mußten ihm zugestehen, wie sehr er sie gefördert. „Der alte Komödiantenschulmeister kann das Dozieren nicht lassen“, so schreibt er noch am 20. Januar 1871 [420] und bis zuletzt hegte er den Wunsch als Vorstand einer schauspielerischen Bildungsanstalt seine Erfahrungen und Grundsätze zum Ruhme der Kunst zu verwenden. – Marr’s Thätigkeit als Schriftsteller ist von geringem Belang, was er hier publicirt hat, findet sich verzeichnet im Hamburger Schriftstellerlexikon.