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Hier wird mit freier Ausgestaltung des Goetheschen Fragments Odysseus an den Hof des Phäakenkönigs geführt, erwirbt sich durch seine Erscheinung und nachdem sein Name bekannt geworden, die begeisterte Freundschaft des Königs Alcinoos, die zum Teil widerwillige Bewunderung der Höflinge und die leidenschaftliche Liebe der Nausikaa. Das Neue in dieser Dichtung ist, daß Odysseus die Liebe des Mädchens erwidert und in die Heiratspläne willigt, sei es aus Sinnlichkeit, sei es aus Bewunderung der Jugend und Schönheit des Mädchens, sei es aus List, um als Mitregent die Möglichkeit der Heimkehr zu erlangen. Durch Nausikaa aber, die ihm von Gattin und Sohn spricht, von deren Gefährdung sie gehört hat, und von ihr unterstützt, besteigt er ein Schiff, das ihn zu den Seinen führen soll. Bleibt nun auch, um mit Goethe zu reden, dem guten Kinde nichts übrig, als den Tod zu wählen, so wird doch das Ganze eine wahrhaft menschliche Tragödie in schönstem Ebenmaß, in der höchstens der willkürliche Wechsel von fünffüßigen Jamben und Hexametern stört, in der aber einzelne Charaktere, der des Mädchens, der Mutter, des Bruders, des Odysseus, des blinden Sängers in wundervoller Weise gezeichnet sind.

Mittelalter.

Nicht bloß in das griechisch-römische Altertum, sondern auch in die biblische Zeit suchte man sich zu versenken. Aber diese Bearbeitungen des Saul- oder Susannastoffes und ähnlichen haben fast ebenso geringe Bedeutung wie die dramatischen Verklärungen Christi, unter denen außer dem schon erwähnten „Johannes“ von Sudermann höchstens J. V. Widmanns gedanken- und formschöne Dichtung „Der Heilige und die Tiere“ eine Erwähnung verdient.

Interessanter als die Bearbeitungen des Altertums sind die des Mittelalters. Hierbei bemerkt man aber, so sehr auch die Beschäftigung mit historischen Stoffen an das Zeitalter der Romantik gemahnt, keine romantischen Gedanken. Denn es handelt sich nicht, wie es in jener Epoche Sitte war, um eine Verklärung der abgestorbenen Zeit, auch nicht um eine Idealisierung des Katholizismus, sondern häufig wenigstens um eine dichterische Wiederbelebung einer längst verflossenen Epoche.

Ernst Hardt bildet die altgermanischen Sagen in neuartiger Weise um. Seine „Gudrun“ (Leipzig, Insel-Verlag) ist eine gewaltige Dichtung. Das Bedeutsame in ihr ist außer der prächtigen Darstellung kraftvoller Menschen das Moderne der Heldin, wie sie nicht bloß Königin im Lumpenkleide bleibt, sondern wie sie, körperlich durch den Dolchstich der Gerlinde, der Mutter des Normannenkönigs Hartmut, getroffen, seelisch zugrunde geht an dem Zwiespalt zwischen der Treue zu dem ihr verlobten Dänenherrscher Herwig und der Bewunderung, der aufkeimenden Leidenschaft zu Hartmut, der sie geraubt und zu entehren versucht hatte. Die Gestalten des alten Wate, des Königs Hettel, der Gerlinde und der Frauen Gudruns sind mit wunderbarer Kraft geschildert: grauser Humor steht neben wilder Leidenschaft, Treue, die bis zum Tode verharrt, neben der Liebe, die alle Schrecknisse überwindet. In der Zeichnung der Frauen bekundet Hardt wahre Meisterschaft: Gerlinde in ihrem Mutterstolz, Gudrun in ihrer Mischung von Heroine und Bachantin, Sindgurd in ihrer Perversität, Ortrun, die Tochter Gerlindes, in ihrer Lieblichkeit und Unschuld sind Charaktere, die unauslöschlich im Gedächtnis haften.

Und ebenso ist „Tantris (umgekehrt für „Tristan“) der Narr“ ein Stück echtester

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1641. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/512&oldid=- (Version vom 20.8.2021)