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G. Mahler.

Einen Komponisten muß ich erwähnen, nicht wegen der Bedeutung die er tatsächlich hat, sondern wegen des seltsamen Umstandes, daß ihm Bedeutung beigelegt werden konnte: Gustav Mahler. Mahler hatte eine sehr eng begrenzte kompositorische Begabung; sie reichte hin zur Herstellung kleiner Gebilde, etwa eines Marsches, eines Ländlers. Sein unruhiger Ehrgeiz aber trieb ihn zur Symphonie, und da er den Orchestersatz und alle Raffinements der Instrumentierung vollkommen beherrschte, so schrieb er eine Anzahl weitschichtiger Orchesterstücke, in denen alle Stile und Ausdrucksmittel wahllos vereinigt waren und nannte sie Symphonien. Daß sich nun Leute gefunden haben, die diese „Symphonien“ ernsthaft als Kunstwerke betrachtet und Mahler einen großen Komponisten genannt haben, das ist so kennzeichnend für die Verwirrung, die in den Kunstanschauungen unserer Zeit herrscht, daß es hier festgelegt werden muß.

H. Wolf.

Im Bereich des modernen Liedes ist die eigenartigste Erscheinung Hugo Wolf. Obwohl ein begeisterter Verehrer Liszts, hat er doch entscheidendere Anregungen von der Kunst Richard Wagners bekommen: das Verhältnis des Orchesters zu den Bühnenvorgängen und den Sängern bei Wagner entspricht dem Verhältnis des Klaviers zum Inhalt des Gedichts und zur Singstimme bei Wolf. Charakteristisch für ihn und seine künstlerische Anschauung ist es, daß er seinen Liedern nicht seinen, sondern den Namen des Dichters voransetzte: „Gedichte von Möricke“, „Gedichte von Goethe“, „Gedichte von Eichendorff“ waren die Titel seiner ersten Liederbände und nicht sein, sondern des Dichters Bild schmückte das Buch. Das ist auch Wagners Standpunkt: die Dichtung ist das Primäre, das Zeugende, die Musik das Sekundäre, das Empfangende und Gebärende. Den poetischen Gehalt der Dichtung faßt nun Wolf mit ganz merkwürdig starker, umbildender Phantasie in Töne. Bisweilen ist er ganz einfach, fast wie Schubert („Fußreise“), dann wieder nach jeder Richtung kompliziert, bohrend, grüblerisch, als wollte er dem Dichter den letzten Blutstropfen aussaugen und in seine Musik überflößen. Ein gewaltiger Rhythmiker, plastisch in seiner Formgebung, dem Zartesten ebenso zugänglich wie dem Kraftvollen, dem Humoristischen, dem Grotesken – so steht er auf seinem beschränkten Gebiet als schöpferischer Geist von seltener Vielseitigkeit da.

Neuklassiker.

Wenn Brahms in seinen Symphonien, Kammermusikwerken und Liedern Altes und Neues, die Formenreinheit der Meister des 18. Jahrhunderts mit der reicheren Harmonik der Modernen harmonisch verschmolzen hatte, so war hiermit für eine Zahl von Künstlern der Weg gewiesen, für solche, die den stürmisch Vorwärtsdrängenden und Übertreibenden nicht folgen wollten, aber auch nicht gewillt waren, in ausgefahrenen Geleisen sich genügsam weiterzubewegen. Dieser Gruppe von Musikern, denen unter anderen Wilhelm Berger, Friedrich Gernsheim, Hans Huber, Robert Kahn, Hans Koehler, Georg Schumann, Felix Woirsch angehören, verdanken wir viel Schönes und Gesundes. Eine verhältnismäßig geringe Pflege hat das große Stück für Chor, Solostimmen und Orchester gefunden. Altmeister Bruch ist nur mit seinem „Moses“ (1894), „Gustav Adolf“ (1898) und der „Osterkantate“ (1903) vertreten,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/489&oldid=- (Version vom 20.8.2021)