« Inhalt Philon
Ueber die Cherubim
[[Ueber die Cherubim/|]] »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
[172]
UEBER DIE CHERUBIM UND DAS FLAMMENDE SCHWERT
UND UEBER KAIN, DEN ERSTGEBORENEN DES MENSCHEN

1 (1). „Und Gott vertrieb den Adam und stellte gegenüber [I p. 138 M.] dem Garten der Ueppigkeit die Cherubim hin und das flammende Schwert, das sich drehende, zu hüten den Weg zum Baume des Lebens“ (1 Mos. 3,24). Hier gebraucht Moses den Ausdruck „vertrieb“, vorher sagt er „entsendete“ (V. 23); aber nicht leichthin verwendet er die Ausdrücke, sondern in dem Bewusstsein, dass er damit richtig und zutreffend die [p. 139 M.] Dinge bezeichnet. 2 Der Entsandte ist nämlich nicht gehindert, die Rückkehr zu erlangen, der von Gott Vertriebene aber erleidet ewige Verbannung. Denn dem, der noch nicht mit aller Macht von Lastern ergriffen wurde, ist die Möglichkeit gegeben, wenn er bereut, zur Tugend, von der er abgefallen ist, wie zur Heimat zurückzukehren; wer aber dem Druck der heftigen und unheilbaren Krankheit völlig unterlegen ist, muss das Unglück bis in alle Ewigkeit tragen, für immer verjagt an den Ort der Frevler, um dort beständig und unaufhörlich ein unseliges Schicksal zu erleiden. 3 Sehen wir doch auch, wie Hagar, die mit den allgemeinen Wissensgegenständen sich beschäftigende mittlere Bildung[1], zweimal von Sarah, der herrschenden Tugend[2], fortgeht, das erstemal auf demselben Wege umkehrt — denn da sie entlaufen, nicht vertrieben war, wird sie von dem ihr begegnenden Engel, d. h. der göttlichen Vernunft, in das Haus der Herrin zurückgeführt (1 Mos. 16,6 ff.) —, das zweite Mal aber vollständig, ohne die Möglichkeit[173] einer Rückkehr, vertrieben wird. 4 (2.) Die Gründe der ersten Flucht wie der späteren ewigen Verbannung müssen wir nun erörtern. Abraham und Sarah waren noch nicht umbenannt, d. h. ihre Seelen waren noch nicht umgeformt und im Vorschreiten zum Besseren veredelt, sondern Abraham war noch der „hochstrebende Vater“[3], der die Erforschung der hoch in der Luft sich ereignenden und der darüber hinaus am Himmel befindlichen Dinge betrieb, ein Lerngebiet, das den vorzüglichsten Teil der Naturwissenschaft bildet, 5 und Sarai, die symbolische Bezeichnung meiner Herrschaft — denn der Name bedeutet „meine Herrschaft“ — hatte sich noch nicht in die allgemeine Tugend umgewandelt — jedes Allgemeine ist ja unvergänglich —, sie befand sich noch bei den Einzeldingen und Arten, wie die Denkkraft in mir und die Besonnenheit, ebenso die Tapferkeit und Gerechtigkeit, die vergänglich sind, weil auch ich, bei dem sie ihre Stätte haben, vergänglich bin. 6 Damals hat Hagar, die mittlere, allgemein wissenschaftliche Bildung, dem ernsten und strengen Leben der Tugendfreunde zu entfliehen versucht, sie kehrt aber wieder zu demselben zurück, da es noch nicht die allgemeinen und unvergänglichen Höhen zu erreichen vermag, sondern noch an den Einzeldingen und Arten haftet, wo eine mittlere Stellung statt der höchsten erwünscht ist. 7 Dann aber wird Abram aus einem Erforscher der Natur zu einem Weisen und Gottesfreunde und wird Abraham [p. 140 M.] umbenannt, was „auserwählter Vater des Schalls“ bedeutet — denn das laut ausgesprochene Wort schallt, dessen Vater aber ist der Geist, und auserwählt ist der (Geist) des Weisen[4] —; und Sarai wird statt „meiner Herrschaft“ Sarah, d. h. „die Herrschende“, was soviel bedeutet wie: aus der einzelnen, vergänglichen Tugend wurde sie zur allgemeinen, unvergänglichen; 8 da erstrahlt auch der Stern der Glückseligkeit, Isaak[5], nach dem Aufhören der weiblichen Weise[6] und nach dem Absterben[174] der Empfindungen der Freude und des Wohlbehagens[7], der auch Spielen, aber nicht denen der Kinder, sondern den göttlichen nicht ohne Eifer nachgeht. Dann erst werden die durch den Namen Hagar bezeichneten Vorkenntnisse, dann wird auch ihr mit seinem Scheinwissen sich brüstender Sohn mit Namen Ismael[8] vertrieben. 9 (3.) Sie werden aber die ewige Verbannung erleiden, da Gott ihre Vertreibung bestätigt, indem er dem Weisen befiehlt, auf die Worte der Sarah zu hören, und ausdrücklich gebietet, „die Magd und ihren Sohn zu vertreiben“ (1 Mos. 21,12.10). Der Tugend aber zu folgen ist sittliche Pflicht, besonders wenn sie die Lehre begründet, dass die ganz vollkommenen Naturen von den Beschaffenheiten mittlerer Art gar sehr verschieden sind, und dass die Weisheit mit der Scheinweisheit nichts zu schaffen hat; denn diese klügelt scheinbar glaubliche Dinge aus, um falsche Meinung hervorzubringen, die die Seele schädigt, die Weisheit dagegen verschafft durch sorgsame Pflege des Wahren den grossen Nutzen der Seele, die Erkenntnis von der „rechten Vernunft“[9]. 10 Was wundern wir uns also, dass Gott auch Adam, den Geist, der die unheilbare Krankheit der Unvernunft sich zugezogen hat, für alle Zeit aus der Stätte der Tugenden hinausgetrieben und ihm nicht gestattet hat, wieder zurückzukehren? Wird doch auch ganz und gar der Scheinweise und seine Mutter, die Schule der wissenschaftlichen Vorkenntnisse, vertrieben und wegverbannt von der Weisheit und dem Weisen, die die Schrift mit Namen Abraham und Sarah nennt.

11 (4.) Damals hatten das flammende Schwert und die Cherubim ihre Wohnstätte gegenüber[10] dem Garten. Der Ausdruck „gegenüber“ bezeichnet entweder etwas feindlich Gegenüberstehendes oder etwas, was sich zur Urteilsfällung stellt, wie der Angeklagte vor dem Richter, oder etwas Freundliches, was betrachtet und durch genaueres Anschauen vertrauter[175] werden soll, wie echte Gemälde und Bildsäulen vor Malern und Bildhauern. 12 Ein Beispiel für das (feindliche) Gegenüberstehen ist das Wort, das die Schrift von Kain sagt: „er ging fort vom Angesichte Gottes und wohnte im Lande Nod gegenüber Eden“ (1 Mos. 4,16). Nod bedeutet „unruhige Bewegung“, Eden „frohen Genuss“[11]; jenes bezeichnet sinnbildlich [p. 141 M.] das die Seele hin und her schüttelnde Laster, dieses die Tugend, die ihr Wohlbehagen und frohen Genuss verschafft, nicht den Genuss durch die unvernünftige Leidenschaft der Wollust, sondern die mit grossem Behagen verbundene mühelose und sorglose Freude. 13 Wenn nun die Seele sich von der Vorstellung Gottes entfernt, auf die sich zu stützen für sie gut und nützlich wäre, da muss sie, wie ein Schiff auf dem Meere von entgegenwehenden gewaltigen Stürmen, hierhin und dahin geworfen werden, sodass sie zur Heimat und Wohnstätte bekommt Unruhe und Erschütterung, die im grössten Gegensatz stehen zu der Festigkeit der Seele, die ihr die durch Eden bezeichnete Freude verschafft. 14 (5.) Für das Gegenüberstehen zum Zweck der Urteilsfällung ist ein Beispiel das des Weibes, das aus Eifersucht des Ehebruchs beschuldigt wird. „Stellen soll“, so heisst es, „der Priester das Weib vor den Herrn und ihr Haupt enthüllen“ (4 Mos. 5,18). Was die Schrift damit erklären will, wollen wir untersuchen. Das Nötige wird oft nicht in der nötigen Weise getan und das nicht Pflichtmässige bisweilen in pflichtmässiger Weise[12]. Z. B. wenn die Rückgabe eines Pfandes nicht aus ehrlicher Absicht geschieht, sondern entweder zum Schaden des Empfängers oder in hinterlistiger Absicht der Ableugnung eines grösseren anvertrauten Gutes, so wird eine pflichtmässige Tat nicht in der nötigen Weise vollbracht. 15 Wenn aber der Arzt dem Leidenden nicht die Wahrheit sagt, falls er zum Nutzen des Kranken ihn zu entleeren oder zu schneiden oder zu brennen beschlossen hat, damit dieser nicht in Voraussicht der Schmerzen sich der Behandlung entziehe oder vor Schwäche dabei versage, oder wenn der Weise die Feinde tauscht zum Heile des Vaterlandes, in[176] der Befürchtung, dass durch seine Wahrhaftigkeit die Macht der Gegner gestärkt werden könne, so wird ein nicht pflichtmässiges Werk in der nötigen Weise getan. Deshalb sagt auch Moses, dass man „gerecht die Gerechtigkeit ausüben solle“ (5 Mos. 16,20)[13], weil es auch auf ungerechte Weise möglich ist, wenn nämlich der Richtende nicht in ehrlicher Absicht der Sache sein Ohr leiht. 16 Nun kann zwar das gesprochene Wort oder die verübte Tat allen deutlich erkennbar sein, nicht aber die Gesinnung, aus der heraus das Wort gesprochen oder die Tat verübt wurde; es kann vielmehr unklar sein, ob sie gesund und rein oder ob sie krank und mit vielen Flecken behaftet ist, und kein Sterblicher ist imstande den Gedanken einer unbekannten Absicht zu durchschauen, sondern nur Gott allein, weshalb auch Moses sagt: „das Verborgene ist Gott dem Herrn, das Offenkundige ist dem Geschaffenen erkennbar“ (5 Mos. 29,28). 17 Daher ist dem priesterlichen und prophetischen Wort[14] geboten, die Seele „Gott gegenüberzustellen mit unverhülltem Haupte“, d. h. entblösst in ihrem Hauptentschluss und entkleidet in ihrer Absicht, damit sie mit den scharfen Augen des unbestechlichen Gottes geprüft entweder, wie ein unechtes Geldstück, der verborgenen Heuchelei überführt werde oder von jeder Schlechtigkeit frei die gegen sie gerichteten Verleumdungen wegwische, indem sie zum Zeugen den anruft, der allein die Seele nackt zu sehen vermag. 18 (6.) Dies ist also die Gegenüberstellung zum Zwecke der Urteilsfällung. Die zum Zwecke des Vertrauterwerdens aber wird bei dem allweisen Abraham gebraucht, denn es heisst: „noch stand er dem Herrn gegenüber“ (1 Mos. 18,22); und ein Beweis der Vertrautheit ist der Zusatz: „er trat näher und sprach“ (ebenda). Denn für einen, der fremd gegenübersteht, ziemt es sich wegzutreten und sich zu entfernen, für den Vertrauten dagegen sich zu nähern. 19 Stehen aber und die Seele unwandelbar erhalten heisst näher treten der Macht Gottes, da die Gottheit unwandelbar, das Geschaffene dagegen von Natur veränderlich ist. Wenn einer also die dem Geschöpf[177] zukommende Veränderlichkeit aus Liebe zur Erkenntnis zügelt und sie zum Stehen zwingt, so kommt er unverkennbar der göttlichen Glückseligkeit nahe. 20 Den Cherubim und dem flammenden Schwert weist Gott also die Stätte gegenüber dem Garten mit Recht an, nicht wie Feinden, die sich entgegenstellen und kämpfen wollen, sondern wie Vertrauten und guten Freunden, damit aus der Betrachtung und dem beständigen Anschauen die Kräfte Sehnsucht zueinander bekommen, indem der gnadenreiche Gott die hochstrebende himmlische Liebe auf sie herabwehen lässt.

