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der gewaltige Eindruck der Lehre Christi, der zwar selbst nicht auftritt, aber dessen Wirkung man überall verspürt, und die Gestalt des Judas, der zwar als Bote Christi erscheint, aber sich schon hier als Verräter ankündigt, sind ungemein ausdrucksvoll ausgeprägt.

Nur weniges Neueste, freilich keineswegs Erfreuliche, mag zum Schluß zusammengestellt werden.

Grotesken.

Zu welchen Grotesken moderne Dichter ihre Zuflucht nehmen, ehrt Carl Sternheim: „Die Hose“ (Berlin 1911). Eine ganz lustige Idee, daß die hübsche Frau Luise Moske eine Hose auf der Straße verliert, wird zu manchen komischen Effekten benutzt: ein Barbier und ein Franzose, beide lüsterne Beobachter dieses Vorganges, melden sich als Mieter, kommen aber nicht recht auf ihre Kosten. Herr Moske ist das gutgezeichnete Urbild eines beschränkten Philisters, Fräulein Deuter das einer alten begehrlichen Jungfer, aber der eine Mieter ist ein unerträglicher, geradezu unmöglicher Schwätzer, dessen Schmeißen mit Geld – er erlegt den jährlichen Mietzins, nach dem Wohnen von wenigen Tagen – ebenso unbegreiflich ist, wie seine plötzliche Begeisterung für eine sich romantisch gebärdende Gefallene, die er, von einem Bombenrausch benebelt, antrifft. Sternheim hat den Ungeschmack nach Molières Vorbild, eines seiner früheren Werte zu zitieren; er möge bedenken, daß man durch Nachahmung der Mätzchen eines Meisters kein Molière wird. In dem Lustspiel „Die Kassette“ desselben Schriftstellers glaubt man sich trotz der glänzenden Idee − eine Erbtante vermacht ihr Vermögen der Kirche, während die Verwandten sich als die gewissen Besitzer wähnen – in einer Gesellschaft von Verrückten zu befinden: so outriert sprechen, so seltsam handeln alle vorkommenden Personen.

Das Grotesk-Satirische in Verbindung mit dem Tragischen, gesundes Liebesgefühl vereint mit krankhaft erotischem, ist in ganz eigener Art in Herbert Eulenbergs, eines ungewöhnlich fein nachempfindenden und Vergangenes poetisch nachgestaltenden Essayisten, „Belinde“, ein Liebesstück in 5 Aufzügen (Leipzig 1913) gemischt. Belinde, mit Eugen verheiratet, hat sich nach jahrelanger Abwesenheit des Gatten mit dem jungen Roger verlobt. Beide lieben sich glühend, da kommt Eugen zurück, reklamiert seine Rechte, verabredet mit seinem Nebenbuhler ein amerikanisches Duell, in dem dieser den Tod suchen muß, kann aber seine Gattin, die zwar ehemalige Liebe für den Gatten wiedererwachen fühlt oder zu fühlen vorgibt, nicht wieder erlangen, da diese sich tötet; als Ausblick wird auch Eugens Tod gezeigt, der Belinde noch immer mit wahnsinniger Leidenschaft liebt. Dieser tragische, halb wirkliche, halb romantische Stoff wird durch die Figur des Bruders Hyazint, „eines Menschen von letztem Adel“, eines hysterisch veranlagten Morphinisten, eines tollen Verschwenders und übergeschnappten ätherischen Liebhabers erheitert, der wähnt, ein geistiges Liebesverhältnis mit einer Malerin zu unterhalten, die er nie gesehen hat, in Wirklichkeit mit einem verwachsenen jüdischen Halsabschneider verkehrt, der den tollen Menschen ausbeutet. Diese seltsame Mischung der Arten: eines wahrhaft poetischen Liebesspiels und eines tollen, kaum glaublich gemachten Spuks verdirbt die Wirkung des bedeutsamen Werkes, wenn es sie auch nicht ganz aufzuheben vermag.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1648. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/519&oldid=- (Version vom 20.8.2021)