Theater (1914)
Für das Theater bedeutet die Zeit von 1888–1913 eine Epoche großer Entwicklung. Sie erfolgt nur teilweise unter Förderung des Kaisers, der allerdings die prächtige Ausstattung von Opern und Festspielen begünstigte, der literarischen Produktion jedoch eher zögernd folgt als tatkräftig vorangeht.
Neue Schauspielkunst.
Eine neue Schauspielkunst rang sich in den letzten Jahrzehnten durch, die auf den königlichen Theatern am wenigsten heimisch geworden ist. Diese neue Kunst zeigte sich teils in der Inszenierung, teils in der Sprechweise. Sie ging von den Meiningern aus, wurde aber durch selbständige Künstler, durch den neuen Aufschwung der Kunst begünstigt; Max Reinhardt darf hier als der unbestritten größte bezeichnet werden, der wunderbare Bühnenbilder schuf. Diese neue Inszenierung kam nicht bloß modernen Stücken zustatten. Vielmehr wurden dadurch Dramen der Alten und der Klassiker dem Verständnis der Modernen erst wieder nahegeführt. Zur Erhärtung dieses Satzes brauchen nur Schillers „Räuber“ oder Shakespeares „Sommernachtstraum“ angeführt zu werden, die auch hervorragende schauspielerische Leistungen vermittelten oder an die schauspielerisch nicht eben glückliche Darstellung von Tragödien des Sophokles oder an die dichterisch minderwertige Erneuerung des Reformationsstückes „Jedermann“ (in der Bearbeitung von Hoffmannsthal). Und auch in allerneuester Zeit strömen hier die Beispiele entgegen: der von Gerhart Hauptmann inszenierte „Wilhelm Tell“ bei der Eröffnung des Deutschen Künstlertheaters (16. September 1913) und die von Reinhardt gebotene Vorführung von Goethes „Tasso“ (Ende September) waren wirkliche Wiederbelebungen, die erstere freilich nur nach der szenischen Seite, da die Schauspielerstückchen der Mimen, die gewaltsamen Verkürzungen des Textes und willkürliche Auslassungen den klassisch gebildeten Hörer verbitterten; das letztere aber eine große künstlerische Neuschöpfung, die alle dichterischen und dramatischen Wirkungen aus dem Stücke herausholte.
Umwandlung der Sprachweise.
Während diese Kunst der Inszenierung etwas ganz Neues gewährte, ist die Umwandlung der Sprechweise: die Einführung der naturalistischen an Stelle der deklamatorischen, im Grunde etwas Altes. Was daran neu ist: die Abkehr des Schauspielers vom Publikum, so daß dieses häufig deren Rückansicht zu schauen hat, das übermäßig leise Sprechen, so [1624] daß selbst die mit dem schärfsten Gehör Begabten den Unterhaltungen kaum zu folgen vermögen, ist sicherlich vom Übel; die Hauptreform dagegen: der natürliche, dem Leben abgelauschte Konversationston, die ungezwungene Manier, die auch den Vers nicht in abgehackten Metren, sondern gleichsam in Prosa aufgelöst verständlich vorträgt, ist im wesentlichen nur eine Erneuerung des alten Kampfes, den Goethe – auch als Schauspieldirektor Vertreter des Klassizismus mit Iffland und seinen Anhängern, den Reformatoren vor der Reformation – führte, und in dem er zu seiner Zeit zum Schaden der Schauspielkunst als Sieger beharrte.
Diese Umkehr in der Schauspielkunst war begleitet von einem Umschwung in der theatralischen Produktion.
Monologe.
Zu den wesentlichen Veränderungen dieses neuen Dramas gehört die Vernichtung des Beiseitesprechens des Monologs sowie der pathetischen Reden, die man mit Unrecht als Tiraden bezeichnet. Die beiden ersten Requisite können, wie man gezeigt hat, entbehrlich werden, und doch wird kein literarisch Gebildeter auf die Monologe Tells und Hamlets, der Iphigenie und Fausts verzichten wollen; nur Radikalen können sie als zweckwidrig erscheinen. Wenn der Naturalismus in seinem Bestreben, das Leben abzuspiegeln, Pathetisches verdammt, so kann er, sobald er eben nur das gewöhnliche Leben berücksichtigt, recht haben. – Ob aber lebhafte Menschen damit auskommen, ohne ihren Spott, ihre Erregung oder ihre Entrüstung durch hingeworfene Bemerkungen zu äußern, die für keinen Dritten bestimmt sind, und ob sie nicht das Bedürfnis fühlen, das im Stillen Erdachte gewissermaßen in Anreden an sich zu formen, ist sehr bestreitbar.
Vergangene Generation: Lindau, Heyse, Wilbrandt, Lubliner.
Zu den Dramatikern der vergangenen Generation waren in der Berichtsepoche besonders vier tätig: Paul Lindau, Paul Heyse, beide noch heute lebend und wirkend, Adolf Wilbrandt, gestorben 1910, Hugo Lubliner, gestorben 1912. Alle vier haben auch in dem letzten Vierteljahrhundert manches geschaffen; freilich nichts, was sich in anderen Geleisen, als den früher betretenen, bewegte, und kaum etwas, das ihren Ruhm zu erhöhen vermochte.
Der Letztgenannte, literarisch bekannter unter seinem angenommenen Namen Hugo Bürger, war lange ein Liebling des Publikums des Königlichen Schauspielhauses in Berlin und schon durch diesen Umstand allein bei den Modernen etwas anrüchig. Aber seine Dramen, unter anderen „Frauenadvokat“, „Die Frau ohne Geist“, „Die Modelle des Sheridan“, „Auf der Brautfahrt“, „Gold und Eisen“, „Der Jour fix“, gehen über den Tageserfolg hinaus. Sie sind amüsant, mitunter geistvoll und verdienen die Bezeichnung „modern“ zunächst in dem Sinne, daß sie sehr selten in die Vergangenheit schweifen, sondern das Gegenwartsleben, das Treiben der Geselligkeit, meist das der höheren Kreise darstellen. Darum sind sie gewissermaßen zeitgeschichtliche Dokumente, denn die von Lubliner gezeichneten Typen haben wirklich existiert. In dieser Gesellschaftsschilderung liegt seine Bedeutung mehr als in der [1625] gleichfalls von ihm versuchten Tätigkeit, die großen sozialen Kämpfe der neuesten Zeit vorzuführen.
Noch grimmigeren Haß als Lubliner häufte Paul Lindau auf sich, dem es so ging wie dem alten Tieck, der auch aus einem wilden Revolutionskämpfer ein zahmer Rückschrittler geworden war.
Lindaus Hauptdramen gehören einer früheren Zeit an. Er wollte das deutsche Sittenstück an die Stelle des französischen setzen, brachte es aber, wie Fontane sich einmal ausdrückte, nur zu furchtsamen Tendenzstücken von der milderen Observanz. In unserer Epoche beschränkt er sich auf Romanschriftstellerei und Theaterleitung; als Dramatiker war er bemüht, gegen die neue Schule aufzutreten, die ihn rücksichtslos angegriffen hatte (sein Drama „Die Sonne“, 1891). Adolf Wilbrandt, gleichfalls einer früheren Epoche zuzurechnen, hat doch noch 1889 in seinem „Meister von Palmyra“ ein schönes und kräftiges Werk geschrieben, das, durch die trefflichen Künstler des Burgtheaters unterstützt, große Wirkungen erzielte.
Paul Heyse endlich, dessen wunderbare Novellen in höherem Grade als seine Romane hoffentlich den Sturm mancher Neuen und Neusten überdauern wird, ist als Dramatiker niemals glücklich gewesen. Bei aller Verehrung, die er als Persönlichkeit, als Dichter genoß und genießt, darf man es aussprechen, daß ihm trotz allen Eifers, mit dem er auf der Bühne um die Siegespalme rang, ein wirklich großer Erfolg mit Recht niemals zuteil wurde. Außer einigen wenigen historischen Stücken kann sich keines seiner Dramen auf der Bühne halten.
Ernst v. Wildenbruch
Dagegen rettete Ernst v. Wildenbruch seinen jungen Ruhm in die neue Zeit hinein. Um Wildenbruch vollkommen zu würdigen, muß man ihn gehört haben. Wie er vor den Studenten stand und seine Dramen vorlas, vielleicht nicht mit höchster Kunst, aber mit echter jugendlicher Begeisterung, wie er schmetterte und drohte, säuselte und milde redete, das waren unvergeßliche Augenblicke. Es lag etwas Prophetisches in seinem Auftreten und etwas Heldenartiges in seinem ganzen Wesen. Am 11. November 1888 wurden seine „Quitzows“ aufgeführt, dem die ähnlichen Stücke „Der Generalfeldoberst“, „Heinrich und Heinrichs Geschlecht“, „Opfer um Opfer“ und andere folgten. Durch alle diese weht der heiße Atem des Patriotismus, mehr des preußischen als des deutschen. Es erschien wie ein Aufwallen des Hohenzollernblutes, das in seinen Adern rollte. Leider kam es aber im Laufe der Zeit zu stets lauter tönenden, aber innerlich unwahren Phrasen, das Wort trat an die Stelle der Handlung; so wie er sich von seinen Brandenburgern trennte, entfernte sich auch die Muse von ihm. Sobald er sein eigentliches Gebiet verließ, tastete er unsicher umher; das moderne Lustspiel mißlang ihm nicht geradezu, erhob sich jedoch nicht über das gewöhnliche ( „Die Haubenlerche“ ). Das Versenken in fremde Zeiten bewies ebensowohl Unkenntnis der Zeit, wie Unfähigkeit zu ihrer Gestaltung ( „Die Tochter des Erasmus“ ). Gewählte Sprache konnte für das Schiefe in der Charakteristik, das Leere in der Handlung nicht entschädigen. Mochte man dem Verfasser auch verzeihen, daß er den lieblosen und zur Liebe unfähigen großen Schriftsteller der Reformation zum Liebenden [1626] machte und ihm eine Tochter andichtete, so mußte man ihn abweisen, weil er ein scheinbar gründliches und doch ungründliches, ein farbenreiches und doch mit schlechten Farben gemaltes Bild aus einer herrlichen Zeit entworfen hatte.
„Die Rabensteinerin“, Wildenbruchs letztes Stück (1907), bedeutet keinen Fortschritt und keine Wandlung. Echtes dramatisches Leben, mit viel Sentimentalität: Liebe auf den ersten Blick, Ideen des 20. Jahrhunderts (Teilung des Arbeitsertrags) in das 16. Jahrhundert übertragen, in einer Sprache, die archaistisch sein soll und geradezu greulich ist. Bersabe, die Tochter des Ritters von Rabenstein, rettet dem jungen Welser von Augsburg das Leben, tötet seine Braut Ursula Melber, von der sie meint, daß sie, von dem jungen Welser aufgefordert, ihren Untergang, die Zerstörung der väterlichen Burg mit ansehn soll, und wird, auf den Einspruch Welsers, vom Henkertod gerettet und zieht mit ihm als seine Gemahlin nach Venezuela.
Revolution der Literatur.
Eine „Revolution der Literatur“, so verkündete Karl Bleibtreu 1886, sei im Anzuge. Er verdammte die gesamte bestehende dramatische Literatur, hauptsächlich Paul Lindau, Oskar Blumenthal und ihr Gefolge, nahm aber auch Heyse nicht aus und erkannte höchstens Wildenbruch Gnade zu. Er verlangte, mächtig angeregt und stark beeinflußt durch die neue Bewegung, wie sie in Frankreich, den nordischen Ländern und in Rußland zutage getreten war, von dem Drama Beschäftigung mit den Zeitfragen, Realität in der Liebe und als Krönung die wahre Romantik, welche in den Erscheinungsformen des Lebens schlummere. Er und die Seinen, unter denen besonders die Brüder Hart zu nennen sind, betrachteten als das höchste Ideal nicht mehr die Antike, sondern die Moderne. An die Genossen, die in einem Vereine zusammentraten, schlossen sich Otto Brahm und Paul Schlenther an, die zuerst als Journalisten und Kritiker tätig gewesen waren. Der Naturalismus wurde die Parole der jungen Schar; die „Freie Bühne“ in Berlin, März 1889, die Szene, auf der die ersten naturalistischen Dramen in Erscheinung traten (dieser Berliner Schöpfung reihten sich dann ähnliche, gleichfalls in Berlin, spätere in München und Wien an). Freilich erlangte „Papa Hamlet“, das gemeinsame Werk zweier Genossen, die aus Freunden später Feinde wurden, Arno Holz und Johannes Schlaf, nur eine ephemäre Bedeutung.
Gerh. Hauptmann.