21 (7.) Was aber die Schrift mit den Cherubirn und dem sich drehenden flammenden Schwerte meint, müssen wir jetzt untersuchen. Vielleicht will sie damit die Umlaufsbewegung des ganzen Himmels symbolisch bezeichnen. Denn eine Bewegung nach einander entgegengesetzten Richtungen haben die Himmelssphären auszuführen, die der Fixsterne nach rechts, die der Planeten nach links. 22 Die äusserste Sphäre, die der sog. Fixsterne, ist eine, die sich immer in demselben Kreislauf von Osten nach Westen bewegt; der inneren Sphären, der der Planeten, gibt es sieben, die einen freiwilligen und einen gezwungenen Umlauf haben, da sie entgegengesetzte und doppelte Bewegungen innehalten. Und zwar ist ihre unfreiwillige (Bewegung) ähnlich der der Fixsterne, denn sie scheinen an jedem Tage von Osten nach Westen zu wandern, die ihnen eigentümliche aber geht von Westen nach Osten, bei der die Umläufe der sieben Gestirne auch längere Zeiten in Anspruch nehmen, die gleichlaufenden gleiche, nämlich Sonne, [p. 143 M.] Morgenstern und Stilbon (Merkur), diese drei Planeten haben gleiche Geschwindigkeit, die ungleich laufenden ungleiche zwar, aber doch in bestimmtem Verhältnis zueinander und zu jenen drei stehende[15]. 23 Der eine der Cherubim ist nun die äusserste Sphäre, der äusserste Teil des ganzen Himmels, die[178] Rundung, in welcher die Fixsterne die sich immer gleichbleibende wahrhaft göttliche Reigenbewegung vollführen, ohne je von der Stelle zu weichen, die ihr Schöpfer, der Allvater, ihnen in der Weltordnung angewiesen hat. Der andere ist die innere Sphäre, die Gott sechsfach schied und in sieben einander entsprechende Kreise teilte, denen er je einen der Planeten einfügte; 24 wie einen Wagenlenker auf einen Wagen setzte er das Gestirn in seinen Kreis, vertraute aber die Zügel keinem der Wagenlenker an, aus Besorgnis vor ihrer fehlerhaften Lenkung, sondern behielt alle Zügel bei sich selbst in der Ueberzeugung, dass eine harmonische Ordnung der Bewegung nur so entstehen werde; denn mit Gott ist alles lobenswert, wie ohne Gott tadelnswert. 25 (8.) Die Cherubim werden also nach der einen Erklärungsart so gedeutet. Mit dem flammenden und sich drehenden Schwert aber ist, wie wir annehmen müssen, ihre Bewegung und der ewige Kreislauf des ganzen Himmels gemeint. Nach anderer Auffassung bedeuten die Cherubim vielleicht die beiden Halbkugeln; sagt doch die Schrift von ihnen, dass sie mit ihren Gesichtern einander zugekehrt sind und mit ihren Flügeln sich auf die Sühnplatte neigen (2 Mos. 25,19), und sind doch auch diese (die Halbkugeln) einander zugekehrt und zur Erde geneigt, dem Mittelpunkt des Weltalls, durch den sie auch voneinander geschieden sind[16]. 26 Die Erde ist der von allen Teilen der Welt allein fest stehende und ist darum von den Alten zutreffend Hestia genannt[17], damit die durchaus harmonische Umkreisung der beiden Halbkugeln um etwas fest Stehendes erfolge. Das flammende Schwert aber ist Sinnbild der Sonne[18]; denn diese ist eine Verdichtung vielen Feuers und das schnellste aller Dinge, so dass an einem Tage die ganze Welt von ihr umkreist wird.[179] 27 (9.) Ich vernahm aber auch einmal eine weisere Erklärung von meiner Seele, die häufig göttliche Eingebungen zu empfangen pflegt auch über Dinge, die sie nicht zu deuten weiss; ich will sie, wenn ich kann, aus meiner Erinnerung wiedergeben. Es wurde mir gesagt, dass bei dem einig einzigen und wirklich seienden Gott zwei oberste und erste Kräfte sind, [p. 144 M.] die Güte und die Allmacht; mit der Güte habe Gott das All geschaffen, mit der Allmacht beherrsche er das Geschaffene; ein Drittes aber, das beide zusammenführt und zwischen ihnen vermittelt, sei die Vernunft, denn durch die Vernunft sei Gott sowohl Herrscher als gütiger (Vater). 28 Die Cherubim seien nun Sinnbilder der beiden Kräfte Herrschermacht und Güte[19], Sinnbild der Vernunft aber das flammende Schwert; denn schnell beweglich und glühend heiss ist die Vernunft[20], und besonders die des (göttlichen) Urhebers, weil er allem voraus war, vor allem gedacht werden muss und am Ende aller Dinge offenbar sein wird. 29 Nimm also, o Seele, das Bild der beiden Cherubim unverfälscht in dir auf, damit du, über Macht und Güte des Urhebers deutlich belehrt, ein glückseliges Los gewinnest; denn alsbald wirst du die innige Verbindung der reinen Kräfte erkennen, in der Gott bei Kundgebung seiner Herrscherwürde (zugleich) gütig und bei Kundgebung seiner Güte (zugleich) als Herrscher erscheint. So wirst du dir die diesen (Kräften) entstammenden Tugenden, Menschenfreundlichkeit und Gottesfurcht, erwerben, wirst dich weder im Glücke überheben im Hinblick auf die Grösse der Herrschermacht des Herrn noch bei unerwünschten Leidensfällen die Hoffnung auf Besserung ganz aufgeben im Gedanken an die Milde des grossen und gnadenreichen Gottes. 30 Das flammende Schwert aber (bedeutet), dass diesen (Kräften) an die Seite treten muss die die Dinge vermittelnde heisse und feurige Vernunft, die niemals aufhört sich mit allem Eifer hin- und herzubewegen zur Aufnahme alles Guten und zur Vertreibung alles Bösen.[180] 31 (10.) Siehst du nicht, dass auch Abraham der Weise, als er begann alles nach Gott zu messen und nichts für das Geschaffene übrig zu haben, in Nachahmung des flammenden Schwerts „Feuer und Schlachtmesser nahm“ (1 Mos. 22,6), um das Sterbliche von sich abzutrennen und abzubrennen, in dem heftigen Verlangen, mit reiner Seele sich hoch zu Gott emporzuschwingen? 32 Den Bileam dagegen, „das nutzlose Volk“[21], der waffenlos ist, bezeichnet Moses als unkriegerischen und davonlaufenden Mann, während er selbst den Krieg versteht, den die Seele für das Wissen führen soll. Bileam sagt nämlich zu dem Esel, dem vernunftlosen Lebensweg, den jeder Unvernünftige beschreitet: „hätte ich ein Schwert, würde ich dich schon, durchbohrt haben“ (4 Mos. 22,29). Grosser Dank gebührt dem Schöpfer, der die Raserei der Unvernunft kennt, dass er ihr nicht wie ein Schwert einem Rasenden die Macht der Rede verliehen hat, damit sie nicht über alle, die ihr begegnen, grosses und ungerechtes Verderben bringe. 33 Dieselben Vorwürfe wie Bileam macht wohl jeder der Ungeweihten [p. 145 M.] mit immer unnützen Reden, wenn er den Beruf eines Kaufmannes oder Landmanns ausübt oder irgend ein anderes einträgliches Gewerbe betreibt: solange ihm alles gut gelingt, geht und fährt er froh einher und hält sich daran fest und will durchaus nicht davon ablassen, wirft vielmehr denen, die ihn auffordern, etwas aufzugeben und in seinen Begierden Mass zu halten wegen der Ungewissheit der Zukunft, Neid und Missgunst vor und behauptet, dass sie nicht aus Wohlwollen solche Vorschläge machen; 34 wenn ihn aber ein unerwartetes Unglück trifft, behandelt er diese wie gute Propheten und wie Leute, die Zukünftigem vorzubeugen besonders imstande sind, den Dingen aber, die an dem Unglück durchaus unschuldig sind, gibt er alle Schuld, dem Landbau, dem Handel, den anderen Gewerben, durch die er zu Geldreichtum zu gelangen glaubte. 35 (11.) Diese aber werden, obwohl sie keine Sprachwerkzeuge haben, die durch die Verhältnisse selbst gegebene Stimme erheben, die deutlicher ist als die durch die Zunge: „du Verleumder“, sagen sie, „sind wir nicht[181] dieselben, mit denen du wie mit Zugtieren erhobenen Nackens einherfuhrest? haben wir dir etwa aus Uebermut sonst ein Missgeschick bereitet[22]? Sieh doch, wie uns bewaffnet der Engel gegenübersteht[23], die Vernunft Gottes, durch die das Gute und das Böse vollbracht wird! 36 Siehst du nicht? Was gibst du uns jetzt die Schuld, während du früher, als dir die Sachen gut gingen, keinen Tadel hattest? denn wir bleiben immer dieselben und verändern unsere Natur nicht um ein Pünktchen. Du aber urteilst unrichtig und bist ohne Grund unwillig. Denn wenn du von Anfang an erkannt hättest, dass nicht die Gewerbe, die du betreibst, Glück oder Unglück verursachen, sondern die das All lenkende und steuernde göttliche Vernunft, würdest du leichter tragen, was dich trifft, und aufhören, zu verleumden und uns etwas zuzuschreiben, wozu wir keine Macht haben. 37  Wenn nun die göttliche Vernunft den Kampf wieder abwendet und die Sorgen und Bekümmernisse darüber zerstreut und friedliches Leben dir verkündigt, wirst du heiter und froh uns die Rechte reichen, die wir doch immer gleich bleiben. Wir werden aber weder durch dein Wohlwollen stolz gemacht, noch kümmern wir uns darum, wenn du zürnst; wissen wir doch, dass wir weder an Gutem noch an Bösem schuld sind, magst du auch solches von uns glauben. Man müsste sonst auch dem Meere die Schuld geben an günstiger Fahrt wie an etwa eintretenden Schiffbrüchen, und nicht vielmehr der Verschiedenheit der Winde, die bald sanft wehen, bald mit gewaltiger Wucht daherstürmen. 38 Denn von Natur [p. 146 M.] ist jedes Wasser an sich ruhig; wenn ein günstiger Wind am Steuer (im Rücken) bläst und jedes Segel hochgezogen ist, fahren die Schiffe mit vollen Segeln in die Häfen ein; wenn aber der Wind plötzlich gegen das Vorderteil herstürmt, ruft er starken Strudel und Brandung hervor und vernichtet (die Schiffe); die angebliche Schuld an dem Unglück trägt dann das völlig schuldlose Meer, das doch offenbar nur infolge des Nachlassens oder der Heftigkeit der Winde entweder ganz ruhig ist oder von Wogen gepeitscht wird“. 39 Durch all dies wird es, glaube ich, hinlänglich klar, dass die Natur[182] dem Menschen die Vernunft als mächtigste Verbündete verliehen hat und den, der sie richtig zu gebrauchen vermag, zu einem glücklichen und wirklich vernünftigen Menschen macht, den aber, der es nicht vermag, zu einem unvernünftigen und unglücklichen.

