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Autor: Karl Krebs
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Titel: Deutsche Musik
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aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band, Elftes Buch, S. 77–90
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[1609]
Deutsche Musik
Von Professor Dr. Karl Krebs, Berlin


Innerhalb eines Abschnitts von 25 Jahren die Entwicklung einer Kunst aufdecken zu wollen, wäre Vermessenheit, denn die Kunst wächst langsam, und wer dies Wachstum nur über eine so kurze Zeitspanne weg verfolgt, der läuft Gefahr, Zufälliges und Nebensächliches für Notwendiges und Wesentliches zu halten. Aber Symptome lassen sich auffassen, Erscheinungen beschreiben, und hieraus dürfen mit Vorsicht allgemeine Schlüsse gezogen werden auf die Richtung oder die Richtungen, nach denen hin eine Bewegung stattfindet.

Drei Künstler sind es, die der Musik zwischen 1888 und 1913 die Wege gewiesen haben: Franz Liszt, Richard Wagner und Johannes Brahms. Liszt und Wagner waren bereits tot, Brahms lebte noch, hatte aber sein Werk im wesentlichen abgeschlossen und zeigte in dem, was er noch veröffentlichte, kaum neue Seiten. War nun einerseits ein großer Teil der künstlerischen Arbeit in diesen 25 Jahren darauf gerichtet, das von jenen Großen und Anderen, zum Beispiel von dem „nachgeborenen Jeanpaulianer“ (wie ihn Kretzschmar treffend nennt) Anton Bruckner Geschaffene recht zu verstehen und zu verbreiten, sowohl durch zahlreiche Veröffentlichungen persönlicher Dokumente und exegetischer Schriften, wie durch gesteigerte Aufführungen, so zeigten andererseits die Schöpfungen jüngerer Komponisten deutlich, wie stark die Einwirkungen von Liszt oder Wagner oder Brahms auf sie gewesen waren.

R. Wagner.

Den weitaus mächtigsten Einfluß auf das gesamte Musikleben hat Richard Wagner ausgeübt. Wie seine Bühnenwerke die Operntheater beherrschen, wie der gedankenreiche Schriftsteller, der als Kämpfer für seine Kunst und seine Ideale das scharf geschliffene Schwert der Rede mit äußerster Wucht zu schwingen weiß, sich ganze Heerhaufen von Parteigängern gewonnen hat, so ist seine Art des musikalischen Ausdrucks in alle Zweige der Musik gedrungen: die Symphonie weist sie geradeso gut auf, wie das Lied, am meisten naturgemäß die Oper. Sie hat aber auch unter der Nachfolge Wagners am empfindlichsten gelitten. Denn es war allmählich zum Dogma geworden, daß die Form, die Richard Wagner der Oper gegeben hatte, die jetzt einzig mögliche Lösung des ganzen Problems und die Spitze der Entwicklung dieser Gattung sei; man verkannte das durchaus Persönliche im Schaffen Wagners und wollte die von ihm für sich ausgebildete Besonderheit der Operngestaltung zu etwas Absolutem erheben. Diese Anschauung hat schwer auf die Produktion gedrückt und die freie Entfaltung der Kräfte arg behindert.

[1610] Denn Wagners Gewandung wollte anderen nicht passen. Eine Reihe von Tonsetzern, die besinnungslos Wagners Tonsprache nachahmten, kann hier außer Betracht bleiben, da ihre Erzeugnisse ohne Lebenskraft schnell dahingestorben sind. Andere freilich suchten Wagner im Geist nachzufolgen, und unter ihnen finden sich Künstler von beachtenswerter Eigenart, wie Max Schillings, Hans Pfitzner, Engelbert Humperdinck, Ludwig Thuille und Richard Strauß, der aber wieder eine Sonderstellung einnimmt.

M. Schillings.

Was allen Opern dieser Komponisten das Gepräge gibt, ist der Umstand, daß das Orchester den Singstimmen nicht nur ebenbürtig zur Seite steht, sondern daß es ihnen vorgezogen wird: es ist geradeso wie bei Wagner, Hauptausdrucksorgan geworden, es kommentiert alles, was auf der Bühne geschieht und was von den handelnden Personen gesungen wird, in seiner Weise, durchleuchtet es, verbindet entfernt liegende Ereignisse und wird so zum eigentlichen Fundament des ganzen Dramas. Die „Ingwelde“ (1894) von Max Schillings zeigt diese Eigenschaften in besonders hohem Grade, ja bisweilen ist das Orchestergewebe so dicht, daß es die Stimmen der Sänger allzu fest umschlingt und zu ersticken droht. Aber das Stück hat Charakter. Die vom Grafen Ferdinand Sporck verfaßte Dichtung spielt in germanischer Vorzeit; sie bietet nicht recht deutlich gezeichnete Charaktere, und eine Handlung, die reichlich kompliziert ist. Das bedeutet in der Oper schon einen Nachteil, denn weil das Wort innerhalb der Musik selten ganz deutlich zu verstehen ist, müssen die Grundlinien des Dramas so einfach sein, daß das Ganze beinahe schon als Pantomime verständlich wird. Mehr als der Dichter charakterisiert der Musiker, dessen Erfindung zwar nicht sehr vollblütig ist, dessen ernste Gestaltung und Stilreinheit jedoch imponieren. Einmal, am Schluß des zweiten Aktes, wo Bran das Beil zur Rache für Klaufes Tod schleift, reckt sich Schillings sogar zu überraschender Kraft und Größe auf. Noch zwei weitere dramatische Werke verdanken wir ihm: den „Pfeifertag“ (1899), wiederum vom Grafen Sporck, und den „Moloch“, den Emil Gerhäuser nach Hebels Fragment verfolgt hatte. Das wesentlichere ist der Pfeifertag, zumal es Schillings von einer neuen Seite zeigt, als Humoristen, dem freilich die Heiterkeit etwas fremd zu Gesicht steht. Zwei Handlungen sind hier durcheinander geschoben: eine etwas possenhaft gewendete Liebesintrige und die Kämpfe der „Jungen“ gegen die „Alten“ in der Pfeiferzunft, die dem Spiel den kulturhistorisch sozialen Hintergrund geben. Auch hier ist Schillings über seinen Dichter hinweggeschritten. Seine Musik ist gefühlsmäßiger, tiefer und edler als der ziemlich grob zugeschnittene Stoff, aber sie hat, trotz des rauschenden Orchestergewandes, ziemlich zarte Linien. So viel Bedeutendes und Reizvolles der Musiker und der Teil des Publikums, der gewohnt ist, nach innen zu hören, in ihr findet, so wenig stark ist ihre Wirkung auf die größere Masse, und das liegt im letzten Grunde doch wohl daran, daß die Natur des Komponisten sich dem Tragischen und dem Ernst williger erschließt als dieser etwas gezwungenen Lustigkeit.