Unter den übrigen zur Aufführung gebrachten Dramen wäre neben den nordischen und französischen die von Gerhart Hauptmann die einschneidendsten. Sie riefen eine wahre Umwälzung hervor. Sein „Vor Sonnenaufgang“ (20. Oktober 1889) bedeutet den Anfang einer neuen Epoche. Auch heute, nachdem nun fast ein Vierteljahrhundert seit der mächtigen Erregung verrauscht ist, die das Stück in beiden Lagern hervorrief, muß man die Kraft der Charakterzeichnung, das Naturalistische in der Schilderung der dekadenten Potatorenfamilie bewundern und doch das allzu Widrige in der Darstellung einzelner Männer und Frauen, die Roheit der Sprache, das Grausige einzelner Vorgänge abschreckend finden.
Das „Friedensfest“, gleichfalls das Bild einer verfallenen Familie vorführend, [1627] bedeutete keinen Fortschritt; die „Einsamen Menschen“ verrieten sehr stark die Abhängigkeit von Ibsen. Hauptmanns Meisterleistung waren „Die Weber“. Man darf sie nicht als Sensation und noch weniger als Verherrlichung der Revolution auffassen, sondern muß in ihnen eine vollendete Zeit- und Milieudarstellung voll dramatischen Lebens und tief eindringender Charakterisierung sehen, ein Wunderwert psychologischer Analyse durch die Handlung selbst, eine meisterhafte Schilderung der gegenüberstehenden Parteien. Man hat mit Unrecht behauptet, daß in diesem Stücke kein Abschluß vorhanden sei, denn wenn es auch an Perspektiven in fortdauernden Kämpfen und weiteren Verwicklungen nicht fehlt, so steht doch die ganze Episode der schlesischen Weberstreitigkeiten und der gleichzeitigen furchtbaren Hungersnot mit all ihren traurigen und ergreifenden Erscheinungen vor dem Leser und Hörer. Die „Weber“ nehmen in Hauptmanns Werk und in der gesamten Theaterliteratur unseres Zeitraums den ersten Platz ein.
Nicht minder vorzüglich ist das naturalistische Lustspiel „College Crampton“, die grausame und doch mitleidsvolle Satire auf einen fähigen, aber verfallenden Künstler, während „Der Biberpelz“, eine Diebskomödie, unter dem sichtbaren Einfluß Heinrich v. Kleists geschrieben, trotz mancher vorzüglicher Einzelheiten, an dem Doppelfehler so vieler moderner Stücke krankt, dem einen: gegenüber den abstoßenden Persönlichkeiten keinerlei versöhnlichen Hinblick auf erfreuliche Menschen zu gewähren, und dem anderen: nur eine abgerissene Situation ohne irgendwelches Ende darzubieten.
Mit viel geringerem Glücke versuchte der Dichter in „Florian Geyer“ den Bauernkrieg zu dramatisieren. Historische Unkenntnis, ein zwischen moderner und archaistischer Redeweise ungeschickt schwankender Ausdruck, unvermeidliche Abhängigkeit von Goethes „Götz“ sind nicht die einzigen Vorwürfe, die man diesem Ritterschauspiel machen muß. Vielmehr zeigte sich in ihm der absolute Mangel, eine vergangene Zeit lebendig zu machen, Szenen von unerträglicher Roheit schrecken ab, und das Stück, das schon des Titels wegen einen Haupthelden verlangt, ist nichts weniger als eine Individualisierung des Helden, sondern eine verschwommene und mißlungene Gesamtporträtierung einer vielköpfigen Masse.
Den konsequenten Naturalismus verließ Hauptmann in seinen späteren Stücken. „Hanneles Himmelfahrt“ wird man nicht mit dem späteren Reichskanzler, dem Fürsten Hohenlohe, als „ein gräßliches Machwerk, sozialdemokratisch-realistisch, dabei von krankhaft-sentimentaler Mystik, unheimlich, nervenangreifend, überhaupt scheußlich“ verwerfen dürfen, obgleich es zwischen zwei Stilen und zwei Richtungen schwankt. Denn neben das realistische Moment tritt hier das mystisch-symbolische: in das alte Milieu, das aus den früheren Stücken beibehalten ist, eine elende, durch Trunk, Verworfenheit verderbte schlesische Familie, verwebt sind die Phantasien des sterbenden Kindes, das im Traume Vergangenes neben Zukünftigem erschaut und selbst die Gestalt des Erlösers erblickt. Aber in dieser rührenden Hauptgestalt, dem trostreichen versöhnenden Abschluß, braucht man keinen theatermäßigen Rückschritt zu erblicken, sondern die bewußte und gründliche Umkehr von dem krassen Naturalismus zu poetischer Stimmung.
Eine solche findet sich in gleicher Weise in der „Versunkenen Glocke“ (1896). Statt des visionären Traumes des Kindes das träumerische Dahinleben eines bekannten Künstlers, der, aus dem platten Alltagsleben hinaus, in die Märchenwelt sich rettet. [1628] Aber es gehört doch Mangel an Poesie dazu, in der realistisch angreifbaren Gestalt des Rautendelein (Waldschrat und Nickelmann mag man als groteske Schöpfungen preisgeben) nur müßige Erfindungen zu sehen. Und wenn dieses märchenhafte Wesen sich enger ans Herz legt und dem Gemüte angenehmer schmeichelt als die wirklich realen Figuren – in diesem deutschen Märchendrama steckt mehr Poesie, als in hundert regelrechteren und die wirkliche Welt gesetzmäßiger darstellenden Werken.
Keine der späteren Dichtungen läßt sich mit diesen früheren vergleichen. Manche beweisen den störrischen Eigensinn des in seltsame Theorien Verrannten, oder die auch dem Genius nicht erlaubte Manier, dem Genießenden Unverständliches oder Abstruses zuzumuten; manche andere, „Fuhrmann Henschel“ (1898), „Rose Bernd“ (1903), die wiederum in schlesischem Boden wurzeln, bieten nur neue Nuancen, aber keine neue Art. Aber die meisten legen Zeugnis ab von einem außerordentlichen Können; sie bekunden eine Wucht der Sprache, eine Kunst der Beherrschung der Massen, eindringlichste Charakteristik und geben Zeugnis von so unendlich reichen Gaben, wie sie kein anderer Lebender aufweist.
Seit kurzem sucht sich Hauptmann als Regisseur des neuerstandenen „Deutschen Künstlertheaters“ zu bewähren; teilweise mit großem Glück, wenn auch mit einer Modernität, die des allgemeinen Beifalls nicht würdig ist und mit einer gewiß tadelnswerten Willkür den Größten, wie Schiller, gegenüber.
Sein letztes Werk „Festspiel in deutschen Reimen“, das in der Lesewelt ungeheuer verbreitet ist (es liegt schon die 16. Auflage vor), hat viel Staub aufgewirbelt. Gewiß ist es kein patriotisches Festspiel, überhaupt kein Drama, vielmehr eine Art Puppenspiel in bunten Szenen und Einzelreden. Zudem so voll von Satire und Anspielungen, daß es nur geschichtlich Hochgebildeten verständlich ist. Es ist bedauerlich, daß einem solchen Werke gegenüber kleinliches Gezänk der Parteien laut geworden ist, und daß seine Geschicke von einem anderen als ästhetischen Standpunkt aus vollzogen wurden. Man könnte mit dem Dichter rechten, daß er Schillers prophetische Stimme nicht ertönen ließ und daß er Goethe gar nicht erwähnte, den man nun glücklicherweise aufhört, unpatriotischer Gesinnungen zu bezichtigen. Wenn man aber wiederum mehr von politischem als von ästhetischem Standpunkte aus gesagt hat, das Spiel sei eine Verhöhnung Deutschlands und eine Verherrlichung Frankreichs, so ist das eine grobe Verkennung; denn Napoleon erscheint in ihm in einer sehr fragwürdigen Größe, Friedrich der Große dagegen als Vorbereiter für eine große Zukunft. Und auch die Art, wie Stein, Gneisenau, Jahn, Kleist, vor allem Fichte, charakterisiert werden, wie die Weltbürger, die Engländer, die kleinmütigen und großmäuligen Philister sich geben, wie die großen Gedanken: die Reformation, die Freiheitsbewegung, die Fridericianische Tradition verteidigt und als Bürgschaft für eine neue große Zukunft hingestellt werden, ist eines wahrhaften Dichters würdig. Neben schlimmen prosaischen Stellen und entsetzlichen Reimen wunderbar poetische Partien. Gegenüber undramatischen Ungeheuerlichkeiten dramatische Einlagen von außerordentlicher Kraft, z. B. die Szene der Mütter, die ihre Söhne reklamieren. Gewiß wäre es besser gewesen, an das Ende statt des Einschließens Blüchers in die Totenkiste die schönen Worte der Athene-Deutschland zu setzen:
[1629]Ich gebiete Euch dreierlei:
Macht Deutschland von der Fremdherrschaft frei!
Sorget, daß Deutschland einig sei!
Und seid selber frei! Seid selber frei!
Denn sie bilden die Quintessenz des freilich ganz willkürlichen, höchst undramatischen, aber von einem wahren Dichter geschaffenen Werkes.
Herm. Sudermann.
Einige Wochen nach der Aufführung des Erstlings von Hauptmann erschien das erste Wert Hermann Sudermanns (27. November 1889). War Hauptmann ein völliger Neuling gewesen, dessen Name fast ganz unbekannt war, so hatte Sudermann durch seinen Roman „Frau Sorge“ bereits große Erfolge erzielt.
Hermann Sudermann gebührt das Verdienst, eine neue Richtung begründet zu haben. Zuerst jubelnd begrüßt, wurde er allmählich von seinem Throne verstoßen und ohne Berücksichtigung seiner bedeutenden Leistungen geschmäht. Er übte nicht die Zurückhaltung, die Kränkung schweigend hinzunehmen, sondern antwortete auf die groben Angriffe noch gröber und machte durch seine Erwiderungen den Grimm der Gegner noch schlimmer. Es läßt sich nicht leugnen, daß er allmählich von seiner Höhe stark heruntergestiegen ist, daß seine späteren Arbeiten an Kraft und Originalität hinter den früheren zurückstehen. Aber eine bedeutende Stellung in der Literatur nimmt er durch die zwei Dramen „Ehre“ und „Heimat“ ein. Er wurde damit Schöpfer des realistischen Dramas, das eine aufregende, wirksame Handlung enthält. Das Wesen dieser Dramen drückt er, wie R. M. Meyer gezeigt hat, in der Art aus, wie er in „Sodoms Ende“ die Hauptperson beschreibt: „Mit Elan dringt er mitten in die untergehende Stadt – die Straße da – schon lichterloh – Männer und Weiber, nackt und halb betrunken, wie sie gerade aus ihren Orgien taumeln.“ Die Handlung, von der er zu berichten weiß, ist interessant, und wenn auch nicht immer neu, so doch in anderer Art als früher beleuchtet. Gewiß hatte man schon früher das Vorder- und Hinterhaus – die Vertreter der höheren und niederen Stände – einander gegenübergestellt. Er verschärfte diesen Gegensatz und gab den einzelnen Bewohnern, die er unparteiisch schaute wie sie wirklich waren, ein scharf gezeichnetes stilistisches Gepräge. Nur, daß er seine eigene Weisheit gar zu aufdringlich den Hauptpersonen in den Mund legt. Er liebt es, die neuen Erfahrungen und Erlebnisse des in der Ferne gereiften mit dem unveränderten Zustand der im Vaterland Zurückgebliebenen zu kontrastieren. Er schildert mit großer Virtuosität den nervösen, durch Genußsucht und Arbeitsübertreibung, durch Vergötterung der anderen und übermäßiges Selbstbewußtsein verdorbenen Dekadenten.
Ein gewandter und bühnensicherer Techniker, der freilich gar manches von Sardous Manier entnimmt und sich dieser Geschicklichkeit rühmt. Er kennt meisterlich seine Heimat Ostpreußen und vermag namentlich gewisse Typen, wie Lehrer und Pfarrer, ausgezeichnet zu charakterisieren, weniger gelingt es ihm, Dörfler und Personen niedrigen Standes in ihrer ganzen Wesenheit zu schildern. Er ist ein eindrucksfähiger Rhetoriker, der namentlich in den großen Szenen, in denen das Hauptinteresse beruht, den Leichtgläubigen erschüttert. [1630] Aber es fehlt ihm die Gabe, als Herzenskündiger zu erscheinen und das Bild wahrhafter Leidenschaft zu entrollen. Statt dessen verkündet er matte Entsagung. Er krankt ferner an dem Fehler, sich häufig zu wiederholen, so daß Motive seiner früheren Werte in den späteren immer wieder erklingen; namentlich die „Magda“ aus der Heimat hat gar zu viele Nachahmerinnen in den späteren Arbeiten gefunden. Das Neue in diesen Arbeiten seiner zweiten Periode besteht darin, daß er das Parteitreiben in den Kreis seiner Schilderungen zieht und darzutun sich bemüht, wie der Moloch der Partei, entweder rücksichtslos seine Opfer fordert oder mindestens ihr Tun und Lassen nach bestimmten Forderungen heischt. Während dies Problem in „Es lebe das Leben“ nicht sonderlich glaubhaft ausgeführt wird, erweist sich „Sturmgeselle Sokrates“ jedenfalls als belebtes, im ganzen glaubwürdiges Bild der älteren und jüngeren Generation, wobei die ältere, an ihren Idealen festhaltend, unsere Sympathie sich wahrt, während die jüngere, den neuen Kraftworten zujubelnd, die Oberhand behält. Aber die Jugend ist recht wie der Most, der sich absurd gebärdet, und der Verfasser läßt nicht deutlich genug erkennen, welcher Partei er eigentlich von Herzen zugetan ist.