40 (12.) „Adam erkannte sein Weib, und sie empfing und gebar den Kain, und sie sprach: ich erwarb mir einen Menschen durch Gott. Und sie gebar dazu seinen Bruder, den Abel“ (1 Mos. 4,12). Die Männer, denen der Gesetzgeber ihre Tugend bezeugt, lässt er nicht ihre Frauen erkennen, wie z. B. den Abraham, den Isaak, den Jakob, den Moses und wer sonst von gleichem Streben erfüllt ist. 41 Denn da, wie wir behaupten, das Weib in bildlichem Sinne die Sinnlichkeit bedeutet, die Erkenntnis aber in der Abwendung von der Sinnlichkeit und dem Körper besteht, so ergibt sich, dass die Liebhaber der Weisheit die Sinnlichkeit eher zurückweisen als zu sich nehmen. Und das hat seinen guten Grund; denn die mit diesen Männern Verbundenen sind nur dem Namen nach Weiber, in Wirklichkeit aber Tugenden, Sarah die herrschende und leitende[24], Rebekka die im Guten verharrende[25], Lea die verschmähte und bei beständiger Tugendübung sich abmühende[26], die jeder Unvernünftige abweist und verschmäht und der er sich verweigert, Zippora, die Frau des Moses, die von der Erde zum Himmel hinaufeilende und dort die göttlichen und glückseligen Wesen betrachtende; der Name bedeutet nämlich „Vögelchen“[27]. 42 Damit wir aber von Schwangerschaft und Geburtswehen der Tugenden sprechen können, mögen die vor Dämonen sich Fürchtenden ihre Ohren verschliessen oder sich entfernen; denn in göttlichen Geheimlehren unterrichten wir nur die der hochheiligen Weihen würdigen Eingeweihten, d. h. solche, die die wahrhafte und wirklich ungeschmückte Frömmigkeit in Demut ausüben; jenen aber künden wir die heiligen Lehren nicht, die mit unheilbarem Uebel behaftet sind, die mit Wortschwall und kleinlicher Spitzfindigkeit und[183] Begriffsfaselei[28] prunken, sonst aber nichts haben, woran sie Heiligkeit und Frömmigkeit messen[29]. 43 (13.) Der Unterricht [p. 147 M.] in der Geheimlehre muss nun also beginnen. Der Mann kommt mit dem Weibe, der männliche Mensch mit dem weiblichen, zusammen und pflegt, indem er der Natur folgt, Verkehr zur Erzeugung von Kindern. Die Tugenden, die viele vollkommenen Dinge hervorbringen, dürfen nicht einem sterblichen Manne anheimfallen; wenn sie aber nicht von einem andern den Samen empfangen haben, werden sie von selbst niemals schwanger werden. 44 Wer anders ist es nun, der in ihnen das Gute sät, als der Vater aller Dinge, der ungeschaffene und alles erschaffende Gott? Gott also gibt den Samen, die eigenartige Frucht aber, die er mit dem Samen hervorbringt, ist ein Geschenk; denn Gott erzeugt nichts für sich, da er vollkommen bedürfnislos ist, sondern alles für den, der es zu empfangen nötig hat. 45 Für das Gesagte kann ich als vollwertigen Zeugen den hochheiligen Moses anführen; er lässt nämlich die Sarah dann schwanger werden, als Gott in ihrer Vereinsamung auf sie schaut[30], gebären aber lässt er sie nicht dem, der auf sie geschaut hat, sondern dem, der Weisheit zu erlangen eifrig bestrebt ist, dessen Name Abraham ist. 46 Noch deutlicher lehrt er es uns bei der Lea[31], indem er sagt, dass Gott ihren Mutterschoss öffnete (1 Mos. 29,31) — den Mutterschoss zu öffnen ist doch aber Sache des Mannes —; sie aber empfing und gebar, nicht der Gottheit — denn diese ist sich allein genug und vollkommen ausreichend —, sondern dem die mühevolle Sorge um das Gute auf sich nehmenden Jakob. Also empfängt die Tugend zwar von dem (göttlichen) Urheber den göttlichen Samen, sie gebiert aber einem ihrer Liebhaber, der[184] vor allen Freiern von ihr vorgezogen wird. 47 Ebenso wird, nachdem der allweise Isaak Gott angefleht hatte, Rebekka, die beharrende Tugend, von dem Angeflehten (Gott) schwanger (1 Mos. 25,21). Ohne Flehen und Bitten nimmt Moses die geflügelte und hochstrebende Tugend, Zippora, und findet sie schwanger, keinesfalls von einem Sterblichen (2 Mos. 2,22). 48 (14.) Diese Lehren, o ihr Eingeweihten, die ihr reinen Ohres seid, nehmet als wirklich heilige Geheimnisse in eure Seelen auf und plaudert sie keinem der Uneingeweihten aus, sondern bewahret und hütet sie bei euch als einen Schatz, in dem nicht Gold und Silber, vergängliche Dinge, ruhen, sondern von allen Besitztümern das schönste, die Erkenntnis von dem Urheber (des Alls) und von der Tugend und drittens von dem Sprössling beider. Wenn ihr aber einem der Eingeweihten begegnet, so haltet euch an ihn und bittet ihn dringend, dass er, wenn er eine neue Geheimlehre kennt, sie euch nicht verberge, bis ihr klar darüber belehrt seid. 49 Denn auch ich, der ich durch den Gottesfreund Moses in die grossen Geheimlehren[32] eingeweiht war, habe dennoch, als ich nachher den Propheten Jeremias kennen [p. 148 M.] lernte und erkannte, dass er nicht bloss ein Eingeweihter, sondern auch ein bedeutender Hierophant ist, kein Bedenken getragen zu ihm in die Schule zu gehen. Er aber, der ja die meisten Aussprüche in göttlicher Begeisterung tut, verkündet einen Spruch im Namen Gottes, der sich an die ganz friedliche Tugend wendet mit den Worten: „hast du mich nicht Haus genannt und Vater und Mann deiner Jungfräulichkeit“ (Jerem. 3,4)[33]. Ganz deutlich lehrt er uns damit, dass Gott sowohl ein Haus ist, nämlich die unkörperliche Stätte unkörperlicher Ideen[34],[185] als auch Vater aller Dinge, der sie ja geschaffen hat, und endlich Mann der Weisheit, der den Samen der Glückseligkeit für das sterbliche Geschlecht in die gute und jungfräuliche Erde versenkt. 50 Denn mit der unbefleckten, unberührten, reinen Natur, dieser wahrhaften Jungfrau, zu verkehren ziemt allein Gott, und zwar ganz anders als uns; denn bei den Menschen macht die Vereinigung zum Zwecke der Kindererzeugung die Jungfrau zum Weibe; wenn aber Gott mit der Seele zu verkehren begonnen hat, erklärt er die, die zuvor schon Weib war, wieder zur Jungfrau, da er die unedlen und unmännlichen Begierden, durch die sie Weib wurde, aus ihr wegschafft und dafür die edlen und unbefleckten Tugenden in sie einführt. So verkehrt er mit Sarah nicht eher, als bis sie alle Eigenschaften des Weibes verloren hat (1 Mos. 18,11) und wieder zum Rang einer reinen Jungfrau zurückgekehrt ist. 51 (15.) Freilich ist es wohl möglich, dass auch eine jungfräuliche Seele durch zügellose Leidenschaften befleckt und geschändet wird. Deshalb nennt der Prophetenspruch achtsamerweise Gott nicht Mann der Jungfrau — denn diese ist wandelbar und sterblich — sondern „der Jungfräulichkeit“, d. h. der sich stets gleich bleibenden Idee. Denn während die körperlichen Dinge naturgemäss Werden und Vergehen erfahren, haben die die Einzeldinge prägenden Kräfte ein unvergängliches Los gezogen. 52 Der ungewordene und unwandelbare Gott pflanzt also angemessenerweise die Ideen unsterblicher und jungfräulicher Tugenden in die Jungfräulichkeit, die sich niemals in die Gestalt eines Weibes verwandelt. Weshalb nun, o Seele, die du im Hause Gottes jungfräulich sein und nach Erkenntnis streben solltest, wendest du dich davon ab und begrüssest freudig die Sinnlichkeit, die dich zum Weibe macht und dich befleckt? Wirst du doch einen beschmutzten und von Verderben erfüllten Sprössling gebären, den verfluchten Brudermörder Kain, ein nicht zu besitzendes Besitztum; denn Kain heisst „Besitz“[35].