H. Pfitzner.

Hans Pfitzner erregte 1895 berechtigtes Aufsehen mit seinem Musikdrama „Der arme Heinrich“ (James Grun). Die Farben erscheinen [1611] zunächst dunkel, grau in grau schattiert, wer jedoch näher hinsieht, merkt bald, welche reiche Skala hier moduliert wird. Wie bei Schillings war die Herkunft dieser Musik von Wagner unverkennbar, aber auch hier war es kein Nachahmen, sondern der Versuch eines Neuschöpfens auf Grund Wagnerscher Prinzipien. Und aus den Tönen modelliert sich dem Hörer bald die Persönlichkeit des Komponisten heraus, den er lieben muß ob seiner schwärmerischen Innigkeit und Gefühlswahrhaftigkeit, und der als Vierundzwanzigjähriger durch seine erstaunliche Satztechnik und Beherrschung der Orchestermittel überraschte. Den dicken Instrumentalsatz nahm man in Kauf, denn ein Künstler von so jungen Jahren mußte ja am Ende noch abklären. Auf das nächste Bühnenwerk wartete aber die Welt mit einiger Spannung. 1901 erschien es: „Die Rose vom Liebesgarten“. Die Grunsche Dichtung scheint mir ziemlich verfehlt zu sein, eine hypersensitive Unklarheit, die der Musik allerdings viele Angriffspunkte bot. Leider habe ich das Stück, das in München eine ganze Anzahl von Aufführungen erlebt hat, nicht auf der Bühne sehen können, und es nach der Lektüre zu beurteilen, scheint mir doch ziemlich gewagt. Seitdem hat der Künstler geschwiegen, soweit es die Bühne betrifft. Vielleicht überrascht er uns noch ein zweites Mal.

E. Humperdinck.

Einen ungewöhnlichen Erfolg, einen der größten, die ein deutsches Opernwerk der neueren Zeit überhaupt erlebt hat, fand „Hänsel und Gretel“ (1893) von Engelbert Humperdinck. Verschiedene Umstände hatten, von den Qualitäten des Werkes abgesehen, diesen Erfolg herbeiführen helfen. Das war einmal die Freude am Stoff und dann die Freude am Kontrast. Zu lange hatten sich die Operndichter an Übermenschen, Rittern, Halbgöttern und Göttern begeistert – des war das Publikum überdrüssig, es verlangte nach Neuem. Dies erleichterte einigermaßen das Einbrechen des sogenannten italienischen Verismo in Deutschland, denn hier kam der Alltag zu seinem Recht: was das moderne Theaterstück liebte, das Herumwühlen im sozialen Elend, das blutige Drama in der Tiefe des Volks, das war hier auch in der Oper zu sehen, eingehüllt in eine Musik, die nicht, wie die Wagnersche, psychologisch, sondern rein malerisch, rein dekorativ war, von leuchtenden Farben, grell und lodernd wie ein Feuerbrand, und das Ganze oft von schlagender Kürze. Das berauschte, das riß hin. Der Name Verismo für diese Kunst ist natürlich ganz verkehrt, denn nicht die innere künstlerische Wahrheit war größer geworden, sondern die äußere Wahrscheinlichkeit, nicht die Natur war tiefer erfaßt, sondern die Natürlichkeit besser getroffen.

Andererseits kam nun Humperdinck mit „Hänsel und Gretel“. Das war auch etwas ganz Ungewohntes und Neues, ein holdes, deutsches Märchen, völlig naiv, ohne alles Pathos vorgetragen, von allbekannten, schlichten Kinderliedern in köstlichster musikalischer Fassung durchzogen. Die Mittel der Darstellung waren dabei höchst modern, Wagnersche Technik, Wagnersches Orchester – und doch alles der vollkommenste Gegensatz zu Wagners hochgespannten Dramen. Dadurch wurde das Publikum gefangen genommen und festgehalten.

Es hätte das natürlich nicht geschehen können, wenn nicht die Oper außerdem noch ihre Werte gehabt hätte. Was Humperdinck zu der Dichtung Adelhaid Wettes hinzugetan [1612] hat, ist mehr als die glückliche Auswahl der Volkslieder. Er sieht den ganzen Stoff mit den Augen des musikalischen Dichters an und behandelt ihn demgemäß, so daß wirklicher Märchenduft über der Oper liegt. Das Orchester ist sehr polyphon behandelt, es lebt und webt von motivischem Wesen, aber alles ist doch klar und leicht faßlich: Polyphonie tritt hier in ihrer größten Volkstümlichkeit auf und das Volkstümliche seiner höchsten Verfeinerung. Manchmal gewinnt der Instrumentalpart wohl zu sehr die Oberhand und ist zu dick, wie in der Ouvertüre, die nicht recht zu dem anspruchslosen Märchenspiel passen will und besonders in dem langen Nachspiel hinter dem Abendgebet der Kinder, wo alle Schrecken der Blechbläser erbarmungslos auf den Zuhörer eindringen und das zarte Bild förmlich aus dem Rahmen brechen. Als Höhepunkt des Werkes ist mir immer die Waldszene vorher erschienen: die verirrten Kinder spielen erst sorglos und spotten dem Kuckuck nach, aber allmählich erfaßt sie die Angst und das Grauen vor der Einsamkeit. Hier ist die Naturstimmung mit wirklicher poetischer Kraft aufgefaßt und musikalisch verdichtet; es strömt wie ein Hauch von Waldesfrische und Wiesenduft aus den Tönen und legt sich dem Hörer lind um Herz und Sinne.

Von einigen Kleinigkeiten, die Humperdinck nach diesem Erstling unter seinen Opern schrieb, kann abgesehen werden, auch von seiner „Heirat wider Willen“, die viele reizvolle und feine Einzelheiten enthält, als ganzes aber keine große Wirkung ausgeübt hat, erst die „Königskinder“ (von Ernst Rosmer) verdienen wieder eine nähere Betrachtung. Ursprünglich war das Stück ein gesprochenes Drama mit eingestreuten melodramatische Stellen und Musikstücken (1898), das der Komponist 1908 zu einer Oper umgearbeitet hat. Die Dichtung schlage ich nicht hoch an: sie ist ein Märchen, aber kein naives wie „Hänsel und Gretel“, sondern ein gebildetes, ein literarisches, und mit allerlei Anspielungen, Symbolen und Tiefsinnigkeiten durchsetzt, denen man aber doch nicht so recht auf den Grund zu kommen vermag. Um so mehr Werte birgt die Musik. Das Orchester klingt wundervoll, es strotzt von Melodie, und aus dem höchst durchsichtigen Ganzen löse sich oft einzelne Instrumente heraus, die irgendeine Szene wie mit farbigen Seidenfäden charakteristisch umspinnen. Will man Humperdincks Schaffen im allgemeinen kennzeichnen, so könnte man sagen, daß Liebenswürdigkeit sein hervorstechendster Zug sei, wobei man nur nicht die landläufige Bedeutung dieses Wortes sich vorstellen, sondern an Eigenschaften denken muß, die einen stillen, in sich gekehrten Künstler würdig machen, geliebt zu werden.