Sein letztes Stück „Die drei Reiherfedern“, die in eine blutlose Vergangenheit geleiten, sind nur eine schwächliche Umdeutung dunklen Aberglaubens und bieten außer der Erfindung eines männlich-kühnen Draufgängers, des Knechtes Hans Lorbaß, mehr Schemen als Charaktere, aber keine wirklich künstlerische Darstellung vergangener Zustände.
L. Fulda.
Während Sudermann nicht den sogenannten Modernen zuzurechnen ist, vielmehr deren Bestrebungen verspottete und zur Vergeltung von ihnen verachtet wurde, hat Ludwig Fulda , persönlich mit den Führern der neuen Richtung befreundet, sich ihnen kameradschaftlich angeschlossen und ist doch als Dichter seine eigenen Wege gegangen. Ein Sprachkünstler hervorragender Art, ein gründlich gebildeter, fein und ästhetisch empfindender Mensch, so tritt er in allen seinen Werken auf. Seine Lustspiele, von denen hier ausschließlich zu reden ist, sind keine Meisterleistungen, wie seine Übersetzung von Rostands Cyrano de Bergerac und seine unvergleichliche Verdeutschung Molières, sie tragen nicht die Bedingung der Ewigkeitsdauer an sich, aber es sind Werke eines feinen Geistes, in edler Sprache geschrieben, mit sicherer Beherrschung aller Mittel. Den ersten großen, vollverdienten, nicht wieder erreichten Erfolg erlangte er durch den „Talisman“. Die Dramatisierung eines Märchenstoffes, bei dem man nicht, wie es häufig geschehen ist, starke und bewußte Anlehnung an die nordische Literatur suchen darf, ein Märchen ohne Wunderbares und Unbegreifliches, mit starken satirischen Wendungen gegen Hofschranzentum, mit echt menschlicher Erhebung der Niedrigen und Dürftigen und mit liebenswürdiger Verklärung der Liebe.
Fulda hat seitdem manche ähnlichen Märchenstoffe bearbeitet, sich auf dem Gebiet der Tragödie versucht ( Herostrat ), Künstler- und Gelehrtenkreise vergangener Epoche zu beleben unternommen ( Novella d’Andrea ), aber seine Domäne ist recht eigentlich das Zierliche, nie Spielerische, das Elegante, nicht Frivol-Mondäne, das an psychologischen Problemen keineswegs vorbeigeht, ohne sich ihnen grüblerisch vollkommen gefangen zu geben.
[1631] Zwei neuere Stücke verdienen eine besondere Hervorhebung.
Von vollendeter Anmut ist das zierliche Spiel „Die Zwillingsschwester“ (1901), von einer Zierlichkeit, die an italienische Vorbilder gemahnt und doch volle Originalität wahrt. Das in Italien in der Renaissancezeit spielende Lustspiel ist geschickt aufgebaut wie Giuditta, die eine Zeitlang ihre ihr außerordentlich ähnliche Zwillingsschwester Renata vorstellt, ihren lau gewordenen Gatten Orlando sich zurückerobert und wie Renata kraft ihrer Ähnlichkeit mit Giuditta den der letzteren in innigster Freundschaft ergebenen Maler Valla für sich gewinnt. Selbst die Abweisung eines trunkenen Gecken, die Schilderung eines Bauerntölpels, kleine Entgleisungen des Orlando mit einer Zofe neben seinem Hauptabweichen, das darin besteht, daß er sich in seine angebliche Schwägerin verliebt, sind so gezeichnet, daß das Stück niemals etwas von seiner keuschen Grazie verliert.
Der Dummkopf (Stuttgart 1907) ist ein feines geistreiches Lustspiel, das auf einer witzigen Idee beruht und das, wenn es auch konventionell genug mit einer von Anfang an ziemlich durchsichtigen Heirat schließt, nicht zu dem alten Eisen geworfen werden darf. Ein Bankbeamter, von einem entfernten Verwandten als Universalerbe eingesetzt – als der dümmste, wie er meint – verzichtet auf diese Erbschaft zugunsten dreier Vettern, wird von diesen schlecht behandelt und soll in eine Irrenanstalt gesteckt werden. Er wird aber von dem Irrenarzt und von einer reichen Amerikanerin, die vorher die drei Vettern hatte abblitzen lassen, als großes, unselbständiges und allzu ideal gesinntes Kind geschätzt und von der Amerikanerin geheiratet. Das wird in raschem Tempo, in lebhafter, korrekter Sprache, in einer trotz mancher Wunderlichkeiten glaubhaften Weise mit prächtigen satirischen Zügen dargestellt und erregt durch den Triumph und durch die Nasführung der geistigen Klüglinge Behaglichkeit und Erheiterung.
Alte Richtungen.
Neben den Werken dieser vier Männer, Hauptmann, Sudermann, Wildenbruch, Fulda, welche sich in unserem Zeitraum die Bühne beherrschten, ohne den Spielplan eines Theaters ganz auszufüllen, hat sich die Vertretung vieler alter Richtungen erhalten. Das dem Französischen nachgeahmte Sitten- oder vielmehr Unsittendrama: Ehebruch und leichte Männersiege ruft immer neue Fortsetzungen hervor, in unendlich vielen Abarten mit immer größerer Leichtfertigkeit, und ergötzt ein unterhaltungslustiges und nach immer stärkeren Kitzeln dürstendes Publikum; die alte Berliner Posse, ebenso die derben Dialektspäße befriedigen breite Schichten.
Ohne auf die Vorführungen des Metropoltheaters und anderer Bühnen einzugehen, in deren Repertoire man von dramatischer Entwicklung überhaupt nicht sprechen kann, und in denen Ballette, Dekorationskunststücke und das Auftreten einzelner beliebter Komiker und Soubretten die Menschen hauptsächlich zum Besuch jener „Kunststätten“ veranlassen, sei nur mit einem Wort darauf hingewiesen, daß in manchen Possen, in denen natürlich neuere Erfindungen ausgenutzt werden („Filmzauber“) außer dem üblichen „höheren Blödsinn“ auch Keime wirklich zugkräftiger Komik enthalten sind. Solche Stücke brachten und bringen es in Berlin zu Hunderten von Vorstellungen und werden in der Provinz gern gesehen und eifrig belacht. Mit wirklicher Literatur haben sie nichts zu tun; sie deswegen in Bausch und Bogen zu verdammen, wäre Unrecht. Gewiß soll die [1632] Bühne zunächst eine Stätte der Erhebung und Erbauung sein, oder sie soll, wenn sie dies nicht ist, zum Nachdenken reizen und darf daher nicht vermeiden, das Grause und Düstere des Lebens, das Packende, Ergreifende, Abschreckende und dadurch vielleicht Heilende vorzuführen. Aber es geht nicht an bei aller gewiß gerechten Abweisung des Bloß-Frivolen, Rein-Erotischen, Abgeschmackt-Unsinnigen die heitere Muse ganz zu verdammen, die bloß auf Unterhaltung hinstrebt, und selbst auf Kosten der Wahrscheinlichkeit durch ihre Häufung von Possenmotiven dem ernsten, beschäftigten, von Tagesarbeit erschöpften und zermürbten Mann die Sorgen von der Stirne scheuchen und den Ernst des Lebens durch Lächeln verklären will. Nur muß man solche Gattungen nicht zur Hauptabteilung machen, und Werke dieser Art nicht zu literarischen Kunstwerken stempeln.
Mit dieser Beschränkung seien, um nur zwei der erfolgreichsten Vertreter der leichten Muse zu erwähnen – die beiden Brüder Schönthan, Fritz Skowronneck seien nur genannt –, Gustav Kadelburg und Oskar Blumenthal kurz charakterisiert.
Gustav Kadelburg.
Der erstere hat mit seinen Lustspielen „Goldfische“, „Zwei glückliche Tage“, „Der Herr Senator“, „Großstadtluft“, „Im weißen Rößl“ (die letzteren beiden gemeinsam mit Oskar Blumenthal), „Husarenfieber“ ganz ungeheure Erfolge in Deutschland und im Ausland errungen. Diese lustigen Arbeiten erfüllen den Zweck leichter, harmloser Unterhaltung, den sie erstreben, halten sich möglichst frei von Unanständigkeiten, sündigen nicht allzusehr gegen die Wahrscheinlichkeit, verraten gute Erfindung, große Bühnenkenntnis, schlagfertig Humor, witzige Pointen, anmutige Situationen und verfallen möglichst selten in unangebrachte Rührseligkeiten.
Oskar Blumenthal.
Oskar Blumenthal hat sich selbst in das Album schrieben, sein Ruhmestitel solle sein:
- „Mürrischen und Sauren zu mißfallen.“
Diesen Ruhmestitel darf er gewiß durch seine Stücke in Anspruch nehmen. Zu seinen erfolgreichsten Lustspielen gehören: „Der Probepfeil“, „Die große Glocke“, „Ein Tropfen Gift“, „Matthias Gollinger“, „Fee Caprice“, „Das Theaterdorf“, „Wenn wir altern“, „Schwur der Treue“. Geschickte Behandlung der Sprache, treffender Witz, espritvolle Unterhaltung, üppiger Reichtum der Erfindung, überraschende drastische Situationen, possierliche Verwicklungen machten und machen seine Stücke beliebt. Durchgeführte Charakteristiken, Vertiefung in sittliche und Kulturfragen darf man nicht bei ihm erwarten, aber es ist ungerecht, weil unhistorisch, ihn unter Kotzebue und Saphir zu stellen, da die Frivolität des ersteren ihm ebenso abgeht, wie die krankhafte Witz- und Worthascherei des letzteren.
Naturalisten.
In dem letzten Jahrzehnt sind außer all den bisher schon genannten Männern unendlich viele am Bau tätig gewesen. Der krasse Naturalismus hat in Schlaf und Holz zwei Propheten gefunden, aber durchaus keine Dramatiker, die dauernde Leistungen zu schaffen vermochten.
[1633]
Max Halbe.
Unter den konsequenten Naturalisten ist höchstens noch Max Halbe zu nennen, der mit seiner „Jugend“ (1893) einen außerordentlichen Erfolg davontrug: ein soziales Drama, das nicht bloß durch das bisher wenig geschilderte deutsch-polnische Milieu, auch nicht allein durch die wirkungsvolle Vorführung eines katholischen Geistlichen, sondern durch die vortreffliche, wenn auch mitunter zu stark naturalistische Ausmalung des Erwachens der Liebe bei Knaben und Mädchen die allgemeine Anerkennung verdient, die ihm zuteil ward.
Aber es blieb bei ihm, wie bei so manchen Poeten früherer Zeit, bei diesem einen Erfolge; keines seiner späteren Werke konnte an Bedeutung und Wirkung dem Erstling nur von ferne gleichkommen. Eines seiner letzten Dramen, „Der Strom“, ist ein verwickeltes Familienstück, das an veraltete Vorbilder erinnert: ein älterer Bruder, der die jüngeren um ihre Erbschaft betrügt, darüber seine Gattin verliert und im Kampfe mit seinem jüngsten Bruder zugrunde geht. Überaus künstlich, nicht künstlerisch, d. h. rein äußerlich, ist ein Dammbruch mit diesem Familiendrama in Verbindung gesetzt.
Im Anschluß an Halbe, obwohl vielleicht durch diese Aneinanderreihung seine Bedeutung über Gebühr erhöht wird, kann man von drei Richtungen sprechen, die in den modernen Produktionen bemerkbar sind: die eine die Sinnlichkeit, die andere die Heimatskunst, die dritte, die ich zunächst mit kurzem Worte als Erdgeruch bezeichnen möchte.
Sinnlichkeit.
Die Sinnlichkeit war immer Gegenstand von Theaterstücken. Während aber früher namentlich in dem von Frankreich Importierten der Sieg der Lüsternheit mit allerlei perversen Mittelchen gezeigt wurde, handelt es sich nun darum, das Aufkeimen der Sinnlichkeit als ein natürliches Phänomen, wenn auch nicht zu glorifizieren, so doch als etwas Unabwendbares darzustellen (Wedekinds „Frühlings Erwachen“ vgl. unten). Vor allem gilt es aber, einen Kampf zu führen gegen die konventionelle Sittlichkeit, gegen die sich mit dem Tugendmantel drapierende Ehrbarkeit und die großen Löcher jenes Tugendmantels zu zeigen.