53 (16.) Man könnte sich aber über die Art der Darstellung [p. 149 M.] wundern, deren sich der Gesetzgeber oft unter Abweichung von der Gewohnheit in vielen Fällen bedient. Nach (der Erzählung[186] von) den aus der Erde entstandenen[36] beginnt er uns den ersten Sprössling der Menschen zu schildern, über den er vorher noch nichts gesagt hat; als ob er vorher schon öfter seinen Namen genannt hätte und nicht vielmehr ihn erst jetzt in die Darstellung hineinbrächte, sagt er, dass sie den Kain gebar. Was für einen, o Meister? hast du doch zuvor nicht das geringste über ihn gesagt. 54 Und du kennst doch die rechte Art der Namennennung sehr wohl; denn gleich weiterhin sprichst du von derselben Person und sagst: „Adam erkannte sein Weib Eva, und sie empfing und gebar einen Sohn und nannte seinen Namen Seth“ (1 Mos. 4,25). Also wäre es weit mehr nötig gewesen bei dem Erstgeborenen, mit dem die Fortpflanzung der Menschen begann, die Beschaffenheit des Neugeborenen zuerst anzugeben, dass er nämlich männlich war, und dann erst seinen Namen hinzuzufügen, etwa Kain. 55 Da er indessen nicht aus Unkenntnis der Art, wie man Namen anführen muss, den gewohnten Gebrauch ausser Acht gelassen zu haben scheint, so müssen wir erwägen, aus welchem Grunde er so die Söhne der ersten Menschen genannt hat, mehr in beiläufiger Erwähnung als mit deutlicher Anführung der Namen. Wie mir nach Vermutung scheint, ist die Ursache die folgende. 56 (17.) Die grosse Masse der Menschen gibt gewöhnlich den Dingen Namen, die von den Dingen verschieden sind, so dass die wirklichen Dinge etwas Anderes sind als was ihre Benennungen besagen. Bei Moses dagegen sind die Namengebungen ganz klare Bezeichnungen der Dinge, so dass das Ding selbst notwendig zugleich der Name ist und der Name in keiner Weise verschieden ist von dem Gegenstande, für den er gesetzt ist. Deutlicher wirst du aus der vorliegenden Stelle erkennen, was ich meine. 57 Wenn der Geist in uns, der Adam heissen mag, auf die Sinnlichkeit, die Eva heisst, der die beseelten Wesen ihr Leben zu verdanken scheinen[37], trifft und sich ihr nähert, wenn diese dann wie in einem Netze empfängt und naturgemäss erfasst, was draussen wahrnehmbar ist, nämlich durch die Augen die Farbe, durch die Ohren den Ton, durch[187] die Nase den Duft, ferner durch die Geschmackswerkzeuge den Geschmack und durch den Tastsinn jeden körperlichen Gegenstand, so wird sie, nachdem sie empfangen, schwanger, bekommt sogleich Geburtswehen und gebiert das grösste der seelischen Uebel, den Wahn; denn sie wähnte, dass alles ihr Besitz sei, was sie sah, was sie hörte, was sie schmeckte, was sie roch, was sie fasste, und bildete sich ein, alles selbst erfunden und gestaltet zu haben. 58 (18.) Sie erfuhr dies aber nicht ohne Grund. Denn es gab einmal eine Zeit, da der Geist nicht mit der Sinnlichkeit[WS 1] Verkehr pflegte und keine Sinneswahrnehmung hatte, da er sich ganz und gar unterschied von den geselligen und in Herden zusammenlebenden [p. 150 M.] Geschöpfen, und den für sich allein und einsam lebenden Tieren glich. Damals nun, wie er für sich allein stand, berührte er nichts Körperliches, weil er kein Sehorgan bei sich hatte, mit dem er die Aussenwelt erfassen konnte, sondern blind und ohnmächtig war, nicht was die grosse Masse so nennt, wenn sie einen an den Augen Erblindeten erblickt, denn dieser ist nur eines Sinnes beraubt und befindet sich im vollen Besitz der anderen; 59 der Geist aber war aller Sinneskräfte beraubt, wirklich ohnmächtig, nur die Hälfte einer vollkommenen Seele, weil er der Fähigkeit ermangelte, mit der Körperliches erfasst werden kann, ein unglücklicher Teil für sich allein, der des dazugehörigen beraubt ist, ohne die Stützen der Sinneswerkzeuge, auf die er sich zu stützen vermöchte, wenn er wankt. Aus diesem Grunde war auch tiefes Dunkel über alle Körper ausgebreitet, da keiner in die Erscheinung treten konnte; denn der, dem sie bekannt werden sollten, hatte noch keine Sinnlichkeit. 60 Da nun Gott ihm die Erfassung nicht nur der unkörperlichen Dinge, sondern auch der festen Körper gewähren wollte, füllte er die Seele ganz aus[38], indem er den anderen Teil dem zuvor gestalteten einfügte; und diesem gibt er den Zunamen „Weib“ und den Namen Eva, meint aber damit die Sinnlichkeit. 61 (19.) Sobald diese aber entstanden war, ergoss sie durch jeden ihrer Teile wie durch Oeffnungen eine Fülle von Licht in den Geist, zerstreute die Finsternis und setzte ihn in den Stand, in voller Klarheit und Deutlichkeit die Beschaffenheit[188] der Körper wie ein Herr zu betrachten[39]. 62 Er aber wie aus finsterer Nacht vom strahlenden Sonnenlicht erhellt oder aus tiefem Schlaf erwacht oder wie ein Blinder, der plötzlich wieder sieht, fand auf einmal alles, was geschaffen ist, Himmel, Erde, Wasser, Luft, Pflanzen, Tiere, ihre Haltung, Beschaffenheit, Kräfte, Zustände, Lage, Bewegungen, Tätigkeit, Handlungen, Veränderungen, Vergehen, und das eine sah er, das andere hörte, kostete, roch oder betastete er; und dem einen neigte er sich zu, das ihm Lust bereitete, von dem andern wandte er sich ab, das ihm Schmerzen verursachte. 63 Wie er nun hierhin und dorthin um sich schaute und sich und seine Kräfte betrachtete, wagte er sich ebenso zu brüsten wie der Makedonenkönig Alexander; als dieser nämlich die Herrschaft über Europa und Asien erlangt zu haben glaubte, soll er auf einen geeigneten Platz getreten sein und alles ringsherum betrachtend gesagt haben; „dies hier und dies dort ist mein“, womit er nur die Leichtfertigkeit einer jugendlich unreifen und wirklich ganz gewöhnlichen, nicht königlichen, Seele zeigte. 64 Vor ihm aber wurde der Geist, nachdem er die Sinneskraft erlangt und durch sie jede Körperart erfasst hatte, von sinnlosem Dünkel erfüllt und aufgeblasen, so dass er wähnte, alles sei sein Besitztum und einem andern gehöre gar nichts. 65 (20.) [p. 151 M.] Das ist die Sinnesart in uns, die Moses bezeichnend Kain nennt, was „Besitz“ bedeutet, die voller Torheit, mehr noch voller Gottlosigkeit ist; denn statt alles für Gottes Besitztum zu halten, meint der Mensch, es gehöre ihm, wiewohl er nicht einmal sich selbst sicher zu besitzen vermag, ja nicht einmal weiss, was er seinem Wesen nach ist. Wenn er aber dennoch auf die Sinne vertraut, als seien sie imstande die wahrnehmbare Aussenwelt zu erfassen, so mag er doch sagen, wie er das Versehen oder Verhören oder bei einer anderen Sinnestätigkeit den Irrtum wird vermeiden können. 66 Und doch müssen diese[189] Fehler bei jedem von uns sich immer ereignen, wenn wir auch noch so sorgfältige Sinneswerkzeuge gebrauchen dürfen; denn den natürlichen Missgeschicken und dem unfreiwilligen Irrtum ganz und gar zu entgehen ist schwer, ja unmöglich, da unendlich viele Anlässe, die eine falsche Meinung hervorbringen, in uns, um uns und ausser uns in dem ganzen sterblichen Geschlecht vorhanden sind. Nicht mit gesundem Urteil betrachtete also der Geist alles als sein Besitztum, wenn er sich auch in seinem Dünkel dessen brüstete. 67 (21.) Grosses Gelächter scheint auch der an äusseren Formen hängende[40] Laban bei Jakob, der die ihnen vorausgehende ungeformte Wesenheit schaut[41], erregt zu haben, als er es wagte, so zu ihm zu reden: „Die Töchter sind meine Töchter und die Söhne meine Söhne und das Vieh mein Vieh und alles, was du siehst, ist mein und meiner Töchter Eigentum“ (1 Mos. 31,43); bei jedem nämlich setzt er „mein“ hinzu und hört nicht auf von sich zu reden und zu prahlen. 68 Sage mir doch: die Töchter — das sind die Künste und Erkenntnisse der Seele — behauptest du, sind deine Töchter? wie denn? hast du sie nicht zuerst vom Geiste empfangen, der sie dich gelehrt? Dann aber kannst du sie auch verlieren wie andere Dinge, indem du sie entweder wegen anderer grosser Sorgen vergisst oder infolge schwerer und unheilbarer Leiden des Körpers oder wegen der den Alten vorausbestimmten und unvermeidlichen Krankheit des Greisenalters oder wegen tausend anderer Dinge, die man unmöglich aufzählen kann. 69 Wie aber? wenn du von den Söhnen — Söhne sind die Einzelgedanken der Seele — behauptest, dass sie dein sind, bist du bei Sinnen oder im Irrsinn, wenn du solches glaubst? Denn deine Verdriesslichkeiten, Verkehrtheiten, Geistesverwirrungen, unsicheren Vermutungen, falschen Vorstellungen von den Dingen, gedankenleeren und Träumen gleichenden Schlüsse, die zuckende Bewegungen hervorrufen, die der Seele angeborene Krankheit der Vergesslichkeit und viele andere Dinge rauben dir die Festigkeit deiner[190] Herrschaft und zeigen, dass sie eines anderen und nicht dein Besitztum sind. 70 Wie aber? vom Vieh — Vieh bedeutet die Sinne, denn unvernünftig und tierisch ist die Sinnlichkeit — wagst du zu behaupten, dass es dein sei? Sage mir doch: wenn [p. 152 M.] du dich immer versiehst oder verhörst, wenn du die süssen Säfte bisweilen für herb und umgekehrt die bitteren für süss hältst, wenn du mit jedem Sinn mehr fehlzugehen als richtig zu empfinden pflegst, schämst du da dich nicht, sondern prahlst und brüstest dich, als ob du alle Kräfte und Tätigkeiten der Seele ohne zu straucheln gebrauchen könntest? 71 (22.) Wenn du aber deinen Sinn änderst und zu Verstand kommst, wie es sich gehört, dann wirst du eingestehen, dass alles Gottes Besitztum ist, nicht das deinige, die Gedanken, die Erkenntnisse, die Künste, die Grundsätze, die Einzelurteile, die Sinne, die durch sie und ohne sie ausgeübte Tätigkeit der Seele; wenn du hingegen für alle Zeit unerzogen und unbelehrt bleiben willst, dann wirst du ewig schlimmen Herrinnen untertan sein, Einbildungen, Begierden, Lüsten, Ungerechtigkeiten, Unbesonnenheiten, falschen Meinungen. 72 Denn so heisst es (in der h. Schrift): „wenn der Knecht antwortet und sagt: ich liebe meinen Herrn, mein Weib und die Kinder, ich will nicht frei ausgehen“, so wird er, vor Gottes Gericht gebracht und von ihm als Richter abgeurteilt, als sicheren Besitz erhalten, was er gefordert hat, nachdem ihm zuvor mit der Pfrieme das Ohr durchbohrt ist (2 Mos. 21,5. 6), damit es nicht die göttliche Stimme für die Freiheit der Seele vernehme. 73 Denn es zeugt von dem Urteil eines gleichsam aus dem heiligen Festspiel ausgeschlossenen, ausgestossenen, wirklich völlig unreifen Knechtes, zu prahlen, dass er den Geist liebhabe und den Geist für seinen Herrn und Wohltäter halte, dass er die Sinnlichkeit sehr liebe und sie als sein Besitztum und sein grösstes Glück ansehe, und ebenso die Kinder dieser beiden, die des Geistes: das Denken, das Urteilen, das Erwägen, das Bezwecken, die der Sinnlichkeit: das Sehen, das Hören, das Schmecken, das Riechen, das Betasten und allgemein das sinnliche Empfinden. 