L. Thuille.

Eine höchst reizvolle Oper, die gleichfalls einen Märchenstoff behandelt, tritt uns in Ludwig Thuilles „Lobetanz“ entgegen (1898). Der leider sehr jung gestorbene hochbegabte Komponist hat ihm noch ein zweites Wert „Gugeline“ (1901) folgen lassen, das indessen die Vorzüge seines ersten nicht erreicht. „Lobetanz“ ist die Geschichte von der Prinzessin, die durch das süße Spiel eines Geigers vor Sehnsucht erkrankt und an demselben Spiel vor Liebe wieder gesundet, eine Geschichte, die Otto Julius Bierbaum leider in sehr gezierter Sprache und in etwas süßlicher Manier vorträgt. Der Musiker aber hat auf dieser Textgrundlage ein Meisterstücklein errichtet. Sein Ausdruck ist sehr gewählt, etwas gedämpft, die Arbeit überaus subtil, die Melodieerfindung wie der Wuchs des Ganzen mehr schmächtig als kraftvoll. Eine Szene aber ist [1613] darin, die in der ganzen neueren Opernliteratur nicht ihresgleichen hat: der Schluß des zweiten Aktes, wo Lobetanz seine Mitgefangenen durch die grausige Ballade vom Zecher und dem Tod entsetzt und wo dann die gewaltigen Bläserakkorde des Marsches zum Richtplatz erklingen. Darin steckt wirkliche Kraft und Größe.

E. d’Albert.

Die komische Oper ist durch Eugen d’Albert um ein anmutiges Stück bereichert worden, das „Die Abreise“ heißt und auf einem überaus harmlosen Text von Steigentesch-Sporck beruht (1898). Wer von der Diskrepanz absieht, die zwischen der Unschuld des Librettos und dem großen, reich bewegten Orchester besteht, das teils von den „Meistersingern“, teils vom „Barbier von Bagdad“ abstammt, kann an der flotten, geistreichen, mit vielen amüsanten Einzelheiten ausgestatteten Musik seine helle Freude haben. Trotz vieler anderen Versuche hat es d’Albert nur noch einmal zu einem wirklichen Opernerfolg gebracht: mit „Tiefland“ (1903). Der Text von Rudolf Lothar (nach einem spanischen Stoff) ist hieran stark beteiligt, denn er hat Eigenschaften, die der Menge gefallen, eine gewisse brutale Energie in der einfachen Handlung, die einen leisen Beigeschmack von Kolportageroman hat und eine knappe, kräftige Fassung. D’Albert ist hier vielleicht noch mehr Eklektiker als in andern Werken, aber er wählt und sichtet mit Geschmack und großer Kenntnis der szenischen Wirkung und ist so des Eindrucks, den er hervorrufen will, sicher.

R. Strauß.

Mit Richard Straußens Opern ist es ein eigen Ding. Dieser bewegliche Geist hat in den letzten Jahren fast nur Bühnenmusik komponiert, dennoch halte ich ihn nicht für einen eigentlich dramatischen Komponisten in dem Sinne, wie Mozart oder Richard Wagner es gewesen sind, denn er vermag sich nicht so vollständig mit der Vorstellung eines dramatischen Vorwurfs zu erfüllen und unbeirrt aus dieser Vorstellung herauszuschaffen, wie jene es taten, ja, er bleibt in dieser Hinsicht selbst hinter weniger genialischen Künstlern, etwa Schillings oder Pfitzner zurück. Man hat bei ihm eher den Eindruck, daß er neben dem Drama steht und eine mehr oder minder geistreiche Musik dazu macht. Nach seinen Anfängen hätte man allerdings annehmen können, daß er auf diesem Gebiete einmal ganz Hohes erreichen würde, denn sein „Guntram“ (1894), zu dem er auch die Dichtung verfaßt hatte, nimmt einen gewaltigen Anlauf. Daß das Werk als ganzes mißglückt ist, und daß es über Weimar hinaus kaum Verbreitung gefunden hat, tut bei dieser Schätzung nichts zur Sache, denn es gibt Niederlagen, die ehrenvoller sind als Siege.

Der Mißerfolg dieses ersten Bühnenwerkes scheint Strauß verstimmt zu haben, denn er gab während der nächsten Jahre seinem Schaffen wieder eine andere Richtung, aber 1901 sehen wir ihn aufs neue mit einer Oper hervortreten, mit der einaktigen „Feuersnot“, von Ernst von Wolzogen. Der Stoff ist eine ziemlich zotige Schnurre, die selbst für einen Einakter etwas zu dünn erscheint. Aber dieser Grundton wird nicht einmal ungestört beibehalten, denn ganz aus heiterm Himmel lassen die Autoren mitten im Stück eine Strafpredigt an die Münchener los, weil sie Richard Wagner und seinen legitimen künstlerischen Erben Richard Strauß nicht gut genug behandelt haben. Die Musik heftet sich nun im wesentlichen an das einzelne, nicht allein der Szene, sondern [1614] sogar des Wortes. Soll derlei spielerisches Musizieren nicht zum Schaden werden, so muß es sich in einer höheren Einheit auflösen und vom Strom empfundener Melodie getragen werden. Dies geschieht aber hier nicht. Der Tonsatz schillert in allen Farben, spielt mit tausend Witzen, Aufmerksamkeit und Verstand werden fortwährend gefesselt, aber das Herz empfängt wenig Nahrung, und schließlich geht man mit einem wahren Hunger nach Gefühlstönen davon.

Dies Verhältnis bleibt auch in Straußens andern Opernwerken das Typische: ein Herantreten von außen an die Sache, ein vielfach sehr anziehendes Schildern und Ausmalen, die Entfaltung der stupendesten aufs feinste durchgebildeten Orchestertechnik und dabei der Mangel einer wirklich großen Erfindung, die ja doch immer nur im Melodischen wurzeln kann. Es ist möglich, daß Strauß sich der Art seiner Begabung ganz bewußt ist, und daß er sich gerade deshalb in den letzten Jahren fast ausschließlich der Oper zugewandt hat: da das innere Erlebnis in ihm nicht mehr stark genug ist, um reine Orchesterwerke zu schaffen, so hält er sich an Operndichtungen, an denen seine Phantasie sich emporranken kann, wie der Efeu am Gemäuer.