Das ist eine neue Art, die sich im Lustspiel geltend macht. Sie wird durch eine Theorie begründet, die naturgemäß als die einzig richtige gilt, während die früheren als grundfalsch hingestellt und ihre Bekenner als Idioten gescholten werden. Früher galt als Gesetz, daß die Komödie lachend Unsitten zu strafen hatte. Dagegen erhebt sich ein Wortführer der neuen Richtung, Joseph Ruederer, indem er sagt: „Wird ja doch stets in der Komödie in Lüge und Intrigue, in Überlistung und Betrug, in Unkeuschheit und ehelicher Untreue das Möglichste geleistet zugunsten der Erzielung komischer Situationen; von einer Bestrafung der Unsittlichkeiten ist dabei so wenig die Rede, daß eine solche vielmehr die Komik aufheben würde. Die einzige Strafe, das Lächerlichwerden, trifft Gute und Böse so gleichzeitig, wie in der Tragödie der Untergang. Die treulosen, falschen, rücksichtslosen und unzarten Helden der Komödie empfangen vielmehr den Lohn, zuletzt in der Hauptsache ihren Willen zu kriegen.“ Bei diesem Plädoyer verfährt Ruederer zwar wie ein guter Advokat, aber wie ein schlechter Historiker. Denn wenn er Plautus und Aristophanes als seine Gewährsmanner anführt, so vergißt er Molière und Shakespeare, auch Kleist und Goethe. Vor allen Dingen beurteilt er auch seine Komödie [1634] falsch. In ihr, „Die Fahnenweihe“, wird der Posthalter Schlegel und seine Frau, eine Dame, die ihre Gunst gar zu freigebig verschenkt, doch bestraft dadurch, daß sie schwere Stunden durchleben und schließlich ihren Protektor, den Großhändler Rettinger, verlieren. Sonst aber triumphieren in dieser übermütigen, scharf charakterisierten Posse die Unsittlichkeit, die Schlauheit, die Streberei, und es ist ungemein lustig zu sehen, wie die demoralisierten Stadtmenschen sich erbost zeigen über die Roheit der Dörfler.
L. Thoma.
Der angefaulten bürgerlichen Moralität hält Ludwig Thoma in seiner Komödie „Moral“ (München 1909) einen Spiegel vor. Diese sich mit Sittlichkeit blähende Gesellschaft einer kleinen Residenz, die mehr von Tugend redet als nach ihr handelt, triumphiert zwar scheinbar, da die Kokotte, in deren Kleiderschrank der Erbprinz sich versteckt hatte, als Triumphatorin die Stadt verläßt, deren „gute Gesellschaft“ sie durch ihre Aufzeichnungen in nicht gelinde Aufregung versetzt hatte, – aber das wollte ja der witzige und aufrichtige Dramatiker schildern, wie innerlich morsch diese Tugendhelden sind, die es wagen, im Vertrauen auf ihre eigene Unantastbarkeit die Lasterhaftigkeit des Pöbels zu bekämpfen.
O. E. Hartleben.
Dieselbe Art tritt in manchen Werken Otto Erich Hartlebens hervor. „Die sittliche Forderung“ (Berlin 1897) zeigt lustig, wie der ehrbare Kaufmann Friedrich Stierwald, der seine Jugendgeliebte, die aus Rudolstadt fortgelaufen und eine berühmte Sängerin geworden ist, zur Sittlichkeit bekehren, wie er sie heiraten will und schließlich einfach in ihre Schlingen fällt, ohne sich um die von ihm so eifrig gepredigte Sittlichkeit zu kümmern. Auch in seinen anderen dramatischen Werken, z. B. „Hanna Jagert“, werden ähnliche Motive behandelt.
Heimatskunst.
Unter Heimatskunst verstehen wir hier, daß speziell die einzelnen Landschaften vorgeführt werden, sei es, daß einzelne Personen geradezu im Dialekt sprechen, sei es, daß Vorgänge, die durch ihren Provinzialismus begründet und verständlich sind, Gegenstand der Dichtung bilden. Das zeigt sich bei Hauptmann (Schlesien), bei Sudermann (Ostpreußen), bei Halbe (Deutsch-Polen).
Wienerisches.
Gewiß ist Heimatskunst und Erdgeruch etwas anderes als die Handgreiflichmachung provinzieller Sitten und Unsitten. Der Schlesier wurzelt fest in seiner Heimat, der Berliner, mag er Autochthone oder Eingewanderter sein, liebt es, seinen Wohnsitz zum Schauplatz der Aktion zu machen. Daher mag es gestattet sein, an dieser Stelle das spezifisch Wienerische, das in außerordentlich vielen Lustspielen hervortritt, im Zusammenhang damit zu erwähnen.
Die österreichisch-ungarische Monarchie, speziell Deutsch-Österreich, war seit langer Zeit das klassische Theaterland: das Burgtheater, das lange als die einzige Heimstätte deutscher Kunst galt, hat sich die Traditionen aus seiner besten Zeit zu wahren gewußt. Schauspieler österreichischen Ursprungs sind auf allen Theatern zu finden, die Operette, wie früher die große Oper, hat ihre Hauptkomponisten in Österreich. Aber in neuerer [1635] Zeit hat auch eine österreichische Dichterschule, nicht bloß durch die Masse, sondern durch den inneren Wert ihrer Produktionen, berechtigtes Aufsehen gemacht. Als ihre Hauptvertreter mögen Schnitzler und Bahr gelten.
A. Schnitzler.
Arthur Schnitzlers Domäne ist die Schilderung des mondänen Wiener Lebens der sog. höheren Stände mit seiner liebenswürdigen Leichtfertigkeit und seiner abschreckenden Häßlichkeit. Der ersteren Art gehören die anmutigen „Anatol“, „Liebelei“, der letzteren die Tragikomödie „Das weite Land“ an: die Darstellung einer Gesellschaft, der nichts heilig ist, in der Ehebruch ein Pflichtgebot scheint, wo der einzig wirklich anständige Mensch von dem frivolsten Genußmenschen niedergeknallt wird, der den traurigen Mut besitzt, nach diesem Mord – denn das ist es fast mehr als ein Duell – der nichtsahnenden Mutter die Hand zu reichen und den sog. Heroismus, ein junges Mädchen von sich zu weisen, das sich ihm ergeben hatte und ihn in seine Verbannung begleiten will.
Schnitzler besitzt eine geradezu verblüffende Charakteristik und verfügt über einen blendenden geistreichen Dialog, in dem neben manchen Banalitäten Tiefgedachtes geistreich ausgeführt wird. Auch das „Zwischenspiel“ wird als eine Tragikomödie bezeichnet, ist aber mehr eine bürgerliche Tragödie, der ernste Kampf zweier Künstlernaturen, die sich freigeben möchten und doch voneinander nicht lassen können.
Schnitzler hat außerdem im „Grünen Kakadu“ ein farbenprächtiges Bild der französischen Revolution und in „Professor Bernhardi“ eine die antisemitische Bewegung in wissenschaftlichen Kreisen Österreichs charakteristisch porträtierende Zeichnung gegeben mit ungemein sprechenden, photographisch wirkenden Bildern von Gelehrten und Staatsmännern.
„Der Schleier der Beatrice“ fällt aus diesem Rahmen vollständig heraus. Es ist ein vielgestaltiges, farbenprächtiges Renaissancedrama, das die plötzlich entflammte Liebe der schönen Beatrice Nardi zu dem Dichter Filippo Loschi, beider Tod, die Vereinsamung des Herzogs von Bologna, der Beatrice zu seiner Gattin erkoren und sie gleich verloren hat, schildert. Schöne Verse, gründliche Kenntnis einer sinnesfrohen, kunstschwelgenden, im Angesicht des Todes zum Genuß taumelnden Zeit machen das Werk zu einem reizvollen historischen Gemälde.
H. Bahr
Hermann Bahr ist ein Heimats- und Altersgenosse Schnitzlers; sein 50. Geburtstag ist kürzlich mit allem Pomp gefeiert worden. Mit Schnitzler teilt er das Österreichische, die dramatische Lebendigkeit, das Witzvolle und Geistreiche, nur ist er derber, moderner, vielseitiger und scheut vor keiner Verwegenheit zurück. Bevor er sich dem Drama ausschließlich ergab, hatte er als Journalist, Theater- und Kunstkritiker gewirkt; der Journalton ist für seine Dramen einflußreich geworden, und seine große Kenntnis der Theaterliteratur verführt ihn zu einer Verwertung tausendfältiger Reminiszenzen. Er tischt alte Probleme auf, ohne sie lösen zu wollen, wie etwa im „Star“: die plötzlich erwachte Zuneigung einer Primadonna zu einem kleinen Beamten, in dem sie die „große Liebe“ entzündet zu haben glaubt [1636] und zu dem sie selbst die mächtige Leidenschaft zu besitzen wähnt, vermutlich nur für wenige Monate, bis die Ernüchterung dem Rausch gefolgt ist. Er hat keinen Respekt für historische Größe, und selbst Napoleon, der uns zwar nicht als Heros zu erscheinen braucht, der aber doch niemals ein Narr war, muß sich in „Josephine“ gefallen lassen, als unsinnig Verliebter, als Theaternarr, zu erscheinen. Am amüsantesten ist er, wenn er auf Wiener Boden bleibt und am wahrsten, wenn er seine Personen aus Künstler- und Theaterkreisen wählt, wobei die Vertrauten wohl leicht die Modelle erkennen, nach denen er gearbeitet hat. So versteht er es meisterlich im „Konzert“ den nervösen, hochbegabten, durch Frauenhuld verwöhnten Künstler zu kopieren, der, unter dem Vorgeben von Künstlerreisen Wanderungen ins Reich der freien Liebe unternimmt, der eine reizende, nur allzu nachsichtige Frau durch eine willige, an wirklichen Vorzügen neben seiner Gattin zurückstehende Nebenbuhlerin zu täuschen unternimmt und sich schließlich geduldig und scheinbar freudig ins Ehejoch zurückführen läßt, um sich gewiß bald genug wieder dagegen aufzubäumen.
Diese Wiener Dramatiker mußten uns hier beschäftigen, da von Heimatskunst von der genauen Fixierung und der plastischen Darstellung der Örtlichkeit die Rede war. Als drittes aber ist das zu erwähnen, was ich „Erdgeruch“ nannte.
Erdgeruch.
Was ich aber eigentlich unter „Erdgeruch“ verstehe, das ist das Symbolisieren der Erde als einer geheimnisvollen Macht, die dem Menschen seine Kraft verleiht. Es handelt sich dabei nicht etwa um eine Modernisierung der Sage vom Riesen Antäus, und doch liegt in so manchem Stück der Gedanke, daß der Mensch mit dem Boden fest verwachsen ist, aus dem er stammt, sich von ihm durchaus nicht trennen will, weil er durch den Verlust seiner Heimat sein eigentliches Wesen einbüßt.
K. Schönherr.
Als Beispiel solchen Anklammerns an den Erdboden diene Karl Schönherr. Karl Schönherr wurzelt fest auf der Erde, auf dem Boden seiner österreichischen Heimat. Das Gefühl für die Heimat wurde am echtesten in dem Drama „Glaube und Heimat“ ausgedrückt: die wegen ihres Glaubens Bedrängten wollen lange von ihrer Heimat nicht lassen, bis die Stärke des religiösen Gefühls die Anhänglichkeit an den angestammten Boden besiegt; wundervolle Charaktere alter und junger Protestanten, rauher Krieger, Schergen der öffentlichen Gewalt, innige Betätigung echtesten Familiengefühls machen dieses Drama zu einem ergreifenden Zeitbilde. Desselben Dichters „Erde. Eine Komödie des Lebens“ schildert die Bodenbeständigkeit eines unverwüstlichen Bauern Grutz, der, fast dem Tode nahe, sich wieder kräftigt, eine schreckliche Tyrannei gegen seinen fast 50jährigen Sohn Andres ausübt, der, so gern er auch heiraten möchte, Knecht bleiben muß und gezwungen ist, die Wirtschafterin Mena, obgleich er in innigsten Beziehungen zu ihr gelebt, zu einem alten Erdhofbauer ziehen zu lassen, der mit seinen drei Buben auf einem einsamen Hofe lebt. Das Bauernleben mit seiner Derbheit und Urwüchsigkeit wird hier geschildert, das leidenschaftliche Kleben des alternden Sohnes an der Scholle, die ihm lieb bleibt, wenn sie ihn auch zur Unterwürfigkeit und Unselbständigkeit verdammt.
[1637]
Bayern.
