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und werden Musiklehrer par dépit. Daß hierdurch und durch andere Umstände dem Lehrberuf viele ungeeignete Persönlichkeiten zufließen, ist eine Tatsache, die den ernsthaften Musikern längst Anlaß zu besorgtem Nachdenken gegeben und zur Gründung des musikpädagogischen Verbandes geführt hat. Der Verband hält Prüfungen für Musiklehrer ab und erteilt Diplome, so daß das Publikum, wenn es pädagogisch ausgebildete Lehrkräfte sucht, wenigstens weiß, wo es sie zu finden hat. Freilich: so wenig jemand verhindert werden kann, schlechten Musikunterricht zu geben, so wenig kann jemand gezwungen werden, guten zu nehmen.

Nachschaffende Künstler.

Das Wirken in der Öffentlichkeit ist heute heikler als je, denn die Ansprüche sind höhere geworden, nicht vielleicht in bezug auf die Technik – hier ist man, namentlich im Gesang sogar, nur zu leicht geneigt, Nachsicht zu üben – sondern im Vortrag. Das sinnvolle Lebendigmachen des Kunstwerks gilt als die Hauptsache, mit Recht; ein Klavierkünstler, wie d’Albert, bei dem die technische Ausführung bisweilen zu wünschen übrig läßt, würde nicht so hoch geschätzt werden, wenn er es nicht verstände, die Zuhörer durch die Macht seines Gefühls und seine plastische Darstellung mit sich fortzureißen. Das Höchste wird natürlich immer da erreicht, wo Geist, Empfindung und Technik sich das Gleichgewicht halten, wie im Geigenspiel von Josef Joachim und in den Vorträgen des von ihm geleiteten Streichquartettes. Vielleicht ist etwas ähnlich Vollkommenes, eine solche Treue gegenüber dem Kunstwerk und dabei ein so persönliches Nachschaffen und Neugestalten nie dagewesen, jedenfalls wird es für alle Zeiten Vorbild bleiben. Daß es auch vorbildlich gewirkt hat, zeigen die zahlreichen Schüler Joachims, sowie die vortrefflichen Quartettvereinigungen, die seinem Beispiel nachstreben.

Auch das Orchesterspiel hat eine wesentliche Verfeinerung und Durchgeistigung erfahren. Hier ist Hans von Bülow der vorzüglichste Anreger gewesen. Schoß er im Ausdeuten und Pointieren gelegentlich übers Ziel hinaus, so geschah es aus didaktischem Übereifer oder im Kampf gegen geistlosen Schlendrian, immer aber war heiße Liebe zur Kunst die Triebfeder seines Handelns. Eine große Anzahl vorzüglicher Dirigenten ist an der Arbeit, die Leistungsfähigkeit unserer Orchester weiter und weiter zu vervollkommnen und Namen wie Arthur Nikisch, S. von Hausegger, Fritz Steinbach, Max Fiedler, die verstorbenen Felix Mottl und Hermann Levy werden ebenso ehrfurchtsvoll genannt werden, wenn es sich um das Lob von Orchesterleistungen handelt, wie die von Siegfried Ochs, Georg Schumann, Felix Schmidt und manchen anderen, wenn vom besten Chorgesang der Gegenwart gesprochen wird. Wirft man dem Konzertgetriebe unserer Zeit vor, daß es über alles Maß hinaus angeschwollen und weit entfernt sei, einem wirklichen Bedürfnis zu entsprechen, so muß das ohne weiteres zugegeben werden. Zugleich ist aber zu bedenken, daß solche Zustände der Überproduktion gelegentlich überall auftreten und daß immer die Zeit und die Erfahrung, das heißt in diesem Fall der Mißerfolg, als Regulatoren gewirkt haben. So wird es auch in der reproduzierenden Musik geschehen.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/493&oldid=- (Version vom 20.8.2021)