1905 folgte der „Feuersnot“ Oskar Wildes „Salome“, und zwar hatte Strauß das Stück, das doch als gesprochenes Drama gedacht und in seiner Wirkung genau berechnet war, und das in dieser Form auch einen feinen, kränklichen Reiz ausübte, unter Auslassung ganz weniger Stellen mit Haut und Haaren in Musik gesetzt. Das geht nun nicht gut an, denn was dem Lied recht ist, braucht dem Drama noch längst nicht billig zu sein, das Format entscheidet hier. Und in der Tat hat die szenische Wirkung der „Salome“ durch Straußens Musik nach meiner Meinung keine Erhöhung erfahren, sondern es ist ihr Abbruch geschehen.

Die Wahl gerade dieses Stoffes kann befremden, denn eine Dichtung, welche die perversen Lüste einer hysterischen Dirne schildert, wird unter den Kunstwerken eines großen Kulturvolkes niemals die Stellung einnehmen, wie eine, die uns etwa Hans Sachsens edle Gestalt vor Augen stellt oder Parsifals Erweckung aus Tumbheit zu wissenden Mitleid schildert. Strauß mußte sich sagen, daß seine „Salome“ zwar vielleicht einen großen augenblicklichen Erfolg haben, daß die Dauer ihrer Schätzung aber durch den Inhalt stark verkürzt werden würde. Dieser Erfolg ist denn auch nicht ausgeblieben. Das reichfarbige Gewand, das Strauß der Salome umgehängt hat, übt auf viele einen geradezu blendenden und berauschenden Einfluß aus, und das Stück ist denn auch in den überschwenglichsten Ausdrücken gepriesen worden. Mich hat das Werk zwar interessiert, wie alles, was Strauß schreibt, sonst aber ganz kühl gelassen; denn es widerstrebt mir aufs äußerste, daß die einzige Kunst, die uns das Gefühl in reinster Form darbietet, die einzige, die Gefühl überhaupt gestalten kann, dazu mißbraucht wird, im wesentlichen illustrativ zu wirken. Hierzu kommt, daß der Komponist da, wo er empfindungsmäßig wirken will oder Melodien singt, sich auf ein Niveau begibt, wo man ihn lieber nicht gesehen hätte.

Ernster, einheitlicher, geschlossener als die „Salome“ ist die „Elektra“ (1909), bei der Strauß dasselbe Verfahren, wie bei der Salome eingeschlagen hat, indem er Hugo von Hofmannsthals Paraphrase der Sophokleischen Tragödie ohne weiteres mit Musik überzog. Das Ganze macht durch den Willen zur Vertiefung einen weit sympathischeren [1615] Eindruck als die „Salome“, aber die ungeheuren Übertreibungen, das fast unablässige, die Singstimme verschlingende Orchestergetöse, die grellen Dissonanzen, der ganze Naturalismus, der Geräusche in aller Treue durch Instrumente nachahmen möchte, wirken doch schließlich abstoßend; dafür können einige Stellen, wo Strauß durch die von ihm angewandten Mittel sehr merkwürdige, in dieser Art noch nie dagewesene Wirkungen erzielt, wie bei Orestes Heimkehr und ganz besonders in der Szene, wo Orest ins Haus tritt, um Klytämnestra zu erschlagen, während Elektra vor der Türe in irrer Erregung auf und ab läuft, nicht entschädigen.

Wesentlich anders geartet ist der „Rosenkavalier“ (1911). Hugo von Hofmannsthal hat hier eine altwiener Geschichte mit mancherlei Bedenklichkeiten zu einer Komödie mit Musik dramatisiert, in einem Stil, der zwischen Wiener Mundart und Schriftdeutsch hin und her schwankt. Als Stück finde ich diese Komödie nicht gelungen, der dürftige Vorwurf ist mit Mühe zu drei Akten ausgereckt, ermüdet durch manche Längen, und stößt durch manche Roheiten ab, aber die Musik ist in vieler Beziehung merkwürdig. Sie darf vielleicht als das stilistisch Bunteste bezeichnet werden, was Strauß überhaupt geschrieben hat, denn vom Wiener Walzer, der durch besondere harmonische Zutaten gewürzt wird, bis zum sentimentalen Lied und glänzenden Orchesterstück enthält das Werk alle erdenklichen Ausdrucksmittel, die aber nicht, wie z. B. in der Zauberflöte, unter einen gemeinschaftlichen Generalnenner gebracht sind, sondern getrennt nebeneinanderstehen. Trotzdem finden sich gerade in diesem Werk Momente, aus denen man schließen könnte, daß Strauß aus dem allzu Artistischen herauslenken möchte in die Gebiete gefühlsmäßiger Musik, und einiges ist da, das zum Besten gehört, was er überhaupt geschaffen hat, wie das von Übermut strudelnde Vorspiel zum dritten Akt, ein wahres orchestrales Prachtstück und die unerhört neue und eigenartige Musik beim Auftritt des Rosenkavaliers.

Daß die Erwartungen, die man an den „Rosenkavalier“ geknüpft hatte, sich nicht ohne weiteres erfüllen sollten, zeigte Strauß in seiner „Ariadne auf Naxos“ (1912). Der unermüdliche Experimentator arbeitet hier mit einem ziemlich kleinen Orchester, dem auch Harmonium und Klavier einverleibt sind und erzielt damit eine Reihe sehr eigentümlicher Klangeffekte. Leider ist die Oper ein Anhang zu Hugo von Hofmannsthals Bearbeitung des Molièreschen „Der Bürger als Edelmann“ und von diesem Stück, das die Aufmerksamkeit des Publikums ungebührlich abspannt, nicht zu trennen. So wird es sehr zweifelhaft, ob die „Ariadne“ ihr Leben lange mag fristen können.

Aber, wie schon bemerkt, liegt Straußens eigentliche Stärke nicht auf dem Gebiet der Oper, ebensowenig wie die von Hugo Wolf, der sich ja auch am Bühnenwerk versucht und uns in seinem „Corregidor“ (1896) (Dichtung von Rosa Mayreder nach Alarcon) ein köstliches, heiteres Spiel geschenkt hat. Wie Wolf im Lied wurzelt, so Strauß im Orchesterstück: die „symphonische Dichtung“ ist seine eigentliche Domäne, oder vielmehr, sie ist es gewesen, bis seine Technik so ungeheuer gewachsen war, daß sein Besitz an seelischem Gut ihr nicht mehr genug Manifestationsobjekte bot.