Führt Schönherr nach Österreich, so geleitet Joseph Ruederer nach Bayern. Die Morgenröte, eine Komödie aus dem Fahre 1848 (Berlin 1905), ist ein toller Spaß, den sich der Dichter mit den Zeitereignissen erlaubt. Man weiß nicht, was derber verspottet werden soll: die großsprecherischen Studenten, die hochnäsigen Philister, die salbungsvollen Geistlichen oder die devoten Hofschranzen. Sympathisch werden im Grunde nur zwei Frauen behandelt: eine resolute Bierwirtin, die Geld verdienen und ihre Tochter verheiraten will; ferner Lola Montez, die, ohne irgendwie idealisiert zu werden – sie bleibt vielmehr die skrupellose Hetäre – durch ihren Mut, ihr Selbstbewußtsein und die sieghafte Macht ihrer Schönheit, die sie selbst gegen ihre ingrimmigsten Feinde bewährt und trotz ihres schließlichen Unterganges als Siegerin erscheint.
Recht bedeutsam wird aber dies Anklammern an den Boden und, was damit in Zusammenhang steht, die Feindschaft des an die Schollen Festgewurzelten gegen die, die sich leichtsinnig von der Erde trennten, in folgendem Drama gezeigt:
Mutter Landstraße, das Ende einer Jugend, Schauspiel in 3 Aufzügen von Wilhelm Schmidt-Bonn, Berlin 1904. Eine grausame, aber höchst lebendige und wahre Charakteristik eines Landmannes und seines Sohnes, der vor 10 Jahren aus dem Vaterhaus entwichen, nun mit Frau und Kind ein Asyl bei seinem Vater sucht, aber unbarmherzig von ihm fortgewiesen wird, nachdem er dem Vater den größten Schmerz bereitet hat, selbst zum Diebe geworden ist. Diese Gegenüberstellung zweier rauher Charaktere ist meisterhaft, ebenso die Charaktere der Frauen, einer Cousine Sophie, die, wenn sie auch von Hans, dem Sohne, verlassen worden, ihm die Treue wahrt und der Frau des letzteren, die trotz ihrer Krankheit und Schwäche an dem Geliebten hängt. Dieser Charakterzeichnung ist die Poesie der Landstraße, die durch einen Spielmann repräsentiert wird, etwas künstlich angeflickt.
Bauern.
Mit dieser Behandlung der Erde steht im Zusammenhang das Reden von Bauern. Anzengrubers unvergleichliche Bauernstücke, hauptsächlich aus den 60er und 70er Jahren, in denen menschliches Elend und Glück im Anschluß an die großen politischen und religiösen Fragen so wunderbar, bei aller mitunter vorkommenden Derbheit echt künstlerisch dargetan werden, haben nicht unmittelbare Schule gemacht. Daß aber das moderne Drama bei seiner Bevorzugung der niederen Stände gerade auf die Bauern exemplifizierte, ist selbstverständlich. Auch hier ist wieder Hauptmann zu nennen, dessen Helden in vielen, wenn auch keineswegs in allen Stücken Bauern sind. Aber auch sonst kommen sie vielfach vor. Ein Beispiel möge genügen.
Ein rechtes Bauerndrama mit Bauernroheit und Aberglauben ist E. von Keyserlings „Ein Frühlingsopfer“ (Berlin 1900). Die Hingabe eines unehelichen, von seinem Stiefvater mißhandelten Kindes Orti für seine Mutter. Das Bild dieses halbwüchsigen Mädchens, das die Liebe eines kräftigen Burschen gewonnen zu haben meint, ist rührend, die Art, wie dieser das Mädchen, nachdem er es genossen, verstößt, grausam; unbefriedigend das Milieu, zerstörend, fast wie eine Satire auf den frommen Glauben, der doch verklärt werden soll, wirkt nur der Umstand, daß Orti, durch die Liebe des Burschen [1638] verführt, die Selbstaufopferung für die kranke Mutter aufschiebt oder geradezu bereut und sich ihres Gelübdes erst wieder inne wird, nachdem sie erkannt hat, daß der Bursche nur aus Zeitvertreib mit ihr gespielt hat.
Historische Stücke.
Schnitzlers „Schleier der Beatrice“ war ein historisches Stück. Das naturalistische Drama schien nicht bloß mit den Jambentragödien, sondern mit geschichtlichen Stücken überhaupt aufgeräumt zu haben. Mit dem Parteirufe: Gegenständlichkeit, Beobachtung des wirklichen Lebens, Berücksichtigung der Aufgaben und Ziele der Gegenwart wollte sich die Versenkung in eine ferne, entlegene Zeit nicht vertragen. Als aber Hauptmann mit diesem Dogma durch seinen „Florian Geyer“ brach, verstummte der Parteiruf, und insbesondere ward von Wildenbruch (vgl. oben) eine verschwundene Epoche auch auf der Bühne neu belebt. Die anderen folgten. Und zwar wurde zunächst die Antike aus dem Staube, in den sie verhüllt schien, gezogen. In doppelter Weise. Antike Stücke, selbst Lustspiele, wurden in alter Weise in Masken vorgeführt; andererseits (das Theater der Fünftausend) wurden die großen Tragödien des Sophokles in Räumen, die sonst der Pferdekunst und -dressur galten, dem Publikum vermittelt. Trotz des unheiligen Ortes übten einzelne Trauerspiele des Sophokles unter Reinhardts feinfühliger Leitung einen großen Eindruck aus.
Antike.
Man begnügte sich indeß nicht mit der Wiederbelebung der Antike, sondern suchte auch antike Stoffe neu zu bearbeiten. Auch hierbei kann man, so unwillig die Modernen solches Herbeiziehen auch von sich abwehren, das Beispiel der französischen Dichter: Corneille, Racine, Voltaire und ihrer Nachläufer in Deutschland anführen. Die antiken Helden der Franzosen nämlich sind trotz peinlicher Wahrung der alten Sage moderne Menschen oder Alte mit modernem Einschlag. Sie deklamieren und empfinden wie Menschen des 17. Jahrhunderts. So kann man auch von vielen Versuchen deutscher Dichter, sich in antike Stoffe zu versetzen, sagen, daß hier modernes Empfinden stark, ja ungebührlich hervortritt.
Daher sind manche Versuche, sich mit dem Altertum auseinanderzusetzen, nicht sehr erfreulich.
H. v. Hoffmannsthal.
Hugo v. Hoffmannsthal, für dessen Lyrik ich kaum ein Organ besitze, weil mir seine Willkür in Worten und Metren unverständlich erscheint, hat vieles Lyrische auf das Drama übertragen. Seine kleineren Dramen sind im Grunde nur lyrisch: Stimmungsbilder und Situationen. Er weiß zu rühren, aufzuregen, nicht zu erschüttern. Es ist nur ein Wühlen in Grausamkeiten, wenn er in „Die Frau im Fenster“ die ungetreue, den Liebhaber erwartende Dialora von dem rachsüchtigen riesenstarken Mann ertappen, alle Phasen der Todesfurcht durch ihr Geplapper durchschimmern läßt, bis dann endlich die Ermordung der jungen schönen Sünderin erfolgt. In seinem gewagten Spiel „Der Tod und der Tor“, hat er die Kühnheit, außer dem Tode selbst drei Gestorbene auftreten zu lassen. Hier kann man sehen, wie weit ein Nachahmer hinter dem Schöpfer zurückbleibt. (Auch Hauptmann [1639] hat in „Hanneles Himmelfahrt“ den Tod auftreten lassen, aber er bleibt fast durchaus stumm. Auch er läßt Verstorbene erscheinen, aber in einem Traumbild; dadurch erzielt er erschütternde Wirkungen, während Hofmannsthal durch diese künstliche Belebung der Toten nur wenig schauerlich wirkt, im Grunde den Zuschauer kalt läßt. Bei Hauptmann gestaltet sich die Szene trotz des Traumes zu einem erschütternden Drama, bei Hofmannsthal kommt es im Grunde nicht über eine lyrische Szene, über eine Art Monodrama, hinaus). Der Tor, der nicht an den Tod glaubt, der nichts erlebt, nichts begangen zu haben meint und der nun nach der Erscheinung seiner Mutter, seiner Geliebten, seines Freundes, denen allen er Kummer bereitet und Herzeleid angetan hat, als ein für das Ende Reifgewordener erklärt wird, übrigens liegt in diesem Stück vielleicht schon der Keim zu dem Spiele „Jedermann“, das vor einigen Jahren durch Reinhardt, mit allen erdenklichen Regiekünsten ausgestattet, im Zirkus aufgeführt wurde. Aber dieses sog. moderne Stück, eine Nachdichtung eines alten, besonders in der Reformationszeit beliebten Stoffes ist nichts weniger als eine dichterische Großtat, sondern ein verschwommenes katholisierendes Epos, das nur den Gemeinplatz illustriert, daß beim Nahen des Todes alle sog. guten Freunde den durch die Hippe Bedrohten verlassen, auch die gerechten Taten, daß selbst die Liebe ihre Kraft verliert und daß höchstens die Muttertreue aushält. Selbst der in einigen früheren Stücken für manches Ohr, nicht für das meinige, verführerische Klang Hofmannsthalscher Verse ist hier einer öden, altertümliche Sprechweise nachahmenden, nicht wirklich sprachbildenden Reimerei gewichen.
Von Hofmannsthals Nachbildungen und Nachahmungen der Antike sind besonders zwei hervorzuheben: König Ödipus und Elektra.
Der König Ödipus ist etwas ganz anderes, als der Titel zu verheißen scheint. Denn wie lernen nicht Ödipus in seiner Macht kennen, sondern im Aufsteigen zu dieser Macht, nicht in seinem Walten als König, sondern nur bis zu dem Moment, in welchem er den Thron seines Vaters besteigen soll, seines Vaters, von dem er gar nicht weiß, daß es sein Vater ist. Schöne grandiose Szenen finden sich in dem Stück: die Ermordung des Vaters, der Tod des Knaben des Kreon; erhabene, in ihrer Größe und Düsterheit ergreifende Charaktere wie Antiope, die Mutter der Jokaste. Aber das Ganze ist, um nicht zu sagen verfehlt, jedenfalls absolut unantik, hypermodern, den antiken Vorstellungen entgegengesetzt. Wohl begreifen wir bei der Gewalt der Orakel und dem Vorherrschen der Schicksalsidee, wie Ödipus der allgemeinen Meinung folgt, daß er, der die Sphinx besiegt hat, die Königin heiraten und Herrscher werden soll. Aber wir vermögen einen mit modernem Empfinden ausgestatteten Menschen nicht zu begreifen, wie er, dessen Seele belastet ist mit dem grauen Spruch, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten, fast unmittelbar, nachdem er wiederholt sein Sehnen ausgedrückt hat, unerkannt zu bleiben und zu sterben, sich in gefährliche Abenteuer einläßt und, von der Schönheit der Königin ergriffen, in einen Liebesparoxismus gerät. Wir verstehen es wohl, daß eine Königin des Altertums stumm und gelassen dem Volkswillen sich fügt und den um mehr als 20 Jahre jüngeren Mann, einen kaum ausgereiften Jüngling, zum Gatten nimmt. Aber wir begreifen nicht, wie eine Frau modernen Empfindens, nachdem nicht etwa ein Trauerjahr vergangen ist, sondern noch die ersten Trauerwochen [1640] nicht vorüber sind, von einer hysterischen Liebesglut ergriffen, dem siegreichen Jüngling eine Liebeserklärung macht, daß sie nach den entsetzlichen Erfahrungen, die ihr mit ihrem ersten Kinde zuteil geworden, und nachdem sie ihre spätere Unfruchtbarkeit wiederholt gesegnet hat, plötzlich keinen brennenderen Wunsch kennt, als durch den Geliebten Mutter zu werden, und daß das alternde Weib, obgleich sie bei dem ersten Anschauen des Ödipus bekannte Züge in ihm zu sehen meint, irgendwelche Bedenken nicht aufkommen läßt, die ihr das Verbrechen, das zu begehen sie im Begriffe ist, schaudernd enthüllen würden. Der antike Dichter, der solche furchtbaren Ereignisse erzählt, bedurfte keiner psychologischen Erwägung, weil er eben nur die alte Sage treu wiedergab, der moderne, wenn er einen solchen Stoff wählte, durfte sich nicht mit einem neumodischen Mäntelchen begnügen, sondern mußte die Sage von Grund aus umgestalten. Einzelne Hauptszenen: die Selbstvernichtung der Sphinx sind zwar wortreich, aber weder anschaulich noch verständlich; Kreon ist ein Polterer und Schwätzer, der, wo er reden sollte, schweigt und wo er schweigen müßte, das große Wort führt. Warum er Ödipus zu der Stätte begleitet, wo die Sphinx haust, bleibt völlig unverständlich, fast so unbegreiflich wie der Umstand, daß er, da Ödipus ihm den Dolch aufdrängt, um ihn zu ermorden, die letzte Gelegenheit vorübergehen läßt, sich des unbequemen Nebenbuhlers zu entledigen. Das ist nicht antike Größe und nicht moderne Entsagung, sondern ein wortreiches Gerede, das weder in den Umständen noch in dem Charakter des Handelnden begründet ist.