74 (23.) Wer sich nur mit diesen Dingen befreundet, kann freilich nicht einmal im Traum etwas von Freiheit empfinden; denn nur durch Flucht vor ihnen und durch[191] Entfernung von ihnen erlangen wir Sicherheit. Ein anderer zeigt ausser der Selbstsucht auch noch Wahnsinn und sagt: wenn einer mich beraubt, werde ich wie um mein Eigentum kämpfen und den Sieg davontragen; denn so heisst es: „ich werde verfolgen und einholen, ich werde Beute verteilen, ich werde meine Seele sättigen; töten werde ich mit meinem Schwerte, Besitz ergreifen wird meine Hand“ (2 Mos. 15,9). 75 Ihm könnte ich erwidern: verborgen ist dir, o Tor, dass jedes Geschöpf, das zu verfolgen glaubt, selbst verfolgt wird; denn Krankheiten, Alter, Tod mit der übrigen Menge freiwilliger und unfreiwilliger Missgeschicke bedrängen, beunruhigen und verfolgen einen jeden von uns, und wer einzuholen oder zu besiegen glaubt, wird eingeholt und besiegt, und mancher, der Beute wegzuführen gehofft hat und Teile der Beute schon verteilen [p. 153 M.] wollte, unterlag obsiegenden Feinden, nahm Leere statt Sättigung und Knechtschaft statt Herrschaft in seine Seele auf, wurde statt zu töten selbst getötet, und alles was er (anderen) zu tun gedachte, erlitt er selbst mit aller Heftigkeit. 76 Denn in Wahrheit war dieser[42] ein Feind der bezwingenden Vernunft und der Natur selbst, da er alles, was zum Tun gehört, sich selbst zuschrieb und an nichts mehr dachte, was zum Leiden gehört, wie wenn er der Menge von Missgeschicken jeder Art schon entgangen wäre. 77 (24.) Denn so heisst es: „es sprach der Feind: ich werde verfolgen und einholen“. Welchen schlimmeren Feind der Seele könnte es nun geben als den, der in Grossprahlerei das, was Gott gehört, sich selbst zueignet? Gott allein kommt aber das Tun zu, das ein Geschöpf sich nicht zuschreiben darf, und dem Geschöpf nur das Leiden. 78 Wenn einer erkannt hat, dass dies ihm eigen und notwendig ist, dann wird er leicht die Missgeschicke tragen, mögen sie noch so schwer sein; meint er aber, dass es ihm fremd sei, so wird er von ewiger Last bedrückt die Strafe eines Sisyphos[43] erleiden, aus der er sich garnicht emporraffen kann, sondern allen heranstürmenden und quälenden Leiden[192] ausgesetzt muss er gehorsam und willig alles über sich ergehen lassen, Leiden einer unedlen und unmännlichen Seele; denn er sollte sie vielmehr ertragen, ihnen entgegentreten und sich ihnen entgegenstemmen, indem er seinen Geist kräftigt und festigt durch seine Standhaftigkeit und Ausdauer, diese mächtigen Tugenden. 79 Denn wie das Geschorenwerden doppelter Art sein kann, erstens so, dass man mit Gegendruck erwidert, zweitens so, dass man sich demütig unterwirft — dem Schaf wird, während es von sich aus nichts tut, sondern sich nur leidend verhält, das Fell oder das sogenannte Vliess geschoren; der Mensch aber wirkt (gewissermassen) mit, nimmt eine bestimmte Haltung ein, macht bereit und verknüpft so mit dem Leiden das Tun —, 80 ebenso auch das Geschlagenwerden: die eine Art trifft einen Sklaven, der Prügel verdient hat, oder einen Freien, der wegen eines Verbrechens auf die Folter gespannt wird, oder auch etwas Lebloses, wie Steine, Hölzer, Gold und Silber geschlagen werden und alle Stoffe, die in einem Schmiedewerk getrieben oder zerteilt werden; die andere trifft einen Fechter, der im Faustkampf oder Allkampf um Sieg und Bekränzung kämpft. 81 Dieser wehrt die gegen ihn geführten Schläge mit beiden Händen ab und wendet den Nacken hierhin und dorthin, um zu verhüten, dass er getroffen wird; oft auch tritt er mit den Fusszehenspitzen auf und erhebt sich zu voller Höhe, oder er krümmt sich umgekehrt zusammen und zwingt so den Gegner, die Hände ins Leere zu führen, sodass er etwas dem Schattenkampf Aehnliches vollführt. Der Sklave dagegen und das Erz tun nichts zur Abwehr und unterwerfen sieh, um alles zu erdulden, was der andere in solcher Lage an ihnen zu tun beabsichtigt. 82 Solche Behandlung wollen wir niemals dem Körper und noch viel weniger der Seele zuteil werden lassen, sondern die andere Art des Leidens — da der Sterbliche doch nun einmal leiden muss —, die mit Abwehr wählen, damit wir nicht wie Männer von weibischer Art zerbrochen und entkräftet hinsinken und mit [p. 154 M.] dem Verlust unserer Seelenkräfte ohnmächtig werden, sondern durch die Spannkraft des Geistes gestärkt die Wucht der uns drohenden Leiden zu mildern und zu erleichtern vermögen.[193] 83 Da somit erwiesen ist, dass kein Sterblicher fest und sicher Herr über etwas ist, und dass die sogenannten Herren es nur in der Einbildung, nicht in Wahrheit sind, da es aber, wie es Untergebene und Sklaven gibt, ebenso einen Führer und Herrn in dem Weltganzen geben muss, so ist der wirkliche Herrscher und Führer einzig und allein Gott, und ihm ziemt es zu sagen, dass alles sein Besitztum ist. 84 (25.) Um zu zeigen, wie herrlich und der göttlichen Würde angemessen die heilige Schrift sich darüber äussert, wollen wir das Wort „alles ist mein“ betrachten. Unter „alles“ versteht Gott „Geschenke und Gaben und Früchte, auf die ihr achthaben und die ihr mir darbringen sollt an meinen Festen“ (4 Mos. 28,2)[44]. Ganz deutlich erklärt er damit, dass ein Teil der Dinge nur mässigen Dankes gewürdigt wird, was „Gabe“ genannt wird, ein anderer grösseren Dankes, was zutreffend „Geschenk“ genannt wird, einige aber derart sind, dass sie nicht nur Tugenden als Früchte hervorbringen, sondern auch ganz und gar schon essbare Frucht[45] sind, mit der allein die Seele des gern Schauenden[46] sich nährt. 85 Wer nun diese Lehre empfangen hat und sie zu beachten und im Herzen zu bewahren vermag, der wird Gott ein fehlerloses und herrliches Opfer bringen, das Gottvertrauen, und zwar an Festen, die nicht den Sterblichen gehören; denn sich selbst hat Gott die Feste zugeeignet und damit den Anhängern der Weisheit eine sehr wichtige Lehre gegeben. 86 Diese Lehre lautet: Gott allein feiert in Wahrheit Feste[47], denn er allein darf sich freuen, er allein darf froh und heiter sein, er allein hat Frieden ohne jeden Kampf; er ist ohne Trauer und ohne Furcht und vollkommen frei von Uebeln, keinem nachgebend, ohne Schmerzen, ohne Müdigkeit,[194] voll reiner Glückseligkeit; sein Wesen ist ganz vollkommen, mehr noch, Gott ist selbst der Gipfel, der Endpunkt und die Grenze der Glückseligkeit, er braucht keinen andern zu ihrer Steigerung, gewährt vielmehr allen Einzelgeschöpfen Anteil an der Quelle des Schönen, an sich selbst; denn alles Schöne in der Welt wäre niemals so geworden, wenn es nicht dem wahrhaft schönen Urbilde, dem ungeschaffenen, seligen, unvergänglichen nachgebildet wäre. 87 (26.) Und deshalb nennt auch Moses an vielen Stellen seines Gesetzbuchs den „Sabbat“ — das Wort bedeutet „Ausruhen“ — „Gottes“[48], nicht der Menschen, womit er eine wichtige Lehre der Naturwissenschaft berührt; denn unter allen Wesen ist, wenn man die Wahrheit sagen soll, das [p. 155 M.] einzig ausruhende Gott. Unter „Ausruhen“ versteht er aber nicht Untätigkeit, da doch der Urgrund aller Dinge seinem Wesen nach immer tätig ist und niemals aufhört das Beste zu wirken[49], sondern die mühelose Tätigkeit ohne Beschwerde und in vollster Leichtigkeit. 88 Von der Sonne nämlich und dem Mond und dem ganzen Himmel und Weltenraum, die ja nicht ihre eigenen Herren sind, sondern fortwährend bewegt und getragen werden, dürfen wir sagen, dass sie geplagt werden. Ein sehr deutlicher Beweis dieser Mühewaltung sind die Jahreszeiten; denn die bedeutsamsten Himmelskörper ändern ihre Bewegungen, indem sie bald nach Norden, bald nach Süden, bald anderswohin ihre Umläufe vollführen, und die Luft, die bald erwärmt, bald abgekühlt und allen Wandlungen ausgesetzt ist, beweist durch ihre (wechselnden) Zustände, dass sie sich müde arbeitet, da die Hauptursache des Wechsels die Ermüdung ist. 89 Töricht wäre es über die Landtiere und die Tiere im Wasser viele Worte zu machen und ihre Wandlungen im allgemeinen und im einzelnen des längeren auseinanderzusetzen; denn diese sind natürlich noch viel mehr als die in der Luft lebenden der Schwäche unterworfen; haben sie doch am meisten Anteil an der geringsten, irdischen Substanz. 90 Da also die der Wandlung unterworfenen Dinge infolge von Ermüdung sich verändern, Gott aber unwandelbar und unveränderlich ist,[195] so ist er auch seinem Wesen nach nie müde; was aber von Schwäche frei ist, wird, trotzdem es alles schafft, in Ewigkeit niemals aufhören zu ruhen; folglich kommt Gott allein das Ausruhen zu. (27.) Es war aber auch gezeigt, dass das Feiern Gott zufällt; also gehören Sabbate und Feste dem Schöpfer und durchaus keinem Menschen. 91 Wohlan, betrachte mit mir, wenn du willst, unsere berühmten Festversammlungen. Alle die zwar, die bei Barbaren- und Hellenenvölkern aus Mythendichtungen hier und dort entstanden sind und nur in eitler Prahlerei ihr Ziel finden, mögen beiseite gelassen werden; denn das ganze Menschenleben würde nicht ausreichen, die in einer jeden vorhandenen Ungereimtheiten zu schildern. Was man aber, statt viele Worte zu machen, in Kürze von allen, wenn man das rechte Ziel im Auge hat, anführen kann, das soll gesagt werden. 92 Bei jeder Feier und Festversammlung, wie sie bei uns üblich sind[50], gelten als bewunderungswürdig und kostbar die folgenden Dinge: völlige Freiheit, Ungebundenheit, Sicherheit, Trunkenheit, Ausgelassenheit, Gelage, Ueppigkeit, Schweigen, Herumstreifen, nächtliche Ausschweifungen, unziemliche Vergnügungen, Hochzeitsfeiern bei Tage, gewalttätige Misshandlungen, Unzucht, Unvernunft, Verübung schändlicher Dinge, vollständige Vernichtung des Guten, Nachtwachen zur Befriedigung [p. 156 M.] unersättlicher Begierden, Schlaf am Tage, wenn die Zeit des Wachens ist, (kurz) Vertauschung natürlicher Dinge. 93 Da wird Tugend wie etwas Schädliches verlacht, das Laster wie etwas Nützliches begierig erfasst, da gelten gebotene Dinge als verächtlich, verbotene als ehrenhaft, da müssen Musik und Philosophie und jedes Bildungsmittel, die wahrhaft göttlichen Zierden der gottentstammten Seele, verstummen, während diejenigen Künste, die in kupplerischer Weise dem Bauche und dem Unterleib die Lüste vermitteln, das grosse Wort führen. 