Strauß war in seiner Jugend ein begeisterter Verehrer der Brahmsschen Kunst, wurde dann aber, hauptsächlich durch den Einfluß Alexander Ritters, in das Fahrwasser [1616] Liszts und Wagners getrieben, deren Prinzipien er in durchaus persönlicher Weise verfolgte. Gleich Wagner war auch Liszt davon überzeugt, daß Beethoven in der Form der Symphonie alles ausgesprochen hätte, was überhaupt in ihr gesagt werden könne. Daß dies ein verhängnisvoller Irrtum war, der in den Köpfen jüngerer Musiker viel Unheil angerichtet hat, bedarf kaum des Nachweises. Aber während Wagner nun weiter schloß, daß infolgedessen die reine Instrumentalmusik aufzugeben sei, versuchte Liszt das Problem auf andere Weise zu lösen, indem er poetische Vorstellungen zum Ausgangspunkt seiner Schöpfungen machte; das poetische Programm, das häufig aus einer Dichtung gezogen war, wurde gewissermaßen zum Gerüst des Instrumentalstückes, zum formgebenden Prinzip, das den Umriß und alles einzelne der Gestaltung bedingte. Damit hatte die Instrumentalmusik das Gebiet ihres eigenen Materials verlassen und sich mit einer anderen Kunst verbunden, wie in der Oper und dem Lied, nur daß in der symphonischen Dichtung jene andere Kunst nicht tatsächlich mitvorhanden war, sondern durch die Phantasie des Zuhörers immerfort ergänzt werden mußte. Darin lag eine Fehlerquelle, die in der Praxis denn auch tatsächlich der Anlaß zu vielen Mißbildungen geworden ist.

Liszt also war es, dem Richard Strauß als Instrumentalmusiker nachfolgte, aber überholte er ihn bald beträchtlich, weil er die größere musikalische Potenz und den feineren Sinn für Form besaß. Auf dem Gebiet der symphonischen Dichtung hat Strauß nicht allein die echtesten künstlerischen Erfolge gehabt, sondern überhaupt das Bedeutendste geschaffen, was wir darin besitzen, und zwar ist das nach meiner Meinung „Don Juan“ (1889), „Tod und Verklärung“ (1890) und „Till Eulenspiegels lustige Streiche“ (1895).

Im Don Juan zeigt sich vielleicht die reichste spezifisch musikalische Erfindung, dazu ist die Gruppierung, die Verteilung von Licht und Schatten so klar und übersichtlich, daß das Werk ohne weiteres einleuchtet. „Tod und Verklärung“ beruht nicht, wie die meisten symphonischen Dichtungen von Liszt auf einem literarischen Werk, das man kennen muß, um die Musik zu verstehen, sondern der Vorwurf ist etwas allgemein Menschliches, man braucht nur die Organe der künstlerischen Empfängnis zu öffnen, um unmittelbar ergriffen zu werden, und diese Eigenschaft hat dem Werk eine so große Zahl von Verehrern geschaffen. Der „Till Eulenspiegel“ wendet sich wieder an einen kleineren Kreis an Zuhörer von musikalischer Natur. Die Musik erreicht hier einen bisher unbekannten Grad von Deutlichkeit im Schildern und Darstellen – ob das ihr Ziel sei kann, soll nicht untersucht werden – sie wird fast zur Rede und Bildkunst, ist zudem so witzig und geistvoll, daß man nicht anstehen wird, dies Stück als genial zu bezeichnen.

In „Also sprach Zarathustra“ (1895) weicht Strauß von dem gangbaren Weg schon beträchtlich ab, denn Nietzsches Dichtung, welche die Entwicklung einer Weltanschauung schildert, eignet sich gar nicht zu einer Umdeutung in Musik. Die Musik kann keine Gedanken ausdrücken, diese kommen für sie nur insoweit in Betracht, als sie unter Umständen Gefühlserreger sein können, und die Darstellung psychologischer Prozesse von der Ausdehnung und Verschiedenheit, wie sie uns im Zarathustra entgegentreten, gehört für sie, bei der Vieldeutigkeit selbst der ausdrucksvollsten Tonfolge, ebenfalls zu Unmöglichkeit. „Ein Heldenleben“ (1899), eine Selbstglorifizierung des Komponisten, [1617] wirkt keinesfalls überzeugender, aber die „Sinfonia domestica“ (1904) kehrt wieder auf den Standpunkt zurück, den Strauß bei der Abfassung seiner ersten symphonischen Dichtungen einnahm, nur daß das Tongewirk hier um vieles dichter und schwerer faßlich ist.

Der symphonischen Dichtung haben sich nun eine große Anzahl von Tonsetzern zugewandt. Sie zu nennen oder gar zu untersuchen, wie weit jedem sein Vorhaben geglückt ist oder nicht, würde zwecklos sein, denn in diesen wenigen Blättern können allgemeine Richtungen an typischen Beispielen aufgezeigt werden. In neuerer Zeit hat die Beschäftigung mit der Programmmusik entschieden nachgelassen, selbst Künstler, die sich ihr früher zugewendet hatten, kehren wieder zur Symphonie oder zum programmlosen, nur allgemein gekennzeichneten Instrumentalstück (Stimmungsbild) zurück.

M. Reger.

Zu denen, die niemals an die Lehre von der Erschöpfung der Instrumentalmusik durch Beethoven geglaubt hatten, gehörte auch Johannes Brahms, und in seiner Gefolgschaft befindet sich eine Reihe Künstler, die ebenfalls der Anschauung huldigen, daß sich in jeder beliebigen Form immer wieder Neues sagen lasse, sofern dem Komponisten nur Neues einfällt. Von Brahms ist auch Max Reger ausgegangen, der jedoch ebenso starke Einwirkungen von Bach her empfangen hat und sich allmählich eine eigene, etwas exzentrische musikalische Sprache ausbildete, die in ruheloser Harmonik schwelgt und dem Ohr bisweilen das Äußerste an dissonanten Fortschreitungen zumutet. Das Schlimmste ist, daß man alle diese Härten und Gewaltsamkeiten nicht als etwas Notwendiges empfindet, sondern als Laune, Willkür oder Sorglosigkeit. Reger hat sich hauptsächlich auf dem Gebiet der Kammermusik betätigt, hat aber auch, außer der Oper, ziemlich alle anderen Gattungen gepflegt. Blickt man über dies Schaffen hin, so ist es schwer, einen Gesamteindruck der Persönlichkeit des Komponisten zu gewinnen, denn er erscheint so ungleich, daß man Mühe hat zu glauben, zwei Stücke wie etwa die Serenade für Flöte, Violine und Bratsche (op. 77a) und die Sinfonietta (op. 90) seien Werke desselben Komponisten: die erste ist ebenso klar, durchsichtig und reizvoll im Klang wie die andere verquollen, gliederungslos und mißglückt in der Instrumentierung. In Regers Liedern findet sich neben Gelungenem vieles Überreizte; häufig steht die Musik kaum noch in erkennbarem Zusammenhang mit der Dichtung, sie scheint unbekümmert eigene Pfade zu wandeln. Kaum ein Stück von ihm gibt es, daß nicht irgendwo Beachtenswertes, ja Bedeutendes brächte, kaum eins aber auch, das von Anfang bis zu Ende mit sicherem Kunstgefühl durchgeführt wäre. Man hat oft den Eindruck, daß er komponiert, wie ein Kurzsichtiger malen würde: immer nur mit dem Detail beschäftigt, an dem er gerade arbeitet, aber außer Stande, die Totalität des Bildes zu überschauen. Ein tief verräterischer Zug für die Begabung Regers scheint es mir zu sein, daß er dort sein Bestes gibt, wo er von außen her Stützen und Leitseile bekommt, etwa ein Thema zum Variieren, das sich an den Fazetten seines Geistes dann oft überraschend vielseitig bricht, oder wo ganz strenge Formen, wie die Fuge, ihm Maß und Ziel geben. Es gibt Fugen von ihm, wie sie vielleicht kein zweiter lebender Komponist zu schreiben vermag, in steten Formen verliert sich seine Fantasie jedoch oft ins Gestaltlose und Unanschauliche.

