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hat, ist mehr als die glückliche Auswahl der Volkslieder. Er sieht den ganzen Stoff mit den Augen des musikalischen Dichters an und behandelt ihn demgemäß, so daß wirklicher Märchenduft über der Oper liegt. Das Orchester ist sehr polyphon behandelt, es lebt und webt von motivischem Wesen, aber alles ist doch klar und leicht faßlich: Polyphonie tritt hier in ihrer größten Volkstümlichkeit auf und das Volkstümliche seiner höchsten Verfeinerung. Manchmal gewinnt der Instrumentalpart wohl zu sehr die Oberhand und ist zu dick, wie in der Ouvertüre, die nicht recht zu dem anspruchslosen Märchenspiel passen will und besonders in dem langen Nachspiel hinter dem Abendgebet der Kinder, wo alle Schrecken der Blechbläser erbarmungslos auf den Zuhörer eindringen und das zarte Bild förmlich aus dem Rahmen brechen. Als Höhepunkt des Werkes ist mir immer die Waldszene vorher erschienen: die verirrten Kinder spielen erst sorglos und spotten dem Kuckuck nach, aber allmählich erfaßt sie die Angst und das Grauen vor der Einsamkeit. Hier ist die Naturstimmung mit wirklicher poetischer Kraft aufgefaßt und musikalisch verdichtet; es strömt wie ein Hauch von Waldesfrische und Wiesenduft aus den Tönen und legt sich dem Hörer lind um Herz und Sinne.

Von einigen Kleinigkeiten, die Humperdinck nach diesem Erstling unter seinen Opern schrieb, kann abgesehen werden, auch von seiner „Heirat wider Willen“, die viele reizvolle und feine Einzelheiten enthält, als ganzes aber keine große Wirkung ausgeübt hat, erst die „Königskinder“ (von Ernst Rosmer) verdienen wieder eine nähere Betrachtung. Ursprünglich war das Stück ein gesprochenes Drama mit eingestreuten melodramatische Stellen und Musikstücken (1898), das der Komponist 1908 zu einer Oper umgearbeitet hat. Die Dichtung schlage ich nicht hoch an: sie ist ein Märchen, aber kein naives wie „Hänsel und Gretel“, sondern ein gebildetes, ein literarisches, und mit allerlei Anspielungen, Symbolen und Tiefsinnigkeiten durchsetzt, denen man aber doch nicht so recht auf den Grund zu kommen vermag. Um so mehr Werte birgt die Musik. Das Orchester klingt wundervoll, es strotzt von Melodie, und aus dem höchst durchsichtigen Ganzen löse sich oft einzelne Instrumente heraus, die irgendeine Szene wie mit farbigen Seidenfäden charakteristisch umspinnen. Will man Humperdincks Schaffen im allgemeinen kennzeichnen, so könnte man sagen, daß Liebenswürdigkeit sein hervorstechendster Zug sei, wobei man nur nicht die landläufige Bedeutung dieses Wortes sich vorstellen, sondern an Eigenschaften denken muß, die einen stillen, in sich gekehrten Künstler würdig machen, geliebt zu werden.

L. Thuille.

Eine höchst reizvolle Oper, die gleichfalls einen Märchenstoff behandelt, tritt uns in Ludwig Thuilles „Lobetanz“ entgegen (1898). Der leider sehr jung gestorbene hochbegabte Komponist hat ihm noch ein zweites Wert „Gugeline“ (1901) folgen lassen, das indessen die Vorzüge seines ersten nicht erreicht. „Lobetanz“ ist die Geschichte von der Prinzessin, die durch das süße Spiel eines Geigers vor Sehnsucht erkrankt und an demselben Spiel vor Liebe wieder gesundet, eine Geschichte, die Otto Julius Bierbaum leider in sehr gezierter Sprache und in etwas süßlicher Manier vorträgt. Der Musiker aber hat auf dieser Textgrundlage ein Meisterstücklein errichtet. Sein Ausdruck ist sehr gewählt, etwas gedämpft, die Arbeit überaus subtil, die Melodieerfindung wie der Wuchs des Ganzen mehr schmächtig als kraftvoll. Eine Szene aber ist

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1612. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/483&oldid=- (Version vom 20.8.2021)