94 (28.) So sind die Feste der vermeintlich Glücklichen. Solange sie nun zwar in den Häusern oder an ungeweihten Orten ihre Schändlichkeiten verüben, scheinen sie mir weniger zu sündigen;[196] wenn aber ihr Treiben wie ein reissender Giessbach überallhin sich ausbreitet und in das Allerheiligste der Tempel mit Gewalt eindringt, dann wirft es alles Heilige darin gleich um, so dass sie ungeweihte Opfer und unerlaubte Opfertiere darbringen, unnütze Gebete verrichten, Weihen ohne Weihe vornehmen, unechte Frömmigkeit üben, Heiligkeit verfälschen, Reinheit unrein machen, Wahrheit zur Lüge, Gottesdienst zur Posse. 95 Und dazu noch säubern sie zwar ihren Körper durch Bäder und Reinigungsmittel, die Leidenschaften der Seele aber wegzuschaffen, durch die ihr Leben beschmutzt wird, haben sie weder den Willen noch das Bestreben. Und weissgekleidet, mit fleckenlosen Gewändern angetan eilen sie in die Tempel zu kommen, aber auch ihre sündenbefleckte Seele scheuen sie sich nicht in das Allerheiligste hineinzubringen. 96 Wenn eins von den Opfertieren nicht vollkommen fehlerlos befunden wird, treibt man es aus dem Tempelvorhof hinaus und lässt es nicht an die Altäre heranbringen, wiewohl es die durchweg körperlichen Schäden unabsichtlich aufweist; wenn sie aber an ihrer Seele geschädigt sind infolge schwerer Krankheiten, die die unbezwingliche Gewalt des Lasters über sie gebracht hat, mehr noch, wenn sie ganz verstümmelt und der besten Dinge verlustig gegangen sind, der Einsicht, Standhaftigkeit, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und aller anderen Tugenden, die das Menschengeschlecht zu erlangen fähig ist, und wenn sie mit freiem Willen diese Schädigungen angenommen haben, wagen sie trotzdem heilige Handlungen zu verrichten in der Meinung, dass das Auge Gottes nur die äusseren Dinge mit Hilfe der Sonne wahrnimmt, nicht aber vor den sichtbaren Dingen die unsichtbaren durchschaut, da es selbst sein Licht ist. 97 Denn das Auge des Seienden bedarf nicht eines andern Lichts zum Erfassen (der Dinge), es ist selbst das urbildliche Licht[51] und sendet unzählige Strahlen aus, von denen aber keiner mit den Sinnen wahrnehmbar ist, sondern alle rein geistig sind; darum kann sie allein der rein geistige Gott anwenden, von den geschaffenen Wesen keines;[197] denn ein sinnliches Wesen ist das geschaffene, für die Sinnlichkeit [p. 157 M.] aber ist die rein geistige Natur unfasslich. 98 (29.) Da also (Gottes Auge) unsichtbar in den Ort unserer Seele eindringt, so wollen wir diesen Ort möglichst gut ausrüsten, da mit er eine würdige Wohnstätte Gottes werde; sonst wird er unvermerkt in ein anderes Haus übersiedeln, das ihm besser hergerichtet zu sein scheint. 99 Wenn wir im Begriff Könige aufzunehmen unsere Wohnungen glänzender herrichten und nichts an Ausschmückung ausser acht lassen, sondern alles voll und reichlich verwenden und darauf bedacht sind, dass der Aufenthalt möglichst angenehm und in angemessen würdiger Weise sich für sie gestalte, wie müssen wir erst das Haus einrichten für Gott, den König der Könige und den Allherrscher, der aus Gnade und Liebe zu den Menschen dem Geschaffenen Beachtung schenkt und von den Enden des Himmels zu den Grenzen der Erde herabkommt, um unserem Geschlecht Wohltaten zu erweisen? 100 Etwa aus Steinen oder einer Holzmasse? fern sei dieser Gedanke, den nur auszusprechen schon Sünde ist. Denn selbst wenn die ganze Erde sich verwandelte und plötzlich zu Gold oder noch Kostbarerem als Gold würde und in der Kunst geschickter Meister zur Verwendung käme, die Säulenhallen, Torgebäude, Säle, Tempelvorhöfe und Tempel bauen, könnte sie kein Schemel für seine Füsse sein; als würdige Behausung ist nur die Seele geeignet. 101 (30.) Wenn wir also die unsichtbare Seele die irdische Behausung des unsichtbaren Gottes nennen, werden wir uns recht und nach Gebühr ausdrücken. Damit aber das Haus fest und prächtig sei, sollten als Grundsteine gute Anlage und Unterricht gelegt und Tugenden mit edlen Handlungen darüber gebaut werden, und als Zierrat diene die Aneignung der allgemeinen Vorbereitungswissenschaften. 102 Denn aus einer guten Anlage erwachsen Gewandtheit, Beharrlichkeit, Gedächtnis, aus dem Unterricht leichtes Auffassen und Aufmerksamkeit, wie Wurzeln aus einem Baume, der edle Früchte hervorbringen wird, Eigenschaften, ohne die der Geist unmöglich seine Vollendung erlangen kann. 103 Aus den Tugenden und den ihnen entsprechenden Handlungen wird die Stärke und Festigkeit des sicheren Baues gewonnen; denn wer etwa die Seele von dem[198] Guten entfernen und vertreiben und abwendig machen wollte, ist gegen solche Stärke und Festigkeit machtlos. 104 Auf der regelrechten Beschäftigung mit den Vorbereitungswissenschaften als Hauptsache beruhen die Dinge, die zum Schmucke der Seele gehören; denn so wie Wandbekleidungen, grosse und kleine Gemälde und kostbare Steinmosaiken, mit denen man nicht nur Wände, sondern auch die Fussböden ausschmückt, [p. 158 M.] und alle anderen derartigen Dinge nicht zur Festigkeit beitragen, sondern nur den Bewohnern Freude machen, 105 ebenso schmückt die Kenntnis der allgemeinen Wissenschaften das ganze Haus der Seele: die Sprachwissenschaft, die die (Werke der) Dichtkunst erforscht und die Geschichte früherer Begebenheiten verfolgt, die Geometrie, die die Gleichmässigkeit in den Grössenverhältnissen lehrt, während die edle Musik das Unrhythmische, Unharmonische, Unmelodische in uns durch Rhythmus, Harmonie und Melodie beseitigt und die Redekunst den Wert eines jeden Begriffes prüft und allen den angemessenen Ausdruck verleiht, die starken Betonungen und Gefühlsäusserungen und umgekehrt das Herabstimmen und die Milderung des Tones nebst dem Plauderton und der rechten Behandlung der Zunge und der Sprachwerkzeuge lehrt[52]. 106 (31.) Wenn ein solches Haus bei dem Menschengeschlecht eingerichtet ist, wird alles Irdische mit schönen Hoffnungen erfüllt werden in Erwartung der Herabkunft der Kräfte Gottes; diese werden Gesetze und Verordnungen vom Himmel bringen und auf Geheiss ihres Vaters herabkommen, um (die Menschen) zu reinigen und zu heiligen; dann teilen sie Wohnung und Tisch mit den tugendliebenden Seelen und pflanzen in ihnen das glückselige Geschlecht, wie sie auch Abraham, dem Weisen, zum Dank für die Einkehr bei ihm den Isaak, die vollkommene <Freude>[53], geschenkt haben. 107 Ueber nichts freut sich aber die gereinigte Seele mehr als darüber, bekennen zu dürfen, dass sie zum Herrn den Beherrscher aller Dinge habe;[199] denn Gott zu dienen ist der höchste Stolz und nicht nur mehr wert als Freiheit, sondern auch als Reichtum und Macht und alles, was das Menschengeschlecht gern hat. 108 Für die Herrschaft des Seienden ist ein wahrhafter Zeuge der göttliche Ausspruch, der also lautet; „und das Land soll nicht zu sicherem Besitz verkauft werden, denn mein ist das ganze Land, denn ihr seid nur Fremdlinge und Beisassen vor mir“ (3 Mos. 25,23). Erklärt die h. Schrift damit nicht ganz deutlich, dass alles Besitz Gottes ist und den Geschöpfen nur der Niessbrauch zusteht? 109 Denn, so heisst es, als fester Besitz soll nichts in der geschaffenen Welt einem verkauft werden, weil es nur einen [p. 159 M.] gibt, dem eigentlich der Besitz aller Dinge sicher ist. Gott hat nämlich alles, was er geschaffen, allen nur als Lehen gegeben; er hat keins von den Einzeldingen so vollkommen gemacht, dass es nicht durchaus eines andern nötig hätte, damit es in seinem Verlangen das zu erreichen, was es braucht, dem, das es gewähren kann, sich nähern muss, und dieses wieder jenem und beide einander. 110 So im Austausch und im Verkehr mit einander sollten sie nach Art der aus verschieden tönenden Seiten zusammengefügten Leier zu inniger Gemeinschaft gelangen und zusammenstimmen, indem durch gegenseitiges Geben und Nehmen alles beiträgt zur Vollendung der ganzen Weltordnung. 111 So bedürfen auch unbeseelte Dinge der beseelten Wesen, vernunftlose der vernünftigen, Bäume der Menschen und Menschen der Pflanzen, wilde Tiere der zahmen und zahme der wilden, das männliche des weiblichen und weibliche des männlichen, kurz gesagt die Landtiere der Wassertiere, die Wassertiere der Lufttiere und die Vögel der vorgenannten; ferner bedarf der Himmel der Erde und die Erde des Himmels, die Luft des Wassers und das Wasser des Lufthauches; und hinwiederum haben die mittleren Naturen Verlangen nach einander und nach den hochstehenden und die hochstehenden nach den mittleren und den gleichstehenden; 112 der Winter endlich braucht nötig den Sommer und der Sommer den Winter, der Frühling beide und der Herbst den Frühling, und jedes braucht jedes und so zu sagen alles braucht alles, damit das Ganze, dessen Teile sie sind,[200] diese Welt, ein vollkommenes Werk wird, würdig seines Schöpfers[54].

113 (32.) So hat Gott die Dinge geordnet und die Macht über alle in seiner Hand behalten, ihren eigenen und gegenseitigen Gebrauch und Genuss aber den Untergebenen zugeteilt; denn wir haben uns selbst und was um uns ist nur als Lehen. Ich, der ich aus Seele und Körper zusammengesetzt bin und Verstand, Sprache und Sinnlichkeit zu haben glaube, finde doch, dass nichts davon mein Eigentum ist[55]. 114 Denn wo war mein Körper vor meiner Geburt? Wohin wird er nach meinem Tode gehen? Wo (bleiben) die Altersunterschiede dessen, der zu bestehen scheint? wo (bleibt) der Säugling, wo das Kind, wo der Knabe, wo der heranwachsende Knabe, wo der Jüngling, der bärtige Jüngling, der junge Mann, der gereifte Mann? Woher kam die Seele, wohin wird sie gehen, wie lange Zeit wird sie mit uns zusammenleben? Können wir sagen, was sie ihrer Substanz nach ist? Wann haben wir sie erworben? vor der Geburt? aber da existierten wir noch nicht; < besteht sie > nach dem Tode? aber da werden wir nicht mehr sein, die wir so mit dem Körper vereinigt sind, sondern werden zur Wiedergeburt gelangen, wo wir mit Unkörperlichen vereinigt sind[56]. 115 Aber jetzt, da[201] wir leben, werden wir mehr (von der Seele) beherrscht, als [p. 160 M.] dass wir herrschen, und werden mehr von ihr erkannt, als dass wir sie erkennen, denn sie kennt uns, ohne von uns erkannt zu werden, und erteilt uns Befehle, denen wir gehorchen müssen wie Sklaven ihrer Herrin. Und wenn sie uns verlassen, und zum Herrscher (der Welt) zurückkehren will, wird sie sich entfernen und unser Haus ohne Leben zurücklassen, und wenn wir sie zu bleiben zwingen wollen, wird sie sich auflösen; denn aus feinen Teilchen zusammengesetzt ist die Seele[57], sodass sie dem Körper keine Handhabe bietet (sie festzuhalten). 116 (33.) Ist der Verstand etwa mein eigener Besitz?