[1618]

G. Mahler.

Einen Komponisten muß ich erwähnen, nicht wegen der Bedeutung die er tatsächlich hat, sondern wegen des seltsamen Umstandes, daß ihm Bedeutung beigelegt werden konnte: Gustav Mahler. Mahler hatte eine sehr eng begrenzte kompositorische Begabung; sie reichte hin zur Herstellung kleiner Gebilde, etwa eines Marsches, eines Ländlers. Sein unruhiger Ehrgeiz aber trieb ihn zur Symphonie, und da er den Orchestersatz und alle Raffinements der Instrumentierung vollkommen beherrschte, so schrieb er eine Anzahl weitschichtiger Orchesterstücke, in denen alle Stile und Ausdrucksmittel wahllos vereinigt waren und nannte sie Symphonien. Daß sich nun Leute gefunden haben, die diese „Symphonien“ ernsthaft als Kunstwerke betrachtet und Mahler einen großen Komponisten genannt haben, das ist so kennzeichnend für die Verwirrung, die in den Kunstanschauungen unserer Zeit herrscht, daß es hier festgelegt werden muß.

H. Wolf.

Im Bereich des modernen Liedes ist die eigenartigste Erscheinung Hugo Wolf. Obwohl ein begeisterter Verehrer Liszts, hat er doch entscheidendere Anregungen von der Kunst Richard Wagners bekommen: das Verhältnis des Orchesters zu den Bühnenvorgängen und den Sängern bei Wagner entspricht dem Verhältnis des Klaviers zum Inhalt des Gedichts und zur Singstimme bei Wolf. Charakteristisch für ihn und seine künstlerische Anschauung ist es, daß er seinen Liedern nicht seinen, sondern den Namen des Dichters voransetzte: „Gedichte von Möricke“, „Gedichte von Goethe“, „Gedichte von Eichendorff“ waren die Titel seiner ersten Liederbände und nicht sein, sondern des Dichters Bild schmückte das Buch. Das ist auch Wagners Standpunkt: die Dichtung ist das Primäre, das Zeugende, die Musik das Sekundäre, das Empfangende und Gebärende. Den poetischen Gehalt der Dichtung faßt nun Wolf mit ganz merkwürdig starker, umbildender Phantasie in Töne. Bisweilen ist er ganz einfach, fast wie Schubert („Fußreise“), dann wieder nach jeder Richtung kompliziert, bohrend, grüblerisch, als wollte er dem Dichter den letzten Blutstropfen aussaugen und in seine Musik überflößen. Ein gewaltiger Rhythmiker, plastisch in seiner Formgebung, dem Zartesten ebenso zugänglich wie dem Kraftvollen, dem Humoristischen, dem Grotesken – so steht er auf seinem beschränkten Gebiet als schöpferischer Geist von seltener Vielseitigkeit da.

Neuklassiker.

Wenn Brahms in seinen Symphonien, Kammermusikwerken und Liedern Altes und Neues, die Formenreinheit der Meister des 18. Jahrhunderts mit der reicheren Harmonik der Modernen harmonisch verschmolzen hatte, so war hiermit für eine Zahl von Künstlern der Weg gewiesen, für solche, die den stürmisch Vorwärtsdrängenden und Übertreibenden nicht folgen wollten, aber auch nicht gewillt waren, in ausgefahrenen Geleisen sich genügsam weiterzubewegen. Dieser Gruppe von Musikern, denen unter anderen Wilhelm Berger, Friedrich Gernsheim, Hans Huber, Robert Kahn, Hans Koehler, Georg Schumann, Felix Woirsch angehören, verdanken wir viel Schönes und Gesundes. Eine verhältnismäßig geringe Pflege hat das große Stück für Chor, Solostimmen und Orchester gefunden. Altmeister Bruch ist nur mit seinem „Moses“ (1894), „Gustav Adolf“ (1898) und der „Osterkantate“ (1903) vertreten, [1619] in denen er naturgemäß den Standpunkt beibehält, auf dem wir ihn in seinen früheren Werken gesehen haben. Neben ihm ist hauptsächlich F. E. Koch als Vertreter des modernen Oratoriums zu nennen. In seinen „Tageszeiten“, wo er mit den Ereignissen eines Arbeitstages Bilder aus dem Leben Christi sinnvoll verwoben hat, zeigt er sich als Tonsetzer von eigenem Charakter, der, oft herbe, spröde in seiner Sprache, uns durch den männlichen Ernst seines Ausdrucks zu ergreifen weiß. Auf geistlichem Gebiet hat sich der verstorbene H. v. Herzogenberg in seinen Kirchenoratorien „Die Geburt Christi“ und „Die Passion“, sowie durch sein „Requiem“ bedeutsam hervorgetan und hat sich O. Taubmann durch seine „Deutsche Messe“ als Tonsetzer von sehr bedeutendem Können und hohem Sinn erwiesen. Auch Felix Draeseke, dessen Christus-Trilogie durch die Größe der Anlage imponiert, ist mit Ehren zu nennen.

Sehen wir nun das heutige musikalische Schaffen im Durchschnitt an, besonders das Schaffen derjenigen Komponisten, die von der „öffentlichen Meinung“ als die bedeutendsten bezeichnet werden, so können wir etwa folgendes beobachten: die Kompositionstechnik, die Orchesterbehandlung, die ganze Artistik haben eine schwindelnde Höhe erreicht, was jedoch durch die Darstellungsmittel ausgedrückt wird, ist meistens wenig bedeutend, es ist alles, was man will: witzig, geistreich, oder auch ganz verschwommen, bloß Stimmung und Farbe, nur nicht kraftvolle, groß gedachte, groß erfundene Musik. Es berührt den Verstand, interessiert vielleicht ungemein, aber es hat nicht die herzrührende Macht, die wirklich seelisch bewegende Gewalt, die das eigenste der Tonkunst ausmacht. Auch Richard Strauß höre ich wohl mit gespannter Aufmerksamkeit und oft mit vielem Vergnügen, aber ich fühle dabei nicht jenes heiße Entzücken, das mir Schubert oder Beethoven erregen.

