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wirkt keinesfalls überzeugender, aber die „Sinfonia domestica“ (1904) kehrt wieder auf den Standpunkt zurück, den Strauß bei der Abfassung seiner ersten symphonischen Dichtungen einnahm, nur daß das Tongewirk hier um vieles dichter und schwerer faßlich ist.

Der symphonischen Dichtung haben sich nun eine große Anzahl von Tonsetzern zugewandt. Sie zu nennen oder gar zu untersuchen, wie weit jedem sein Vorhaben geglückt ist oder nicht, würde zwecklos sein, denn in diesen wenigen Blättern können allgemeine Richtungen an typischen Beispielen aufgezeigt werden. In neuerer Zeit hat die Beschäftigung mit der Programmmusik entschieden nachgelassen, selbst Künstler, die sich ihr früher zugewendet hatten, kehren wieder zur Symphonie oder zum programmlosen, nur allgemein gekennzeichneten Instrumentalstück (Stimmungsbild) zurück.

M. Reger.

Zu denen, die niemals an die Lehre von der Erschöpfung der Instrumentalmusik durch Beethoven geglaubt hatten, gehörte auch Johannes Brahms, und in seiner Gefolgschaft befindet sich eine Reihe Künstler, die ebenfalls der Anschauung huldigen, daß sich in jeder beliebigen Form immer wieder Neues sagen lasse, sofern dem Komponisten nur Neues einfällt. Von Brahms ist auch Max Reger ausgegangen, der jedoch ebenso starke Einwirkungen von Bach her empfangen hat und sich allmählich eine eigene, etwas exzentrische musikalische Sprache ausbildete, die in ruheloser Harmonik schwelgt und dem Ohr bisweilen das Äußerste an dissonanten Fortschreitungen zumutet. Das Schlimmste ist, daß man alle diese Härten und Gewaltsamkeiten nicht als etwas Notwendiges empfindet, sondern als Laune, Willkür oder Sorglosigkeit. Reger hat sich hauptsächlich auf dem Gebiet der Kammermusik betätigt, hat aber auch, außer der Oper, ziemlich alle anderen Gattungen gepflegt. Blickt man über dies Schaffen hin, so ist es schwer, einen Gesamteindruck der Persönlichkeit des Komponisten zu gewinnen, denn er erscheint so ungleich, daß man Mühe hat zu glauben, zwei Stücke wie etwa die Serenade für Flöte, Violine und Bratsche (op. 77a) und die Sinfonietta (op. 90) seien Werke desselben Komponisten: die erste ist ebenso klar, durchsichtig und reizvoll im Klang wie die andere verquollen, gliederungslos und mißglückt in der Instrumentierung. In Regers Liedern findet sich neben Gelungenem vieles Überreizte; häufig steht die Musik kaum noch in erkennbarem Zusammenhang mit der Dichtung, sie scheint unbekümmert eigene Pfade zu wandeln. Kaum ein Stück von ihm gibt es, daß nicht irgendwo Beachtenswertes, ja Bedeutendes brächte, kaum eins aber auch, das von Anfang bis zu Ende mit sicherem Kunstgefühl durchgeführt wäre. Man hat oft den Eindruck, daß er komponiert, wie ein Kurzsichtiger malen würde: immer nur mit dem Detail beschäftigt, an dem er gerade arbeitet, aber außer Stande, die Totalität des Bildes zu überschauen. Ein tief verräterischer Zug für die Begabung Regers scheint es mir zu sein, daß er dort sein Bestes gibt, wo er von außen her Stützen und Leitseile bekommt, etwa ein Thema zum Variieren, das sich an den Fazetten seines Geistes dann oft überraschend vielseitig bricht, oder wo ganz strenge Formen, wie die Fuge, ihm Maß und Ziel geben. Es gibt Fugen von ihm, wie sie vielleicht kein zweiter lebender Komponist zu schreiben vermag, in steten Formen verliert sich seine Fantasie jedoch oft ins Gestaltlose und Unanschauliche.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1617. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/488&oldid=- (Version vom 20.8.2021)