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machte und ihm eine Tochter andichtete, so mußte man ihn abweisen, weil er ein scheinbar gründliches und doch ungründliches, ein farbenreiches und doch mit schlechten Farben gemaltes Bild aus einer herrlichen Zeit entworfen hatte.

„Die Rabensteinerin“, Wildenbruchs letztes Stück (1907), bedeutet keinen Fortschritt und keine Wandlung. Echtes dramatisches Leben, mit viel Sentimentalität: Liebe auf den ersten Blick, Ideen des 20. Jahrhunderts (Teilung des Arbeitsertrags) in das 16. Jahrhundert übertragen, in einer Sprache, die archaistisch sein soll und geradezu greulich ist. Bersabe, die Tochter des Ritters von Rabenstein, rettet dem jungen Welser von Augsburg das Leben, tötet seine Braut Ursula Melber, von der sie meint, daß sie, von dem jungen Welser aufgefordert, ihren Untergang, die Zerstörung der väterlichen Burg mit ansehn soll, und wird, auf den Einspruch Welsers, vom Henkertod gerettet und zieht mit ihm als seine Gemahlin nach Venezuela.

Revolution der Literatur.

Eine „Revolution der Literatur“, so verkündete Karl Bleibtreu 1886, sei im Anzuge. Er verdammte die gesamte bestehende dramatische Literatur, hauptsächlich Paul Lindau, Oskar Blumenthal und ihr Gefolge, nahm aber auch Heyse nicht aus und erkannte höchstens Wildenbruch Gnade zu. Er verlangte, mächtig angeregt und stark beeinflußt durch die neue Bewegung, wie sie in Frankreich, den nordischen Ländern und in Rußland zutage getreten war, von dem Drama Beschäftigung mit den Zeitfragen, Realität in der Liebe und als Krönung die wahre Romantik, welche in den Erscheinungsformen des Lebens schlummere. Er und die Seinen, unter denen besonders die Brüder Hart zu nennen sind, betrachteten als das höchste Ideal nicht mehr die Antike, sondern die Moderne. An die Genossen, die in einem Vereine zusammentraten, schlossen sich Otto Brahm und Paul Schlenther an, die zuerst als Journalisten und Kritiker tätig gewesen waren. Der Naturalismus wurde die Parole der jungen Schar; die „Freie Bühne“ in Berlin, März 1889, die Szene, auf der die ersten naturalistischen Dramen in Erscheinung traten (dieser Berliner Schöpfung reihten sich dann ähnliche, gleichfalls in Berlin, spätere in München und Wien an). Freilich erlangte „Papa Hamlet“, das gemeinsame Werk zweier Genossen, die aus Freunden später Feinde wurden, Arno Holz und Johannes Schlaf, nur eine ephemäre Bedeutung.

Gerh. Hauptmann.

Unter den übrigen zur Aufführung gebrachten Dramen wäre neben den nordischen und französischen die von Gerhart Hauptmann die einschneidendsten. Sie riefen eine wahre Umwälzung hervor. Sein „Vor Sonnenaufgang“ (20. Oktober 1889) bedeutet den Anfang einer neuen Epoche. Auch heute, nachdem nun fast ein Vierteljahrhundert seit der mächtigen Erregung verrauscht ist, die das Stück in beiden Lagern hervorrief, muß man die Kraft der Charakterzeichnung, das Naturalistische in der Schilderung der dekadenten Potatorenfamilie bewundern und doch das allzu Widrige in der Darstellung einzelner Männer und Frauen, die Roheit der Sprache, das Grausige einzelner Vorgänge abschreckend finden.

Das „Friedensfest“, gleichfalls das Bild einer verfallenen Familie vorführend,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1626. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/497&oldid=- (Version vom 20.8.2021)