Über diese Verhältnisse herrscht unter den wirklich Urteilsfähigen im Publikum wie bei den Künstlern nur eine Meinung; alle sind sich aber auch klar darüber, daß die Kunstmusik nur dann ihren Einfluß auf das ganze Volk ausüben kann, wenn sie von edler Einfachheit ist, nicht mit Künstelei belastet, und wenn sie ihr Hauptgewicht nicht auf den Ausbau einer überfeinerten Harmonik und auf das Ersinnen neuer Orchestereffekte, sondern auf die Erfindung charakteristischer, empfundener Melodie in künstlerischer Fassung legt. Das Volkslied, das durch natürliche Auslese übriggebliebene Beste aus dem Melodieschatz vieler Jahrhunderte kann wie schon öfter, so auch jetzt der Quell werden, der unserer Kunstmusik wieder frische Säfte zuführt, aus seinem Studium kann die Erschlaffte neue Kraft gewinnen und den Erdgeruch der Heimat.

Das Volkslied.

Das hat auch der Kaiser erkannt, denn er hat mit kräftigen Worten auf den Schatz hingewiesen, den die deutsche Nation in ihren Volksliedern besitzt, und er hat selbst angeordnet, daß eine Sammlung der schönsten alten und neueren Volkslieder herausgegeben werde. Unter der Leitung des greisen Rochus von Liliencron, der ebenso bedeutend als Gelehrter und Organisator war, wie verehrungswürdig als Mensch, hat eine stattliche Anzahl von Musikhistorikern und praktischen Musikern das Werk begonnen und vollendet und jetzt können durch den Mund der Männerchöre die herrlichen alten Weisen in die Welt dringen. [1620] Mit Recht erscheint dem Kaiser überhaupt der Männergesang, der in Deutschland so weite Verbreitung hat, als das geeignetste Organ zur Pflege volkstümlicher Tonkunst und besonderer Förderung wert. Die Einrichtung der Wettsingen um eine von ihm gestiftete Kette ist dafür ein Zeichen. Man könnte von vornherein zweifelhaft sein, ob die Übertragung des Sportbetriebes auf die Kunst ersprießlich sei, die Tatsache aber, daß seit der Zeit, wo das Kaiserwettsingen stattfindet, die Kultur unserer Männerchöre wahrhaft erstaunliche Fortschritte gemacht hat, beweist, daß die Voraussetzung richtig gewesen ist. Auch die Jugend wird jetzt mehr und mehr dem Volkslied gewonnen. Es ist eine Freude, einem Trupp „Wandervögel“ zu begegnen und zu hören, wie schöne Lieder sie singen und wie gewandt sie auf Zupfgeige und Laute dazu begleiten. Durch die Kinder kommen diese Lieder dann ins Haus – hörte ich einige doch schon von Maurern bei der Arbeit! Wenn so von oben und von unten das gute Werk in Angriff genommen wird, dann kann wohl einmal die niedrigste Gattung der Musik, die jetzt gerade in besonders üppiger Blüte stehende Operettenmelodie, die den Geschmack geradezu vergiftet, aus ihrer Herrschaft verdrängt werden. Und auch die Kunstmusik wird wieder auf das Einfache gelenkt werden – alle große Kunst ist einfach! – das sie dann mit ihren großen Mitteln und mit dem feinstgeschliffenen Handwerkszeug gestalten mag.

Musikwissenschaft.

Große Fortschritte hat ferner die Musikwissenschaft gemacht; es ist jetzt wohl zum allgemeinen Bewußtsein gekommen, daß sie ebenso wichtig ist, wie die Wissenschaft der bildenden Kunst und der Literatur. Lange waren Friedrich Chrysander und Philipp Spitta die einzigen ernsthaften Musikwissenschaftler. Chrysander hatte fast ganz aus eigner Kraft die Gesamtausgabe der Werke Händels hergestellt und eine Händelbiographie begonnen, Spitta hatte eine Lebensbeschreibung Bachs vollendet und den Bau so fest gefügt, daß seine Grundlagen noch jetzt unerschüttert stehen, und er hatte auch den größten deutschen Meister des 17. Jahrhunderts, Heinrich Schütz, wieder zum Leben erweckt. Die von Chrysander gegründeten „Jahrbücher für musikalische Wissenschaft“ waren nur bis zum zweiten Bande vorgeschritten, und die von ihm mit Spitta und Guido Adler herausgegebene „Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft“ hörte mit dem zehnten Jahrgange bei Spittas Tode auf zu bestehen. Jetzt stehen als die Häupter der Musikwissenschaft Hermann Kretzschmar in Berlin und Hugo Riemann in Leipzig da, um die sich viele jüngere Gelehrte gruppieren, und es ist in den letzten 25 Jahren mehr und mit besseren Resultaten gearbeitet worden, als in der ganzen Zeit vorher seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Was hat man nicht alles ans Licht gebracht! Die Neumenschrift hat ihre Schrecken verloren, sie ist durch Vergleichung lesbar geworden, die Lieder der Troubadours sind entziffert, das heißt richtig rhythmisiert, eine bisher ganz unbekannte Musikepoche, die des begleiteten Vokalstils im 14. Jahrhundert in Italien, ist durch Johannes Wolf und Riemann aufgedeckt worden, das so dunkle 17. Jahrhundert beginnt verständlich zu uns zu sprechen, und vieles andere ist erklärt und durchforscht. Die 1899 begründete und seit 10 Jahren unter H. Kretzschmars Vorsitz stehende „Internationale [1621] Musikgesellschaft“ gibt eine Zeitschrift und „Sammelbände“ für größere Arbeiten heraus, in denen viel wertvolles wissenschaftliches Material veröffentlicht ist. Das Wichtigste sind jedoch die „Denkmäler deutscher Tonkunst“. Wie man in Museen die Meisterwerke der Malerei und Skulptur früherer Zeiten aufbewahrt, um sie späteren Geschlechtern zugänglich zu machen, so sollen auch die hervorragendsten Kompositionen vergangener Jahrhunderte gesammelt und gedruckt werden, nicht nur zum Studium für Musikwissenschaftler, sondern auch, um den historischen Sinn der jetzt lebenden Musikergeneration neu zu wecken. 1892 wurde ein Anfang gemacht, aber 1900 erst kam nach langer Pause die Angelegenheit wieder in Fluß, und unter Leitung Rochus von Liliencrons (später H. Kretzschmars) sind nun eine lange Reihe bedeutender älterer Musikwerke veröffentlicht worden, denen sich die Denkmäler der Tonkunst in Bayern und Österreich angliedern.