Ist Jokaste das hysterische Weib, so ist Elektra (in dem gleichnamigen Drama Berlin 1904) das perverse. Auch dieses Drama ist unantik, ohne dadurch modern geworden zu sein. Diese zur Megäre gewordene Tochter, die ihre Mutter, die Mörderin des Vater haßt, den Bruder sehnlich erwartet, als den natürlichen Ausführer der Rache und die, da er nicht erscheint, ja, sogar totgesagt wird, selbst entschlossen ist, zum Morde zu schreiten, würde sie nicht an der Ausführung ihres Planes schließlich durch das späte Erscheinen des Orest gehindert, würde uns verständlich sein, wenn sie stumm hinbrütend, bloß im Momente der höchsten Gereiztheit den Mund öffnet. Aber dieses Schwadronieren mit sich selbst, dieses ironische, von Witz durchzuckte Wortgeplänkel mit ihrer Mutter, die Anklänge von Perversität in ihren schwülen Gesprächen mit der Schwester Chrysothemis und die dunkle Andeutung der eigenen Beflecktheit stören den erhabenen Eindruck, den sie als menschliche Rachegöttin machen müßte. Wohl finden sich auch hier Stellen von elementarer Kraft, Angstschreie von berückender Macht in den Verzweiflungsreden der von Träumen verfolgten Klytämnestra, aber das Ganze gestaltet sich doch nicht zu eine psychologisch begreiflichen Drama. Denn Ägist ist der konventionelle Dutzendbösewicht, dessen Einfluß auf die ältere Frau, die Mutter erwachsener Kinder, kaum zu begreifen ist; gerade hier wäre es die Aufgabe des Dichters gewesen, die dämonische Kraft zu zeigen, die von dem Verführer ausgeht. Die sündige Lust, das Mannstolle in der Seele des Weibes, das, wenn es auch in der Erinnerung an das vollführte Verbrechen schaudert, doch so tief in das erotische Lustgefühl verstrickt ist, daß ihr Schauder und ihre Reue nur eine halbe bleibt, weil sie von dem Lärm des Liebeswahnsinns übertönt ist.
Fortbildung der antiken Sage, feines, psychologisches Erfassen bei manchen einzelnen poetischen Schönheiten verrät Ernst Rosmers Tragödie „Nausikaa“ (Berlin 1906). [1641] Hier wird mit freier Ausgestaltung des Goetheschen Fragments Odysseus an den Hof des Phäakenkönigs geführt, erwirbt sich durch seine Erscheinung und nachdem sein Name bekannt geworden, die begeisterte Freundschaft des Königs Alcinoos, die zum Teil widerwillige Bewunderung der Höflinge und die leidenschaftliche Liebe der Nausikaa. Das Neue in dieser Dichtung ist, daß Odysseus die Liebe des Mädchens erwidert und in die Heiratspläne willigt, sei es aus Sinnlichkeit, sei es aus Bewunderung der Jugend und Schönheit des Mädchens, sei es aus List, um als Mitregent die Möglichkeit der Heimkehr zu erlangen. Durch Nausikaa aber, die ihm von Gattin und Sohn spricht, von deren Gefährdung sie gehört hat, und von ihr unterstützt, besteigt er ein Schiff, das ihn zu den Seinen führen soll. Bleibt nun auch, um mit Goethe zu reden, dem guten Kinde nichts übrig, als den Tod zu wählen, so wird doch das Ganze eine wahrhaft menschliche Tragödie in schönstem Ebenmaß, in der höchstens der willkürliche Wechsel von fünffüßigen Jamben und Hexametern stört, in der aber einzelne Charaktere, der des Mädchens, der Mutter, des Bruders, des Odysseus, des blinden Sängers in wundervoller Weise gezeichnet sind.
Mittelalter.
Nicht bloß in das griechisch-römische Altertum, sondern auch in die biblische Zeit suchte man sich zu versenken. Aber diese Bearbeitungen des Saul- oder Susannastoffes und ähnlichen haben fast ebenso geringe Bedeutung wie die dramatischen Verklärungen Christi, unter denen außer dem schon erwähnten „Johannes“ von Sudermann höchstens J. V. Widmanns gedanken- und formschöne Dichtung „Der Heilige und die Tiere“ eine Erwähnung verdient.
Interessanter als die Bearbeitungen des Altertums sind die des Mittelalters. Hierbei bemerkt man aber, so sehr auch die Beschäftigung mit historischen Stoffen an das Zeitalter der Romantik gemahnt, keine romantischen Gedanken. Denn es handelt sich nicht, wie es in jener Epoche Sitte war, um eine Verklärung der abgestorbenen Zeit, auch nicht um eine Idealisierung des Katholizismus, sondern häufig wenigstens um eine dichterische Wiederbelebung einer längst verflossenen Epoche.
Ernst Hardt bildet die altgermanischen Sagen in neuartiger Weise um. Seine „Gudrun“ (Leipzig, Insel-Verlag) ist eine gewaltige Dichtung. Das Bedeutsame in ihr ist außer der prächtigen Darstellung kraftvoller Menschen das Moderne der Heldin, wie sie nicht bloß Königin im Lumpenkleide bleibt, sondern wie sie, körperlich durch den Dolchstich der Gerlinde, der Mutter des Normannenkönigs Hartmut, getroffen, seelisch zugrunde geht an dem Zwiespalt zwischen der Treue zu dem ihr verlobten Dänenherrscher Herwig und der Bewunderung, der aufkeimenden Leidenschaft zu Hartmut, der sie geraubt und zu entehren versucht hatte. Die Gestalten des alten Wate, des Königs Hettel, der Gerlinde und der Frauen Gudruns sind mit wunderbarer Kraft geschildert: grauser Humor steht neben wilder Leidenschaft, Treue, die bis zum Tode verharrt, neben der Liebe, die alle Schrecknisse überwindet. In der Zeichnung der Frauen bekundet Hardt wahre Meisterschaft: Gerlinde in ihrem Mutterstolz, Gudrun in ihrer Mischung von Heroine und Bachantin, Sindgurd in ihrer Perversität, Ortrun, die Tochter Gerlindes, in ihrer Lieblichkeit und Unschuld sind Charaktere, die unauslöschlich im Gedächtnis haften.
Und ebenso ist „Tantris (umgekehrt für „Tristan“) der Narr“ ein Stück echtester [1642] Poesie. Manchmal das Grausame der Geschichte von Tristan und Isolde noch übertrumpfend, vielleicht auch mit dem jähen Abschied Tristans verstimmend, quälend durch das Entsetzliche, daß die Schönste der Schönen den Krüppeln zur Beute gegeben werden soll, bleibt es doch das Werk eines Dichters. Der Charakter des alten, von greisenhafter Wollust verzehrten Marke, des liebessiechen Pagen, der Höflinge und Getreuen Tristans und Isoldes selbst sind wundervoll gezeichnet: die Beschreibung von Isoldes Schönheit durch Tristan, das Liebesgeflüster des innig verbundenen und doch zur Trennung verdammten Paares sind Perlen, wert, im Geschmeide einer Dichterkrone zu glänzen.
Während unter Hardts Händen die alten Sagen neues Leben gewinnen, erscheinen sie bei Eduard Stucken wie tote Schemen: es ist Impotenz, die mit Kraft prahlt. Sein „Lanzelot“, Drama in 5 Akten, Berlin 1909, eines der drei Gralstücke, ist ein widerliches, in knabenhafter Prosa – die äußerlich als Vers erscheint – abgefaßtes Gerede. Lanzelot, ein Schwächling, der weder zur Tugend noch zum Laster Kraft genug besitzt, Artus, ein Trottel, der nach Gebühr zum Hahnrei wird, und Ginevar, eine Hexe, der man nicht gönnt, daß die schöne Elaine ihrer Brunst zum Opfer fällt. Die Verbindung dieser ganz gewöhnlichen Sinnenlust mit der Gralsgeschichte ist ohne jede künstlerische Einheit.
Dem Mittelalter gehört Wilhelm v. Scholz, der Jude von Konstanz, an. In vier Aufzügen mit einem Nachspiel, ein gutes Gemälde aus dem 15. Jahrhundert, in dem der tragische Ausgang eines getauften jüdischen Arztes Nasson und seiner Geliebten Bellet, sowie der Untergang der Juden in Konstanz dargestellt wird. Das Psychologische ist nicht recht getroffen: wieso dieser Jude, der zum Christentum übergegangen ist, aber innerlich doch Jude bleibt, seinen ehemaligen Glaubensgenossen Rettung bringt und sich dadurch Verderben bereitet, ist nicht tief genug begründet.
Die übrigen Epochen der Geschichte werden nicht allzu häufig behandelt.
Neuere Zeit.
Ein Beispiel bietet Heinrich Lilienfein in seinem Schauspiel „Der Stier von Olivera“, in der eine Episode aus dem französisch-spanischen Kriege spannend erzählt wird: der Liebeswahnsinn eines französischen Generals zu einer jungen Spanierin und die Bewunderung für Napoleon, die schließlich über die senile Erotik triumphiert, werden geschickt zu einem belebten Ganzen verbunden.
Napoleon.
Von Persönlichkeiten der neueren Geschichte ist eigentlich nur die Riesengestalt Napoleons oft vorgeführt worden (um nur einige zu nennen: R. Voß, Hans Biesedahl, Hans Müller), ohne daß es irgendeinem gelang, dem gewaltigen, verwerflichen, für Deutschland so verhängnisvollen Großen dichterisch völlig gerecht zu werden.
Renaissance.
Gegenüber der Ungunst, welche den meisten geschichtlichen Epochen zuteil wurde, ist auf die Gunst hinzuweisen, welche die Renaissancezeit erfuhr. Ich glaube zwar nicht, daß in späteren Epochen die Periode, die wir jetzt durchschreiten, an innerer Bedeutung der Renaissancezeit gleichgestellt werden wird; [1643] wohl aber ist zu konstatieren, daß, wie die Wissenschaft sich der Ergründung jener vielgestaltigen Epoche zuwendet, so auch die Dichter mit den Helden, freilich wohl mehr mit den Frauen aus jenen Tagen, sympathisieren. Schon bei Fulda und Schnitzler waren Renaissancedramen zu erwähnen. Hier sei noch ein anderes aufgeführt.
Ein echtes Renaissancedrama ist Thomas Manns Fiorenza (Berlin 1906). Es spielt am 8. April 1492, am Todestage Lorenzos von Medici, und führt den Sterbenden seine Söhne, die literarischen Freunde, seine Geliebte Fiore und den großen Mönch Savonarola vor. Es verrät ein wenig gar zu sehr die Lektüre Burckhardts und anderer Renaissancedarsteller, weiß aber die Persönlichkeiten Lorenzos und Savonarolas in lebendiger Form vorzuführen und ein spannendes Bild des Lebens und Treibens der blühenden Stadt zu geben. Die Erfindung der Fiore ist des Dichters Eigentum und höchst packend ist gerade der Umstand, daß Fiore es war, die, durch ihre frühere Abweisung des Savonarola, diesen seiner finsteren Richtung zugetrieben haben soll.
Des ferneren wurde Cesare Borgia häufig Hauptperson von Dramen: K. Bleibtreu, R. Lothar, J. V. Widmann; oder Lorenzino von Medici: W. Weigand. Und Pietro Aretino (Eduard Strauß). Auch Giordano Bruno reizte, wie schon in früheren Zeiten, manche Bearbeiter.
So sehr nun auch dieses Schweifen in vergangenen Zeiten und in fernen Ländern – denn auch Indien wurde der Schauplatz mancher Dramen – schon eine Umkehr des Naturalismus bedeutete, der eben nur das vorzuführen liebte, was man wirklich zu sehen vermochte, so zeigt sich eine solche Umwandlung noch deutlicher in dem Schaffen mancher schon erwähnten Dichter und in den tastenden Versuchen vieler anderer.
Mystizismus und Symbolismus.
An die Stelle des Naturalismus trat die neue Romantik, die sich in Mystizismus und Symbolismus gefiel. Zeugnisse dafür sind: „Hannele“ und „Die versunkene Glocke“ (Hauptmann), „Morituri“ und „Die drei Reiherfedern“ (Sudermann). Zu wirklich großen Leistungen hat es diese Richtung, die sich in der Lyrik und im Roman stärker zeigt als im Drama, nicht gebracht.
Märchen.
Nur könnte man sagen, daß nach Fuldas Beispiel (Talisman) das Märchen wieder zu Ehren kam.
Das sog. „Märchen“ Wieland von Karl Vollmüller (Leipzig 1911) ist trotz aller Anspielungen auf Wieland den Schmied keine Spur vom Märchen. Es ist vielmehr eine witzige, stark übertreibende Satire, eine Schilderung des ersten Luftschiffes, dessen Geldgeber und Erfinder zugrunde geht, Darstellung der unglücklichsten Familien- und Gesellschaftsverhältnisse und Schilderung eines diabolischen deutschen Klavierlehrers, der ein Genie, ein Hansnarr und ein Schürzenjäger in einer Person ist. Fast alle Personen sind karikiert, aber mit überlegenem Hohn gezeichnet.
