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bedeutete keinen Fortschritt; die „Einsamen Menschen“ verrieten sehr stark die Abhängigkeit von Ibsen. Hauptmanns Meisterleistung waren „Die Weber“. Man darf sie nicht als Sensation und noch weniger als Verherrlichung der Revolution auffassen, sondern muß in ihnen eine vollendete Zeit- und Milieudarstellung voll dramatischen Lebens und tief eindringender Charakterisierung sehen, ein Wunderwert psychologischer Analyse durch die Handlung selbst, eine meisterhafte Schilderung der gegenüberstehenden Parteien. Man hat mit Unrecht behauptet, daß in diesem Stücke kein Abschluß vorhanden sei, denn wenn es auch an Perspektiven in fortdauernden Kämpfen und weiteren Verwicklungen nicht fehlt, so steht doch die ganze Episode der schlesischen Weberstreitigkeiten und der gleichzeitigen furchtbaren Hungersnot mit all ihren traurigen und ergreifenden Erscheinungen vor dem Leser und Hörer. Die „Weber“ nehmen in Hauptmanns Werk und in der gesamten Theaterliteratur unseres Zeitraums den ersten Platz ein.

Nicht minder vorzüglich ist das naturalistische Lustspiel „College Crampton“, die grausame und doch mitleidsvolle Satire auf einen fähigen, aber verfallenden Künstler, während „Der Biberpelz“, eine Diebskomödie, unter dem sichtbaren Einfluß Heinrich v. Kleists geschrieben, trotz mancher vorzüglicher Einzelheiten, an dem Doppelfehler so vieler moderner Stücke krankt, dem einen: gegenüber den abstoßenden Persönlichkeiten keinerlei versöhnlichen Hinblick auf erfreuliche Menschen zu gewähren, und dem anderen: nur eine abgerissene Situation ohne irgendwelches Ende darzubieten.

Mit viel geringerem Glücke versuchte der Dichter in „Florian Geyer“ den Bauernkrieg zu dramatisieren. Historische Unkenntnis, ein zwischen moderner und archaistischer Redeweise ungeschickt schwankender Ausdruck, unvermeidliche Abhängigkeit von Goethes „Götz“ sind nicht die einzigen Vorwürfe, die man diesem Ritterschauspiel machen muß. Vielmehr zeigte sich in ihm der absolute Mangel, eine vergangene Zeit lebendig zu machen, Szenen von unerträglicher Roheit schrecken ab, und das Stück, das schon des Titels wegen einen Haupthelden verlangt, ist nichts weniger als eine Individualisierung des Helden, sondern eine verschwommene und mißlungene Gesamtporträtierung einer vielköpfigen Masse.

Den konsequenten Naturalismus verließ Hauptmann in seinen späteren Stücken. „Hanneles Himmelfahrt“ wird man nicht mit dem späteren Reichskanzler, dem Fürsten Hohenlohe, als „ein gräßliches Machwerk, sozialdemokratisch-realistisch, dabei von krankhaft-sentimentaler Mystik, unheimlich, nervenangreifend, überhaupt scheußlich“ verwerfen dürfen, obgleich es zwischen zwei Stilen und zwei Richtungen schwankt. Denn neben das realistische Moment tritt hier das mystisch-symbolische: in das alte Milieu, das aus den früheren Stücken beibehalten ist, eine elende, durch Trunk, Verworfenheit verderbte schlesische Familie, verwebt sind die Phantasien des sterbenden Kindes, das im Traume Vergangenes neben Zukünftigem erschaut und selbst die Gestalt des Erlösers erblickt. Aber in dieser rührenden Hauptgestalt, dem trostreichen versöhnenden Abschluß, braucht man keinen theatermäßigen Rückschritt zu erblicken, sondern die bewußte und gründliche Umkehr von dem krassen Naturalismus zu poetischer Stimmung.

Eine solche findet sich in gleicher Weise in der „Versunkenen Glocke“ (1896). Statt des visionären Traumes des Kindes das träumerische Dahinleben eines bekannten Künstlers, der, aus dem platten Alltagsleben hinaus, in die Märchenwelt sich rettet.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1627. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/498&oldid=- (Version vom 20.8.2021)