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Frank Wedekind.

Der Dramatiker, der vielleicht jetzt am meisten von sich reden macht, ist Frank Wedekind. Über seine schauspielerischen Ambitionen kann man füglich schweigen, da diese Übersicht die eigentliche Schauspielkunst nur zu streifen hat. Aber von seinen Theaterstücken muß die Rede sein. Gewiß besitzt er außerordentlich viel Geist, Humor, Ironie und einen ausgeprägten Sinn für starke Bühnenwirkungen; aber was er damit schafft, wird häufig verdorben durch krasse Willkür, gewollte Absonderlichkeit und ein schleuderhaftes Hinwerfen von Einfällen. Er darf wahrlich nicht als Motto für seine Leistungen das Wort wählen, das er einmal einen Künstler – zufällig im Ernst – sprechen läßt: „Man kann nicht mehr tun, als es mit der Kunst so gewissenhaft wie möglich nehmen.“

„Der Kammersänger“, den der Verfasser selbst einmal, nicht ganz mit Recht, als kraft- und saftlose Posse bezeichnet, ist eine Folge von Szenen, in denen die Gewalt, die ein Künstler durch seine Leidenschaftlichkeit und Intelligenz auf Männer und Frauen ausübt, charakteristisch, wenn auch ziemlich roh, dargestellt wird. Das schon mehrfach erwähnte Stück „Frühlings Erwachen“ ist eine aufregende, scharf beobachtete, freilich mit zahllosen Willkürlichkeiten und Roheiten verbrämte, durch mannigfache Widerlichkeiten abschreckende Zeichnung des Erwachens des erotischen Triebes.

Was aber seine Hauptstücke betrifft, so muß der Kritiker ehrlich bekennen – selbst wenn er von dem Autor als „der normale Leser“, d. h. als ein erbärmlicher, die Größe der neuen Richtung nicht begreifender Philister verdammt wird –, daß er diese Stücke einfach nicht begreift und kaum verstehen kann, daß ein Dichter von Sinn und Geschmack neun Jahre, von 1892–1901, daran zugebracht hat. Es sind die Tragödien „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“. Gewiß kann es auch ein poetischer Vorwurf sein, die Geschichte einer Dirne zu schreiben, ohne daß sie schließlich mit dem Mantel der Heiligkeit bedeckt wird oder durch Bußfertigkeit sich aus dem Pfuhl der Gemeinheit zu befreien sucht. Verbrechertragödien, selbst wenn die Übeltäter in ihrer Verstocktheit verharren und in ihrer Sünden Maienblüte dahingerafft werden, können den gewaltigsten Eindruck auf Leser und Zuschauer machen, auf Menschen von Gefühl und Empfindung, auf Leute von Sinn und Geschmack. Wenn der Autor gegen diese polemisiert und eine seiner Personen, unter denen er sich selbst zu begreifen scheint, sagen läßt: „Um wieder auf die Fährte einer großen gewaltigen Kunst zu gelangen, müßten wir uns möglichst viel unter Menschen bewegen, die nie in ihrem Leben ein Buch gelesen haben, denen die einfachsten animalischen Instinkte bei ihren Handlungen maßgebend sind“, so ist dies vielleicht eine Rechtfertigung seines Planes, aber eine ebenso geschmacklose wie unzutreffende. Diese Geschichte einer Buhlerin, die, als Kind schon mit allen Makeln behaftet, vermöge ihrer Schönheit und Grazie bei den Männern solches Entzücken hervorruft, daß sie hintereinander drei Ehen schließt: mit einem alten Medizinalrat, der, da er sie auf Untreue ertappt, vom Schlage getroffen wird, mit einem Maler, der, da er ihr Gebahren nicht mehr mit ansehen kann, sich erschießt, und mit einem Schriftsteller, der sie lanciert hat, und den sie schließlich selbst niederknallt; wie sie dann, nachdem sie aus dem Gefängnis entflohen, in anrüchigster Gesellschaft lebt, zuerst mit einem Artisten zusammenhaust, dann mit einem Theaterdirektor, dem Sohn des von der Buhlerin ermordeten

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1649. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/520&oldid=- (Version vom 20.8.2021)