Ein wirkliches Märchen, sinnig erdacht, poetisch gestaltet, gab Karl Schönherr: „Das Königreich“: der Teufel als Geiger verzaubert einen Fürsten und seinen Hof; diese werden gerettet, der Teufel selbst veredelt durch die Reinheit eines jungen Paares, [1644] das freilich als letztes Opfer den Verführungskünsten des Diabolo anheimfällt. Das alles so schön unwahrscheinlich wie im echten Märchen und doch auf die Stufe höherer Vermenschlichung gehoben; auch für Gruseln und Humor wird reichlich gesorgt.
Die hauptsächliche Wiederbelebung des Märchens verdankt man Elsa Bernstein (E. Rosmer) „Die Königskinder“ (1895). Sie sind ein frei erfundenes Märchen voll kräftiger Phantasie und dichterischer Feinheit, mit dem keine der vielen Nachahmungen, die bekannte Figuren wie Blaubart, Dornröschen, Melusine vorführen, irgendwie zu vergleichen sind.
So sehr nun aber auch das Stoffliche in der Geschichte reizte und das Phantastische im Märchen lockte, – die eigentliche Domäne des modernen Dramatikers bleibt doch die Gegenwart, das reale Leben.
Stände.
Zunächst dienen die Vertreter der verschiedenen Stände zu poetischer Betrachtung und Verwertung. Es ist in der obigen Betrachtung häufig darauf hingewiesen worden, wie Männer und Frauen, wie Kinder beiderlei Geschlechts in ihren Gefühlserregungen beobachtet und analysiert wurden. Im älteren Theater konnte man sich kaum ein Stück ohne Liebe denken; ein solches ausschließliches Wertlegen auf die Liebe liegt dem Modernen fern. Trotzdem steht die Frau immer im Vordergrunde, von allem anderen abgesehen schon aus dem Grunde, da auch die Modernen den Reiz, den schöne Toiletten und pikante Gesichter auf die Zuschauer ausüben, nicht entbehren mögen. Nur wenige Dichter sind absichtlich oder unabsichtlich auf das Kunst- oder vielmehr Virtuosenstück verfallen – denn ein solches Verfahren hat mit wirklicher Kunst kaum etwas zu tun – Frauenrollen ganz auszulassen. So erscheint z. B. in Schnitzlers „Professor Bernhardt“ nur eine weibliche Person, eine Krankenschwester. Und ihre Tätigkeit vollzieht sich mehr hinter als auf der Bühne.
Frauen.
Fragt man sich nun, in welcher Weise die Vertreter der verschiedenen Geschlechter ausgestaltet werden, so dürfte sich schwerlich eine Gleichheit in der Charakteristik finden. Die koketten und lüsternen, die emanzipierten und blaustrümpfigen, die tätig häuslichen und die in Vergnügungen schwelgenden Frauen werden abwechselnd gezeichnet; gemeinsam ist den Dichtern nur, daß der schon von der Renaissance gepredigte Grundsatz, das Weib sei dem Manne gleich, – jene Zeit bezog es freilich in höherem Grade auf Bildung als auf sittliche Gleichberechtigung – allgemeine Gültigkeit erlangt hat. Während das französische Sittenstück für die Frau nur das Recht auf Ehebruch reklamierte als Bestrafung für die Leichtfertigkeit der Männer, die ein Hauen über die Stränge als ein Privilegium ihres Herrenrechtes beanspruchten, lehrt die Moderne das innere Recht, den auf Grund der entwickelten Wesenheit der Frau ihr zukommenden Anspruch, sich „auszuleben“, sich „selbst zu setzen“. Daher hat sie weder Platz für die Ingénues, jenes fast unentbehrliche Requisit aus der Väter Tagen: die lebensunkundigen, im Traumleben der Phantasie herumirrenden Naiven, noch für die schnippischen Kammerzofen, noch für die würdigen Duennas, die ehedem die schützende Leibwache unerfahrener Mädchen und Frauen bildeten, noch für die Tugenddrachen, [1645] Schwiegermütter, ältliche, mit den Lebensfreuden fertige, weil enttäuschte oder vielerfahrene Jungfrauen, die, weil sie selbst mit dem Dasein abgeschlossen haben, ihre Aufgabe darin erblicken, anderen das Leben zu vergällen.
Kinder.
Auch bei den Kindern ist das Hervordrängen der Kindlichkeit völlig vergessen oder mindestens in den Hintergrund geschoben. Wie fern stehen der neuen Zeit die munteren zimperlichen Backfische oder die „süßen“ Kinder vergangener Tage. Sprößlinge, die sich zaghaft wider den rauhen Befehl des Vaters aufbäumen oder die eindringlich zärtlichen Mahnungen der Mutter durch Liebkosungen und Schmeicheleien zunichte zu machen suchen, sind kaum denkbar; sie sind verdrängt durch selbstbewußte, ihres Ichs innegewordene, auf die Kraft ihrer Individualität pochende Lebewesen; an die Stelle der Pietät ist das Hochhalten des Selbstbestimmungsrechts getreten, das seine Begründung in dem frechen Wort und Gedanken findet, daß die Kinder ja keinen Anteil an dem Umstand besitzen, in die Welt gesetzt worden zu sein.
Männer.
Unter den Männern gibt es wohl nach wie vor Herren und Schwächlinge, Sinnenmenschen und Tugendbolde, aber der Typus der Herrenmenschen, wie er sich früher in der selbstherrlichen Verfügung über das Weib äußerte, ist verbannt und nur insofern geblieben, als der Mann so gut wie die Frau sich selbst den Weg bestimmt, zum Teil gegen die Gesetze und gewiß gegen die Konvention. Auffallend häufig begegnet auf dem Theater wie in der modernen Gesellschaft überhaupt der verwöhnte Jüngling oder der ältere Mann, der mit den Manieren der Jugend prahlt, der Beschäftigungslose, der von dem Gelde seiner Eltern oder von Schulden ein kostspieliges Dasein führt. Auch das ist freilich kein Novum – die Romantik kannte diesen Typus freilich mehr im Roman als im Drama unter der Bezeichnung des „schönen Leichtsinns“. Nur ein allerdings bedeutsamer Wesensunterschied besteht: die Helden der Romantik gleichen mitunter den Riesen, die Bäume zu entwurzeln vermögen, die der neusten Zeit sind Dekadenten. Sie tragen sichtlich alle Spuren des Verfalls an sich: sie wissen nichts von der Vergangenheit, denn der Genuß, den sie erschöpft haben, widert sie an. Die Gegenwart ist ihnen langweilig und die Zukunft trostlos.
Offiziere.
Während in früheren Zeiten solche Hohlköpfe vielfach dem Adel entnommen waren, hat infolge des Wandels der Anschauung, der Demokratisierung der Gesinnung diese Bevorzugung des Adligen gegen die Bürgerkanaille aufgehört; junge und alte Lebemänner entstammen bürgerlichen Kreisen. Geblieben ist vielleicht nur die Vorliebe für den Offiziersstand; nur wird der schneidige Offizier nicht mehr ausschließlich als Abgott der jungen Mädchen hingestellt – wie etwa noch in Kadelburgs „Husarenfieber“ –, sondern in ernsten Konflikt mit der Standesehre und mit dem bürgerlichen Pflichtgefühl gebracht (Hartlebens „Rosenmontag“, Sudermanns „Morituri“, Beyerleins „Zapfenstreich“, eines der erfolgreichsten, meistnachgeahmten und auch ins Ausland importierten Stücke unserer Epoche).
[1646]
Kaufleute.
In der bürgerlichen Gesellschaft tritt der Kaufmann gegen früher zurück, obgleich es an billigen Späßen gegen die Kommerzienräte ebensowenig fehlt wie an der Vorführung des Großkaufmanns, zu dem Björnso „Fallissement“ die willkommene Vorlage geschaffen hatte. Daß nun Vertreter verschiedener Stände bürgerlicher Berufe auf die Bühne gebracht werden, ist nichts Neues. Man braucht nur an Ifflands „Spieler“ und „Jäger“ oder, um erlauchtere Beispiele vorzuführen, an Otto Ludwigs „Erbförster“ oder an den Tischler in Hebbels „Maria Magdalena“ zu erinnern.
Handwerker.
Der Unterschied besteht allerdings in zwei Momenten: dem einen, daß in den früheren Epochen der Stand etwas Zufälliges war, der nur einige äußere Lebensbedingungen bestimmte, dem anderen, daß sozialdemokratische Anschauungen darauf hingewirkt haben, gerade den Handwerkern einen breiteren Raum zu gewähren (die markantesten Typen hat hier Hauptmann in den „Webern“ geschaffen). Neu dürfte sein, daß die Diebe eine fast liebevolle Berücksichtigung finden, so daß Hauptmanns „Biberpelz“ geradezu eine Diebeskomödie heißt.
Gelehrte.
Neben dem Handels- und Handwerkerstande tritt der Gelehrtenstand hervor. Die „zerstreuten Professoren“ der Fliegenden Blätter sind glücklicherweise verschwunden. Auch der Gelehrte hat sich modernisiert: er ist entweder der elegante Weltmann oder der ernste Forscher geworden.
Schullehrer.
Beliebter als die Professoren wurden die Schullehrer. Max Dreyer ( „Der Probekandidat“, 1899) bahnte ihnen mit gutem Humor den Weg) die Lehrerkonferenz, jenes gefürchtete Gespenst, vor der die Schüler von ehemals und von heute zittern, erregte allgemeines Interesse, und die Mischung von pädagogischen Auseinandersetzungen und Lebenserfahrungen erfreute das Publikum, das sich gern durch Kindheitserinnerungen erfrischen läßt. Einen nicht minderen Erfolg erlangte Otto Ernst: Flachsmann als Erzieher (1901); einen noch weit größeren: Traumulus von Arno Holz und Oskar Jerschke (1902). Die Misch von idealer Auffassung und Schulfuchserei, weltmännischem Treiben und Pedanterie, der Kampf der Schuljugend gegen die Autorität und die nicht immer heilsame Bevormundung in diesen Stücken rief humoristische, mitunter rührende Wirkungen hervor; die Lehrer erschienen teils als junge forsche Herren mit Reserveleutnantston und -manieren, teils als schwächliche Idealisten und verhärtete Schulmeister, bis es Wedekind (Frühlings Erwachen) beliebte, sie auch als Trottel dem allgemeinen Gelächter preiszugeben.
Schauspieler.
Selten wurden die Künstler bedacht (vgl. Hauptmann und Sudermann und wenige Nachtreter), häufiger die Bohème: Holz: Sozialaristokraten (1896) und Ernst von Wolzogen: Lumpengesindel (1891), gelegentlich auch das Theater.
Jos. Ruederer hat z. B. ein derbes Schmierenstück geschrieben: „Hinterm [1647] Zaun“, ein Stilleben, München 1908, in dem er sehr anschaulich das Elend einer in ein Dorf verschlagenen Komödiantentruppe darstellt. Freilich wie diese muntere Episode mit dem Leben eines verlotterten Hofschauspielerpaares verknüpft wird, ist ebenso gesucht, wie die Schilderung dieser gefeierten Künstler, die dabei hohle Menschen sind, äußerst konventionell.
Juden.
Wie zu Ifflands Zeiten kommen auch jetzt in den Dramen häufig Judenrollen vor. Dies geschieht entweder in historischen Stücken (vgl. Wilhelm v. Scholz) oder in Episodenrollen (die Person eines Schänkers im „Frühlingsopfer“ von Keyserling). Nicht selten sind die Handelnden Juden, ohne daß von ihrem Judentum viel die Rede ist.
Georg Hirschfeld zeichnet statt der sonst üblichen Momentbilder ein Lebensschicksal („Agnes Jordan“). Diese Gegenüberstellung einer tiefen weiblichen Natur und eines bildungsunfähigen, seinem Bauch und tierischen Gelüsten untertänigen Manne, der absolut unfähig ist, das Wesen der Frau, die in ihren Kindern eine neue Zukunft lebt, zu erkennen, ist ebenso anschaulich, wie die Darlegung des Kontrastes eines abgelebten Zeitraumes mit einem neuen, der in die Erscheinung tritt. Aber auch die Judenfrage selbst wird behandelt. Sehr eindrucksvoll geschieht dies in Schnitzlers „Professor Bernhardi“ (vgl. oben). Theodor Herzl und M. Nordau haben, der erstere in „Das neue Ghetto“ (1898), der letztere in „Doktor Kohn“ (1898) von zionistischen Anschauungen ausgehend, den Kampf des Deutschtums und Judentums poetisch zu vergegenwärtigen gesucht, aber mit geringer Kraft und einer höchst schwächlichen Lösung, denn der Untergang eines Juden, der nicht in ein Korps eintreten kann oder nicht zu einer Professur gelangt, ist kein Ausgang dieses gewaltigen Kampfes. Auch Hermann Sudermann hat die Frage gestreift. Im „Sturmgesellen Sokrates“ deutet er den Gegensatz zwischen dem deutsch-national gesinnten und dem der jungen Generation angehörigen Israeliten an, und in „Johannes“ gibt er ein trotz Kraft und Pracht gleich verunglücktes, sowohl historisch wie psychologisch falsches Bild der Zeit Jesu und ihrer Kämpfe.