[58] der Falsches zu vermuten pflegt, der irre geht, der dünkelhaft ist, der verkehrt denkt, der töricht handelt, der unvernünftig befunden wird, in der Verzückung, bei einer Verstimmung, im hohen Alter? Ist die Sprache mein Besitz? oder die Stimmwerkzeuge? Lähmt nicht ein kleiner Krankheitsfall die Zunge, verschliesst er nicht selbst den Redegewandten den Mund? Lässt nicht die Erwartung eines Unglücks plötzlich Tausende verstummen? 117 Aber auch als Herr der Sinnlichkeit kann ich nicht gelten, sondern eher wohl als ihr Knecht, der ihr folgt, wohin immer sie ihn führt, zu den Farben, zu den Formen, zu den Gerüchen, zu den Nahrungssäften und zu den andern körperlichen Dingen. Durch alles dies ist, glaube ich, klar geworden, dass wir von fremden Besitztümern Gebrauch machen und weder Ruhm noch Reichtum noch Ehren noch Aemter oder was sonst mit Körper oder Seele zusammenhängt als unser Eigentum besitzen, ja nicht einmal das Leben selbst. 118 Wenn wir also erkannt haben, dass wir (alle diese Dinge) nur als Lehen haben, werden wir ihnen als Besitz Gottes unsere Sorge angedeihen lassen, weil wir wissen, dass dem Herrn das Recht zusteht,[202] wann er will, sein Eigentum zurückzunehmen[59]; denn nur so werden wir uns den Kummer über den Verlust erleichtern. Nun aber halten die meisten alles für ihren eigenen Besitz und leiden deshalb schwer darunter, wenn ihnen etwas fehlt oder verloren geht. 119 Es ist also nicht nur wahr, sondern gehört auch zu den Dingen, die zu unserem Troste beitragen können, dass die Welt und alles was darin ist Werke des Schöpfers sind und seine Besitzungen. Sein Werk verschenkt der Besitzer, weil er nichts braucht; wer es aber geniesst, besitzt es nicht, weil nur einer Herr und Gebieter über alles ist, der mit vollem Recht sagen wird: „mein ist die ganze Erde“ — was soviel bedeutet wie: die ganze Schöpfung ist mein —, „ihr aber seid Fremdlinge und Beisassen vor mir (3 Mos. 25,23). 120 (34.) Zu einander nämlich befinden sich alle Geschöpfe in dem Verhältnis von Urbewohnern und Adligen“ die alle gleiche Rechte geniessen und gleiche Lasten tragen zu Gott dagegen in dem Verhältnis von Fremdlingen und Beisassen; denn jeder von uns ist gleichsam wie in eine fremde [p. 161 M.] Stadt in diese Welt gekommen, an der er vor der Geburt keinen Anteil hatte, und nach seiner Ankunft wohnt er darin nur als Beisasse, bis er die ihm zugemessene Lebenszeit beendet hat. 121 Zugleich jedoch enthält das Wort auch eine sehr weise Lehre, dass eigentlich Gott allein ein Bürger ist, jedes Geschöpf nur Beisasse und Fremdling, und dass die sogenannten „Bürger“ mehr missbräuchlich als wahrheitsgemäss so bezeichnet werden. Es ist aber schon ein hinreichendes Geschenk für weise Männer, bei einem Vergleich mit Gott, dem einzigen Bürger, den Rang von Fremdlingen und Beisassen zu erhalten, da doch von den Unverständigen keiner auch nur als Fremdling oder Beisasse in Gottes Staate gilt, jeder vielmehr durchaus als Verbannter behandelt wird, wie es denn auch die Schrift als wichtige Lehre ausgesprochen hat. „Das Land soll nicht gänzlich verkauft werden“, heisst es (ebenda)[60].[203] Von wem, sagt die Schrift nicht, damit aus dem Schweigen der in tiefere Deutungsweise Eingeweihte für seine Erkenntnis Nutzen ziehen kann. 122 Bei genauerer Erwägung wirst du nämlich finden, dass alle, von denen man sagt, dass sie gern spenden, mehr verkaufen als schenken, und dass die, von denen wir meinen, dass sie Spenden empfangen, in Wahrheit kaufen. Denn die Geber, die als Entgelt Lob oder Ehre gewinnen wollen, also für ihre Spende eine Gegengabe verlangen, betreiben unter dem schön klingenden Namen „Geschenk“ eigentlich einen Verkauf, da doch die Verkäufer für das, was sie bieten, etwas zu empfangen pflegen; und die Empfänger von Geschenken, die sie zurückzuerstatten bemüht sind und bei Gelegenheit wirklich zurückerstatten, handeln wie Käufer, die ja wissen, dass sie ebenso zu zahlen haben, wie sie empfangen. 123 Gott aber ist kein Verkäufer, der seinen Besitz feilbietet, sondern verschenkt alles, er lässt seine nie versiegenden Gnadenquellen fliessen und verlangt keinen Entgelt; denn er selbst ist bedürfnislos, und von den Geschöpfen ist keins imstande sein Gnadengeschenk zu erwidern.

124 (35.) Da nun durch wahrhafte Reden und Zeugnisse, die wir nicht falschen Zeugnisses beschuldigen dürfen, — denn Gottesworte, die Moses in den heiligen Büchern aufgezeichnet hat, sind die Zeugen — alles als Gottes Besitz anerkannt ist, müssen wir den Geist abweisen, der das im Umgang mit der Sinnlichkeit Erzeugte als eigenen Besitz ansah und Kain nannte und sprach: „ich habe einen Menschen erworben durch Gott“ (1 Mos. 4,1). 125 Auch darin irrte er. Inwiefern denn? weil Gott Urheber ist, nicht Werkzeug, und das, was entsteht, durch Vermittlung eines Werkzeuges zwar, aber durchaus von dem Urheber geschaffen wird. Denn damit etwas entsteht, [p. 162 M.] muss mehreres zusammenkommen, das von wem, das aus wem, das durch wen, das weswegen. Das von wem ist der Urheber, das aus wem ist der Stoff (die Materie), das durch wen ist das Werkzeug, das weswegen ist die Ursache. 126 Z. B., es fragt jemand: damit ein Haus und eine ganze Stadt gebaut werden kann, welche Dinge müssen da zusammenkommen? ein Baumeister, Steine, Holz und Werkzeuge, nicht? Was ist nun ein Baumeister anderes als der Urheber, von dem (der Bau geschaffen[204] wird)? was sind Steine und Holz anderes als der Stoff, aus dem der Bau entsteht? Was sind die Werkzeuge anderes als die Dinge, durch die (etwas entsteht)? weswegen aber (wird der Bau ausgeführt), wenn nicht zum Schutze und zur Sicherheit, was eben der Grund ist? 127 Gehe nun von diesen Einzelbauten aus und betrachte die grösste Wohnung oder Stadt, diese Welt: erkennen wirst du als ihren Urheber Gott, von dem sie geschaffen ist, als Stoff die vier Elemente, aus denen sie zusammengesetzt wurde[61], als Werkzeug die Vernunft Gottes, durch die sie eingerichtet wurde, und als Grund der Schöpfung die Güte des Schöpfers[62]. Das ist das Urteil der Wahrheitsfreunde, die nach wahrer und gesunder Erkenntnis streben[63].[205] Die aber, die durch Gott etwas erworben zu haben behaupten, halten den Urheber, den Meister, für das Werkzeug, das Werkzeug dagegen, den menschlichen Geist, für den Urheber. 128 Die rechte Vernunft möchte auch Joseph tadeln, weil er sagt, durch Gott werde die Deutung der Träume gefunden werden[64]; er hätte nämlich sagen müssen, von ihm als dem Urheber werde die Enthüllung und Klarlegung der verborgenen Dinge sicher kommen. Denn wir sind nur bald angespannte bald locker gelassene Werkzeuge, durch die im einzelnen die Tätigkeiten ausgeübt werden, der Meister aber ist er, der den Anstoss gibt zur Betätigung der Kräfte des Körpers und der Seele, von dem alles in Bewegung gesetzt wird. 129 Solche nun, die die Unterschiede der Dinge nicht auseinanderzuhalten vermögen, muss man wie Unwissende belehren, die aber, die aus Streitsucht die Ausdrücke miteinander vertauschen, muss man wie zum Zank Geneigte meiden, und diejenigen, die unter sorgsamer Erforschung der vorkommenden Dinge einem jeden der gefundenen Ergebnisse den angemessenen Platz anweisen, muss man als untrüglicher Philosophie Beflissene rühmen. 130 So sagt Moses denen, die fürchteten, sie könnten von dem bösen Feinde, der sie mit ganzer Heeresmacht verfolgte, vernichtet werden: „Stehet still und sehet die Rettung von dem Herrn, die er euch bringen wird“ (2 Mos. 14,13), womit er sie belehrt, dass nicht durch Gott, sondern von ihm als Urheber die Rettung kommt.


  1. Hagar ist bei Philo Symbol der zur Philosophie vorbereitenden Wissenschaften (ἡ ἐγκύκλιος παιδεία): vgl. Allegor. Erklär. III § 244 und Anm.
  2. Sarai ist bei Philo ἀρχή μου, die Einzeltugend, Sarah die ἄρχουσα ἀρετή allgemeine Tugend: s. §5, de mut. nom. § 77.
  3. Vgl. Ueber Abraham § 82 (Bd I. S. 114) und Allegor. Erklär. III § 244 nebst Anm.
  4. Für ἐπειλημμένος τοῦ σπουδαίου ist nach dem Zitat bei Clem. Alex. Strom. V. 1,8 p. 648 P. ἐξειλεγμένος δὲ ὁ τοῦ σπουδαίου zu lesen.
  5. Isaak, nach der hebr. Etymologie „das Lachen“, ist Symbol der reinen Freude und der Freiheit von Leidenschaften, also der Glückseligkeit.
  6. Anspielung auf 1. Mos. 18,11; vgl. die Anm, S. 155,2.
  7. Dies ist wohl der Sinn der anscheinend verderbten Worte καὶ ἀποθανόντων τὰ πάθη χαρᾶς καὶ εὐφροσύνης. Für ἀποθανόντων ist vielleicht ἀπομαθόντων zu lesen; vgl. quis. rer. div. her. § 192.
  8. Ismael ist bei Philo der Typus des Sophisten (de poster. Caini § 131).
  9. ὀρθὸς λόγος, Welt- und Sittengesetz nach der Lehre der Stoiker.
  10. Die Septuaginta (1 Mos. 3,24) übersetzt מִקֶּדֶם‎ durch ἀπέναντι (gegenüber, im Angesichte).
  11. Vgl. Alleg. Erklär. I § 45.
  12. Stoischer Gedanke: vgl. Arnim, Stoic. vet. fragm. III 511 ff.
  13. So übersetzt die LXX צדק צדק תרדף‎; vgl. Ueber die Einzelges. IV § 66 und Anm.
  14. Zum Ausdruck ἱερεὺς λόγος vgl. Allegor. Erklär. III § 82 und Anm.
  15. Die Lehre von der Einteilung des Himmels in 8 Sphären oder Kreise, die 7 der Planeten (ἑβδομάς) und die der Fixsterne (ὀγδοάς), findet sich in verschiedenen philosophischen Systemen, insbesondere bei den Stoikern. Vgl. Ueber den Dekalog § 103 und Anm.; Cic. de nat. deor. II 49 ff. (Posidonius). An unserer Stelle lehnt sich Philo an die Auseinandersetzung Platos (Tim. 36 c. d) an.
  16. Dieselbe Deutung gibt Philo als überliefert im Leben Mosis II § 98.
  17. Die Göttin Hestia (Vesta) wurde mit der Erdgöttin identifiziert (Eurip. frg. 944, angeblich nach Anaxagoras) und dies etymologisch begründet (διὰ τὸ ἑστάναι), weil die Erde als der ruhende Mittelpunkt des Weltgebäudes galt (Corunt. Theol c. 28).
  18. Diese Deutung wird von Philo auch in den Quaest. in Gen. I § 57 erwähnt.
  19. Dieselbe Deutung gibt Philo als die seinige auch im Leben Mosis II § 99 und in den Quaest. in Genes. I § 57.
  20. Wie hier und § 30 der Logos heiss und feurig genannt wird, so de fuga et invent. § 133 der Nus. Nach stoischer Lehre hat der Nus (Logos) feurige Beschaffenheit.
  21. בּׅלְעָם‎ = בַּל עַם
  22. Vgl, 4 Mos. 22,30.
  23. Ebenda V. 31.
  24. s. ob. § 3 und Anm.
  25. s. Allegor. Erklär. III § 88.
  26. לֵאָה‎ von לָאָה‎ ermüden, sich abmühen.
  27. צפר‎ Vogel.
  28. Für ἐθῶν ist vielleicht ἐννοιῶν zu lesen (Vermutung von Wyttenbach).
  29. Philo macht, wie die griechischen Philosophen seit Plato, von den Formen des Mysterienkults Gebrauch, um seinen allegorischen Deutungen von Bibelstellen mehr Nachdruck und religiöses Gepräge zu verleihen. So nennt er sich selbst als Verkünder geheimnisvoller Lehren einen Hierophanten und seine Lehren Mysterien. Wie die Mysterien den Uneingeweihten, sollen deshalb diese Lehren den moralisch Unwürdigen verschlossen bleiben.
