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falsch. In ihr, „Die Fahnenweihe“, wird der Posthalter Schlegel und seine Frau, eine Dame, die ihre Gunst gar zu freigebig verschenkt, doch bestraft dadurch, daß sie schwere Stunden durchleben und schließlich ihren Protektor, den Großhändler Rettinger, verlieren. Sonst aber triumphieren in dieser übermütigen, scharf charakterisierten Posse die Unsittlichkeit, die Schlauheit, die Streberei, und es ist ungemein lustig zu sehen, wie die demoralisierten Stadtmenschen sich erbost zeigen über die Roheit der Dörfler.

L. Thoma.

Der angefaulten bürgerlichen Moralität hält Ludwig Thoma in seiner Komödie „Moral“ (München 1909) einen Spiegel vor. Diese sich mit Sittlichkeit blähende Gesellschaft einer kleinen Residenz, die mehr von Tugend redet als nach ihr handelt, triumphiert zwar scheinbar, da die Kokotte, in deren Kleiderschrank der Erbprinz sich versteckt hatte, als Triumphatorin die Stadt verläßt, deren „gute Gesellschaft“ sie durch ihre Aufzeichnungen in nicht gelinde Aufregung versetzt hatte, – aber das wollte ja der witzige und aufrichtige Dramatiker schildern, wie innerlich morsch diese Tugendhelden sind, die es wagen, im Vertrauen auf ihre eigene Unantastbarkeit die Lasterhaftigkeit des Pöbels zu bekämpfen.

O. E. Hartleben.

Dieselbe Art tritt in manchen Werken Otto Erich Hartlebens hervor. „Die sittliche Forderung“ (Berlin 1897) zeigt lustig, wie der ehrbare Kaufmann Friedrich Stierwald, der seine Jugendgeliebte, die aus Rudolstadt fortgelaufen und eine berühmte Sängerin geworden ist, zur Sittlichkeit bekehren, wie er sie heiraten will und schließlich einfach in ihre Schlingen fällt, ohne sich um die von ihm so eifrig gepredigte Sittlichkeit zu kümmern. Auch in seinen anderen dramatischen Werken, z. B. „Hanna Jagert“, werden ähnliche Motive behandelt.

Heimatskunst.

Unter Heimatskunst verstehen wir hier, daß speziell die einzelnen Landschaften vorgeführt werden, sei es, daß einzelne Personen geradezu im Dialekt sprechen, sei es, daß Vorgänge, die durch ihren Provinzialismus begründet und verständlich sind, Gegenstand der Dichtung bilden. Das zeigt sich bei Hauptmann (Schlesien), bei Sudermann (Ostpreußen), bei Halbe (Deutsch-Polen).

Wienerisches.

Gewiß ist Heimatskunst und Erdgeruch etwas anderes als die Handgreiflichmachung provinzieller Sitten und Unsitten. Der Schlesier wurzelt fest in seiner Heimat, der Berliner, mag er Autochthone oder Eingewanderter sein, liebt es, seinen Wohnsitz zum Schauplatz der Aktion zu machen. Daher mag es gestattet sein, an dieser Stelle das spezifisch Wienerische, das in außerordentlich vielen Lustspielen hervortritt, im Zusammenhang damit zu erwähnen.

Die österreichisch-ungarische Monarchie, speziell Deutsch-Österreich, war seit langer Zeit das klassische Theaterland: das Burgtheater, das lange als die einzige Heimstätte deutscher Kunst galt, hat sich die Traditionen aus seiner besten Zeit zu wahren gewußt. Schauspieler österreichischen Ursprungs sind auf allen Theatern zu finden, die Operette, wie früher die große Oper, hat ihre Hauptkomponisten in Österreich. Aber in neuerer

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/505&oldid=- (Version vom 20.8.2021)