Das erfolgreichste dieser Judenstücke ist gewiß K. Rößlers „Die fünf Frankfurter“ (1912). Es ist eine nicht üble Schilderung der fünf Söhne des Hauses Rothschild, wobei die hübsche Schilderung der alten Mutter der Barone, der Verehrung, die sie bei den Söhnen genießt und die starke Liebe eines Mädchens aus diesem Hause hervorzuheben sind, die sich nicht an einen Herzog verschachern läßt, sondern ihre Neigung zu einem ihrer Onkel durch einen Liebesbund betätigt. Schon früher (1905) hatte derselbe Dichter ein anderes Drama geschrieben: „Der reiche Jüngling“. Es ist nicht leicht zu begreifen, warum dieses gedankenreiche Drama, das nur etwas zu viel geben will, aber von Leben sprüht, so wenig Beachtung gefunden hat. Der Tod des Nathanael ist sein Gegenstand, des Jünglings, der als Sohn des reichen Wucherers Asarjah gilt, aber wahrscheinlich von Salome in Ehebruch mit dem Griechen Spintharos geboren ist, der, von Christi Lehre berührt, sein Gut verschenken will, seine schöne Schwägerin Ruth, die sich ihm aufdrängt, preisgibt und den Tod leidet. Der Gegensatz des Griechentums als der frohen Weltreligion und des Judentums, das als starre Gesetzverkündung aufgefaßt wird, [1648] der gewaltige Eindruck der Lehre Christi, der zwar selbst nicht auftritt, aber dessen Wirkung man überall verspürt, und die Gestalt des Judas, der zwar als Bote Christi erscheint, aber sich schon hier als Verräter ankündigt, sind ungemein ausdrucksvoll ausgeprägt.
Nur weniges Neueste, freilich keineswegs Erfreuliche, mag zum Schluß zusammengestellt werden.
Grotesken.
Zu welchen Grotesken moderne Dichter ihre Zuflucht nehmen, ehrt Carl Sternheim: „Die Hose“ (Berlin 1911). Eine ganz lustige Idee, daß die hübsche Frau Luise Moske eine Hose auf der Straße verliert, wird zu manchen komischen Effekten benutzt: ein Barbier und ein Franzose, beide lüsterne Beobachter dieses Vorganges, melden sich als Mieter, kommen aber nicht recht auf ihre Kosten. Herr Moske ist das gutgezeichnete Urbild eines beschränkten Philisters, Fräulein Deuter das einer alten begehrlichen Jungfer, aber der eine Mieter ist ein unerträglicher, geradezu unmöglicher Schwätzer, dessen Schmeißen mit Geld – er erlegt den jährlichen Mietzins, nach dem Wohnen von wenigen Tagen – ebenso unbegreiflich ist, wie seine plötzliche Begeisterung für eine sich romantisch gebärdende Gefallene, die er, von einem Bombenrausch benebelt, antrifft. Sternheim hat den Ungeschmack nach Molières Vorbild, eines seiner früheren Werte zu zitieren; er möge bedenken, daß man durch Nachahmung der Mätzchen eines Meisters kein Molière wird. In dem Lustspiel „Die Kassette“ desselben Schriftstellers glaubt man sich trotz der glänzenden Idee − eine Erbtante vermacht ihr Vermögen der Kirche, während die Verwandten sich als die gewissen Besitzer wähnen – in einer Gesellschaft von Verrückten zu befinden: so outriert sprechen, so seltsam handeln alle vorkommenden Personen.
Das Grotesk-Satirische in Verbindung mit dem Tragischen, gesundes Liebesgefühl vereint mit krankhaft erotischem, ist in ganz eigener Art in Herbert Eulenbergs, eines ungewöhnlich fein nachempfindenden und Vergangenes poetisch nachgestaltenden Essayisten, „Belinde“, ein Liebesstück in 5 Aufzügen (Leipzig 1913) gemischt. Belinde, mit Eugen verheiratet, hat sich nach jahrelanger Abwesenheit des Gatten mit dem jungen Roger verlobt. Beide lieben sich glühend, da kommt Eugen zurück, reklamiert seine Rechte, verabredet mit seinem Nebenbuhler ein amerikanisches Duell, in dem dieser den Tod suchen muß, kann aber seine Gattin, die zwar ehemalige Liebe für den Gatten wiedererwachen fühlt oder zu fühlen vorgibt, nicht wieder erlangen, da diese sich tötet; als Ausblick wird auch Eugens Tod gezeigt, der Belinde noch immer mit wahnsinniger Leidenschaft liebt. Dieser tragische, halb wirkliche, halb romantische Stoff wird durch die Figur des Bruders Hyazint, „eines Menschen von letztem Adel“, eines hysterisch veranlagten Morphinisten, eines tollen Verschwenders und übergeschnappten ätherischen Liebhabers erheitert, der wähnt, ein geistiges Liebesverhältnis mit einer Malerin zu unterhalten, die er nie gesehen hat, in Wirklichkeit mit einem verwachsenen jüdischen Halsabschneider verkehrt, der den tollen Menschen ausbeutet. Diese seltsame Mischung der Arten: eines wahrhaft poetischen Liebesspiels und eines tollen, kaum glaublich gemachten Spuks verdirbt die Wirkung des bedeutsamen Werkes, wenn es sie auch nicht ganz aufzuheben vermag.
[1649]
Frank Wedekind.
Der Dramatiker, der vielleicht jetzt am meisten von sich reden macht, ist Frank Wedekind. Über seine schauspielerischen Ambitionen kann man füglich schweigen, da diese Übersicht die eigentliche Schauspielkunst nur zu streifen hat. Aber von seinen Theaterstücken muß die Rede sein. Gewiß besitzt er außerordentlich viel Geist, Humor, Ironie und einen ausgeprägten Sinn für starke Bühnenwirkungen; aber was er damit schafft, wird häufig verdorben durch krasse Willkür, gewollte Absonderlichkeit und ein schleuderhaftes Hinwerfen von Einfällen. Er darf wahrlich nicht als Motto für seine Leistungen das Wort wählen, das er einmal einen Künstler – zufällig im Ernst – sprechen läßt: „Man kann nicht mehr tun, als es mit der Kunst so gewissenhaft wie möglich nehmen.“
„Der Kammersänger“, den der Verfasser selbst einmal, nicht ganz mit Recht, als kraft- und saftlose Posse bezeichnet, ist eine Folge von Szenen, in denen die Gewalt, die ein Künstler durch seine Leidenschaftlichkeit und Intelligenz auf Männer und Frauen ausübt, charakteristisch, wenn auch ziemlich roh, dargestellt wird. Das schon mehrfach erwähnte Stück „Frühlings Erwachen“ ist eine aufregende, scharf beobachtete, freilich mit zahllosen Willkürlichkeiten und Roheiten verbrämte, durch mannigfache Widerlichkeiten abschreckende Zeichnung des Erwachens des erotischen Triebes.
Was aber seine Hauptstücke betrifft, so muß der Kritiker ehrlich bekennen – selbst wenn er von dem Autor als „der normale Leser“, d. h. als ein erbärmlicher, die Größe der neuen Richtung nicht begreifender Philister verdammt wird –, daß er diese Stücke einfach nicht begreift und kaum verstehen kann, daß ein Dichter von Sinn und Geschmack neun Jahre, von 1892–1901, daran zugebracht hat. Es sind die Tragödien „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“. Gewiß kann es auch ein poetischer Vorwurf sein, die Geschichte einer Dirne zu schreiben, ohne daß sie schließlich mit dem Mantel der Heiligkeit bedeckt wird oder durch Bußfertigkeit sich aus dem Pfuhl der Gemeinheit zu befreien sucht. Verbrechertragödien, selbst wenn die Übeltäter in ihrer Verstocktheit verharren und in ihrer Sünden Maienblüte dahingerafft werden, können den gewaltigsten Eindruck auf Leser und Zuschauer machen, auf Menschen von Gefühl und Empfindung, auf Leute von Sinn und Geschmack. Wenn der Autor gegen diese polemisiert und eine seiner Personen, unter denen er sich selbst zu begreifen scheint, sagen läßt: „Um wieder auf die Fährte einer großen gewaltigen Kunst zu gelangen, müßten wir uns möglichst viel unter Menschen bewegen, die nie in ihrem Leben ein Buch gelesen haben, denen die einfachsten animalischen Instinkte bei ihren Handlungen maßgebend sind“, so ist dies vielleicht eine Rechtfertigung seines Planes, aber eine ebenso geschmacklose wie unzutreffende. Diese Geschichte einer Buhlerin, die, als Kind schon mit allen Makeln behaftet, vermöge ihrer Schönheit und Grazie bei den Männern solches Entzücken hervorruft, daß sie hintereinander drei Ehen schließt: mit einem alten Medizinalrat, der, da er sie auf Untreue ertappt, vom Schlage getroffen wird, mit einem Maler, der, da er ihr Gebahren nicht mehr mit ansehen kann, sich erschießt, und mit einem Schriftsteller, der sie lanciert hat, und den sie schließlich selbst niederknallt; wie sie dann, nachdem sie aus dem Gefängnis entflohen, in anrüchigster Gesellschaft lebt, zuerst mit einem Artisten zusammenhaust, dann mit einem Theaterdirektor, dem Sohn des von der Buhlerin ermordeten [1650] Schriftstellers, die endlich im schrecklichsten Elend sich allerlei Gesindel von der Straße aus in ihre Spelunke holt (auch das wird im einzelnen beschrieben), bis sie schließlich von einem dieser Rohlinge ermordet wird, – diese widerwärtige, verbuhlte, gefühllose Dirne löst in der Seele des Lesers und gewiß auch des Beschauers kein Grauen aus, kein tragisches Entsetzen, sondern nur Widerwillen und Ekel. Widerwärtige, nicht bloß jeder Moral, sondern jedem künstlerischen Geschmack hohnsprechenden Szenen sind wirr aneinandergehäuft: geile Männer und Frauen, perverse Dirnen, Abenteurer und Mädchenhändler kommen auf die Szene; die Sprache einzelner Personen, namentlich die des Artisten und die des Alten, der als Vater der Heldin das Buch durchzieht, aber dies schwerlich ist, wenn er nicht etwa mit seiner Tochter in unnatürlichem Verhältnisse steht, ist so gassenmäßig und bordellartig, daß man nicht bloß etwa im Namen der Kunst und des Anstandes, sondern im Namen echter dramatischer Kunst gegen solche angeblich theatralischen Produkte entschiedene Verwahrung einlegen muß.
Den Gipfel ersteigt er jedenfalls in dem sog. Mysterium „Franziska“ (München 1913). Was dieser tolle Spuk mit Satiren auf das Versicherungswesen, auf Politik, Literatur, Frauenemanzipation und Herrenmoral bedeuten soll, verstehe ich absolut nicht. Perversitäten aller Art, Geistererscheinungen usw. machen das Stück weder verständlicher noch anmutiger. Es bleibt unbegreiflich, daß sich ein Theater zur Aufführung eines solch völlig undramatischen und kraftlosen Machwerks herbeiläßt, in dem zwar viel Geist neben grenzenloser Willkür waltet, von einer Handlung aber eigentlich gar nicht gesprochen wird, sondern nur zusammenhanglose Bilder mit fratzenhaften Gestalten an dem Leser und dem Zuschauer vorbeirauschen.
Schluß.
Es ist ein literaturgeschichtlicher Irrtum, zu wähnen, jede neue Richtung müsse etwas bedeuten, jedes dramatische Produkt sei ernst zu nehmen. Wie Ludwig Thoma, der gewiß kein Zurückgebliebener ist, auf die Frage: „Welchen Eindruck machen auf Sie die Schöpfungen der neusten Kunstrichtung?“ ganz neuerdings die Antwort erteilte: „Keinen“. Und auf die weitere Frage: „Glauben Sie, daß in diesen Dichtungen die Zukunft der deutschen Kunst liegt?“ klipp und klar erwiederte „Nein“, so darf auch der literarische Kritiker sich gegen die Symbolisten, ihr Gefolge und ihre Verwandten gegen die „Neuesten, die sich erdreisten“, einfach ablehnend verhalten; er darf gestehen, daß diese Schöpfungen auf ihn keinen Eindruck machen, und daß er in ihnen keine Zukunft der deutschen Schauspielkunst sehen kann. Vielleicht gibt die Zukunft dem Kritiker unrecht und den Strebenden recht, dann schade um die Zukunft!