  30. 1 Mos. 21,1 ויהוה פקד את־שרה‎ übersetzt die LXX καὶ κύριος ἐπεσκέψατο τὴν Σάρραν.
  31. Vgl. All. Erkl. III § 180 f.
  32. Bei den eleusinischen Mysterien wurden die kleinen, die im Februar, und die grossen, die im September gefeiert wurden, unterschieden. Die kleinen Mysterien waren, wie es scheint, eine Vorbereitung zu den grossen. Philo spricht hier im übertragenen Sinne von den grossen Mysterien (der Gotteserkenntnis), in die er durch die fünf Bücher Mosis eingeweiht sei.
  33. Die Uebersetzung der LXX weicht hier von dem hebräischen Urtext, stark ab. אלוף wird mit ἀρχηγόν übersetzt Für ἀρχηγόν hat Philo ἄνδρα, was absichtliche Aenderung zu sein scheint (mit Rücksicht auf V. 1 ישלח איש את־אשתו‎).
  34. Gott, der Urquell alles Seins, ist auch der Urquell der (platonisehen) Ideen; die Leiden sind nur Gedanken des Schöpfers.
  35. Etymologische Erklärung nach 1 Mos. 4,1 קניתי‎ (ἐκτησάμην).
  36. Philo schliesst hier Eva mit ein.
  37. Eva bedeutet etymologisch ζωή (Leben) mit Beziehung auf 1 Mos. 3,20 καὶ ἐκάλεσεν ᾿Αδὰμ τὸ ὄνομα τῆς γυναικὸς Ζωή, ὅτι αὕτη μήτηρ πάντων τῶν ζώντων.
  38. Vgl. Allegor. Erklär. II § 24.
  39. Diese Schilderung erinnert sehr an die Lehre Heraklits von der αἴσθησις und dem λόγος und vom menschlichen Nus im wachen und schlafenden Zustande bei Sext. Em. Adv. math. VII 126ff. (Diels Fragm. d. Vorsokr. I 69ff.), besonders die Worte (130) ἐν δὲ ἐγρηγόρσει πάλιν διὰ τῶν αἰσθητικῶν πόρων ὥσπερ διά τινων θυρίδων προκύψας καὶ τᾷ περιέχοντι συμβαλὼν λογικὴν ἐνδύεται δύναμιν.
  40. Laban (von לבן‎ weiss) ist bei Philo Symbol der Farben und des rein Aeusserlichen überhaupt, daher Typus des Unvernünftigen (de agric. § 42).
  41. Jakob, der Gott schauende (ὁρῶν θεόν) Tugendfreund bei Philo, schaut auch die reine Idee.
  42. Gemeint ist Pharao.
  43. Die Strafe des Sisyphos, der nach der griechischen Sage in der Unterwelt einen Felsblock hinaufzuwälzen hatte, der immer wieder hinabrollte, war sprichwörtlich.
  44. Philo zitiert hier ungenau; die LXX übersetzt τὰ δῶρά μου, δόματά μου, καρπώματά μου εἰς ὀσμὴν εὐωδίας διατηρήσετε προσφέρειν ἐμοὶ ἐν ταῖς ἑορταῖς μου. Philo lässt das dreimalige μου und εἰς ὀσμὴν εὐωδίας aus und ändert διατηρήσατε προσφέρειν in ἃ διατηροῦντες προσοίσετε.
  45. Philo fasst καρπώματα in seiner eigentlichen Bedeutung (Früchte), während es an der zitierten Bibelstelle „Opfer“ bedeutet. Vgl. auch Alleg. Erklär. III § 196.
  46. Gemeint ist der die reinen Ideen zu schauen Verlangende, d. h. der nach höchster Weisheit Strebende.
  47. Derselbe Gedanke auch Ueber die Einzelgesetze II § 53.
  48. 2 Mos, 20,10. 31,15. 35,2. 3 Mos. 23,3 Im Text steht überall der Dativ (θεῷ oder κυρίῳ), Philo setzt dafür den Genetiv (θεοῦ).
  49. Vgl. Allegor. Erklär. I § 5 und Anm.
  50. Philo denkt natürlich an die griechischen Festfeiern, nicht an die jüdischen. Vgl. auch über den Gegensatz von jüdischer Sabbatfeier und nichtjüdischen Festfeiern. Ueber die Einzelges. I § 193 und Anm.; ferner Talm. Megilla. fol. 12b. Midr. Esther 1,11. Midr. Schir Haschirim 8,14.
  51. Die Bezeichnung Gottes als Licht, Urlicht, Ursprung alles Lichts kommt bei Philo sehr häufig vor; vgl. besonders de somn. I § 75 (Zeller Philos. d. Gr. III 2⁴ 414 ff.).
  52. Grammatik (Sprachwissenschaft), Mathematik, Musik und Rhetorik waren im Altertum die vier Unterrichtsgegenstände der ἐγκύκλιος παιδεία oder Vorbereitungswissenschaft für die Philosophie (das quadrivium der Römer).
  53. Nach τελειοτάτην scheint χαράν ausgefallen zu sein. Isaak (das Lachen) ist bei Philo Symbol der Freude und der Glückseligkeit; s. ob. § 8.
  54. Die ganze Schilderung beruht auf der schon auf Heraklit zurückgehenden und besonders von den Stoikern begründeten Lehre von den Gegensätzen und der durch sie hervorgerufenen Harmonie des Weltganzen; vgl. besonders die Pseudo-Aristotelische Schrift von der Welt, in der Posidonius benutzt ist, cap. 5: „ ... So liebt die Natur wohl die Gegensätze und wirkt gerade aus ihnen den Einklang. So führt sie das männliche mit dem weiblichen Geschlecht zusammen und nicht etwa jede Gattung mit ihresgleichen. ... So durchwaltet auch den Bau des Ganzen, des Himmels und der Erde und des gesamten Alls, infolge der Mischung der entgegengesetzten Prinzipien eine einzige Harmonie...“ Seneca Nat. Quaest. VII 27,4 ... tota haec mundi concordia ex discordibus constat.
  55. Die im Folgenden ausgesprochenen Gedanken und Fragen, die aus einer skeptischen Quelle (Aenesidem) stammen, finden sich ähnlich auch in der Schrift Ueber Joseph § 127 ff. (s. die Anm. zu § 125). Vgl. Plut. de εἶ ap. Delph. c. 18.
  56. Nach der aus den Mysterienkulten stammenden Lehre von der παλιγγενεσία wird die Seele, nachdem sie den menschlichen Körper verlassen, zu einem übermenschlichen, körperlosen Leben wiedergeboren und vereinigt sich mit den höheren Wesen, mit Gott. In den Quaest. in Exod. II § 46 vergleicht Philo damit Moses’ Hinaufsteigen auf den Berg Sinai (2. Mos. 24,18).
  57. Nach stoischer Lehre ist die Seele πνεῦμα ἔνθερμον (Diog. La. VII 157), aus dem reinen Lufthauch (πνεῦμα) und Feuer (πῦρ), also aus sehr feinen Stoffen zusammengesetzt; daher kann sie sich leicht in die höheren Regionen aufschwingen: Sext. Empir. adv. math. IX 71 ...λεπτομερεῖς γὰρ οὖσαι (αἱ ψυχαὶ) καὶ οὐχ ἧττον πυρώδεις ἢ πνευματώδεις εἰς τοὺς ἄνω μᾶλλον τόπους κουφοφοροῦσιν.
  58. Statt ἐνδιαίτημα ist wohl ἴδιον κτῆμα zu lesen.
  59. Zum Gedanken vgl. Eur. Phoen. 555 ff. οὔτοι τὰ χρήματ’ ἴδια κέκτηνται βροτοί, τὰ τῶν θεῶν δ’ ἔχοντες ἐπιμελούμεθα· ὅταν δὲ χρήζωσ’, αὔτ’ ἀφαιροῦνται πάλιν.
  60. Philo meint offenbar die Bibelworte (3 Mos. 25,23) καὶ ἡ γῆ οὐ πραθήσεται εἰς βεβαίωσιν (s. ob. § 108); er zitiert sie hier in etwas geänderter Fassung πράσει οὐ πραθήσεται ἡ γῆ (vgl. 5 Mos. 21,14 καὶ πράσει οὐ πραθήσεται ἀργυρίου).
  61. Die Lehre von den 4 Elementen (Wasser, Feuer, Erde, Luft) als den 4 Bestandteilen der ὕλη (Materie), aus denen die Welt zusammengesetzt ist, war seit Empedokles in der griechischen Philosophie feststehendes Dogma.
  62. Die Annahme, dass die Güte Gottes die Ursache der Weltschöpfung sei (s. Anm. 3), hat Philo aus Plato (Tim. 29e). Vgl. Ueber die Weltschöpfung § 21 und Anm.
  63. Zu denselben Bibelworten („ich habe einen Menschen durch Gott erworben“) bemerkt Philo in den Quaest. in Gen. I § 58: Distinguitur esse ab aliquo et ex aliquo et per aliquid; ex aliquo, sicut ex materia; ab aliquo, ut a causa; et per aliquid, sicut per instrumentum; atqui pater et creator universorum non est instrumentum, sed causa; ergo deflectit a sano consilio qui dicit non a deo sed per deum factum esse quod factum est (übernommen von Ambrosius De Cain et Abel I § 2). Vier Ursachen der Weltentstehung (wie hier) gibt Philo auch De provid. 1 § 23, nur dass er dort die vierte anders bezeichnet: Verum enim vero creationis eius pulchras asseruere causas: nempe deum, a quo; materiam, ex quo; instrumentum, per quod; instrumentum autem dei est verbum (λόγος); ad quid, denique? ut sit argumentum (i. e. ut se deus manifestaret). Aehnlich nennt Seneca Epist. 65,8 ff. unter Berufung auf Plato fünf Ursachen: quinque ergo causae sunt, ut Plato dicit: id ex quo, id a quo, id in quo, id ad quod, id propter quod; ... tamquam in statua .., id ex quo aes est, id a quo artifex est, id in quo forma est quae aptatur illi, id ad quod exemplar est quod imitatur is qui facit, id propter quod facientis propositum est ... haec omnia mundus quoque, ut ait Plato habet: facientem: hic deus est. ex quo fit, haec materia est. formam: haec est habitus et ordo mundi, quem videmus; exemplar, scilicet ad quod deus hanc magnitudinem operis pulcherrimi fecit. propositum propter quod fecit. quaeris, quod sit propositum deo? bonitas. ita certe Plato ait etc. Senecas Quelle war wahrscheinlich Posidonius, der hier Platonische Lehre mit der des Aristoteles (der 3 Ursachen annahm, Materie, Schöpfer und Form) verband. Vgl. Norden, Agnostos Theos S. 348. Philo scheint [205] derselben Quelle zu folgen, er fasst aber die 3. und 4. Ursache (Form und Muster) in einer zusammen, die er Werkzeug Gottes nennt und mit dem göttlichen Logos gleichsetzt.
  64. Die Bibelworte 1 Mos. 40,8 („gehört nicht Gott die Deutung ?“) lauten in der Uebersetzung der LXX οὐχὶ διὰ τοῦ θεοῦ ἡ διασάφησις αὐτῶν ἐστιν; Philo kommt zu seinem Tadel, weil er die Präposition διά presst und dafür ὑπό erwartet.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sinnnlichkeit
« Inhalt Philon
Ueber die Cherubim
[[Ueber die Cherubim/|]] »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).