Musikpädagogik.

Es wäre noch musikalischen Lehrtätigkeit zu gedenken, die im engsten Zusammenhang mit der reproduzierenden Tonkunst steht. Es herrschen auf diesem Gebiet in Deutschland völlig andere Verhältnisse als in Frankreich, wo das Pariser Conservatoire eigentlich „die Musikschule“ für das ganze Land ist. In Deutschland unterhält oder unterstützt nicht allein jeder Bundesstaat Musikschulen, sondern es gibt auch in jeder großen Provinzstadt zum mindesten ein Konservatorium, das aus privaten Mitteln besteht. Diese Dezentralisation bewirkt ein besseres Gleichgewicht der Kräfte und eine leichtere Ausbildung der Talente. Der Staat Preußen gewährt dem Konservatorium in Köln und dem Hochschen Konservatorium in Frankfurt a. M. beträchtliche Beihilfen, und unterhält vollständig das Kgl. akademische Institut für Kirchenmusik und die Kgl. akademische Hochschule für Musik in Berlin. Die beiden letzten Institute erhielten 1902 neue, prächtige Heime, die Hochschule insbesondere wurde mit einer großen Anzahl von Unterrichtsräumen, einem prächtigen Konzertsaal mit Orgel, einem Theatersaal mit Bühne und einer sehr guten, reichhaltigen Bibliothek ausgestattet. Das Institut war mit seiner Gründung 1869 von Josef Joachim geleitet worden, bis 1907, dem Tode des Violinmeisters und steht jetzt, ebenso wie das Institut für Kirchenmusik unter dem Direktorat von Hermann Kretzschmar.

Diese Musikschulen in allen Teilen des Reichs bilden nun jährlich, neben einer Anzahl von jungen Leuten, die nur als Liebhaber sich mit der Tonkunst befassen, hunderte von Fachmusikern aus. Wenige dieser Musikjünger haben beim Beginn ihres Studiums geahnt, wie schwer es ist, auf die Musik eine Existenz zu gründen. Für gute Orchestermusiker ist verhältnismäßig noch am meisten Bedarf, aber das Heer der klavierspielenden und singenden Herren und Damen ist meistens übel daran, denn das Angebot übertrifft hier die Nachfrage um ein Vielfaches. Jeder fühlt sich natürlich zum ausübenden Künstler berufen, drängt zum Licht und versucht Konzerte zu geben, wodurch die Zahl der Lieder- und Klavierabende eine Höhe erreicht hat, die in gar keinem Verhältnis zum Bedarf des Publikums steht. Tritt das Durchschnittliche ein, daß nämlich die Zuhörer und die Kritik sich durchaus nicht von dem Beruf des Konzertgebers zum Solisten überzeugen lassen wollen, dann ziehen sich die Verschmähten grollend aus der Öffentlichkeit zurück [1622] und werden Musiklehrer par dépit. Daß hierdurch und durch andere Umstände dem Lehrberuf viele ungeeignete Persönlichkeiten zufließen, ist eine Tatsache, die den ernsthaften Musikern längst Anlaß zu besorgtem Nachdenken gegeben und zur Gründung des musikpädagogischen Verbandes geführt hat. Der Verband hält Prüfungen für Musiklehrer ab und erteilt Diplome, so daß das Publikum, wenn es pädagogisch ausgebildete Lehrkräfte sucht, wenigstens weiß, wo es sie zu finden hat. Freilich: so wenig jemand verhindert werden kann, schlechten Musikunterricht zu geben, so wenig kann jemand gezwungen werden, guten zu nehmen.

Nachschaffende Künstler.

Das Wirken in der Öffentlichkeit ist heute heikler als je, denn die Ansprüche sind höhere geworden, nicht vielleicht in bezug auf die Technik – hier ist man, namentlich im Gesang sogar, nur zu leicht geneigt, Nachsicht zu üben – sondern im Vortrag. Das sinnvolle Lebendigmachen des Kunstwerks gilt als die Hauptsache, mit Recht; ein Klavierkünstler, wie d’Albert, bei dem die technische Ausführung bisweilen zu wünschen übrig läßt, würde nicht so hoch geschätzt werden, wenn er es nicht verstände, die Zuhörer durch die Macht seines Gefühls und seine plastische Darstellung mit sich fortzureißen. Das Höchste wird natürlich immer da erreicht, wo Geist, Empfindung und Technik sich das Gleichgewicht halten, wie im Geigenspiel von Josef Joachim und in den Vorträgen des von ihm geleiteten Streichquartettes. Vielleicht ist etwas ähnlich Vollkommenes, eine solche Treue gegenüber dem Kunstwerk und dabei ein so persönliches Nachschaffen und Neugestalten nie dagewesen, jedenfalls wird es für alle Zeiten Vorbild bleiben. Daß es auch vorbildlich gewirkt hat, zeigen die zahlreichen Schüler Joachims, sowie die vortrefflichen Quartettvereinigungen, die seinem Beispiel nachstreben.

Auch das Orchesterspiel hat eine wesentliche Verfeinerung und Durchgeistigung erfahren. Hier ist Hans von Bülow der vorzüglichste Anreger gewesen. Schoß er im Ausdeuten und Pointieren gelegentlich übers Ziel hinaus, so geschah es aus didaktischem Übereifer oder im Kampf gegen geistlosen Schlendrian, immer aber war heiße Liebe zur Kunst die Triebfeder seines Handelns. Eine große Anzahl vorzüglicher Dirigenten ist an der Arbeit, die Leistungsfähigkeit unserer Orchester weiter und weiter zu vervollkommnen und Namen wie Arthur Nikisch, S. von Hausegger, Fritz Steinbach, Max Fiedler, die verstorbenen Felix Mottl und Hermann Levy werden ebenso ehrfurchtsvoll genannt werden, wenn es sich um das Lob von Orchesterleistungen handelt, wie die von Siegfried Ochs, Georg Schumann, Felix Schmidt und manchen anderen, wenn vom besten Chorgesang der Gegenwart gesprochen wird. Wirft man dem Konzertgetriebe unserer Zeit vor, daß es über alles Maß hinaus angeschwollen und weit entfernt sei, einem wirklichen Bedürfnis zu entsprechen, so muß das ohne weiteres zugegeben werden. Zugleich ist aber zu bedenken, daß solche Zustände der Überproduktion gelegentlich überall auftreten und daß immer die Zeit und die Erfahrung, das heißt in diesem Fall der Mißerfolg, als Regulatoren gewirkt haben. So wird es auch in der reproduzierenden Musik geschehen.