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Poesie. Manchmal das Grausame der Geschichte von Tristan und Isolde noch übertrumpfend, vielleicht auch mit dem jähen Abschied Tristans verstimmend, quälend durch das Entsetzliche, daß die Schönste der Schönen den Krüppeln zur Beute gegeben werden soll, bleibt es doch das Werk eines Dichters. Der Charakter des alten, von greisenhafter Wollust verzehrten Marke, des liebessiechen Pagen, der Höflinge und Getreuen Tristans und Isoldes selbst sind wundervoll gezeichnet: die Beschreibung von Isoldes Schönheit durch Tristan, das Liebesgeflüster des innig verbundenen und doch zur Trennung verdammten Paares sind Perlen, wert, im Geschmeide einer Dichterkrone zu glänzen.

Während unter Hardts Händen die alten Sagen neues Leben gewinnen, erscheinen sie bei Eduard Stucken wie tote Schemen: es ist Impotenz, die mit Kraft prahlt. Sein „Lanzelot“, Drama in 5 Akten, Berlin 1909, eines der drei Gralstücke, ist ein widerliches, in knabenhafter Prosa – die äußerlich als Vers erscheint – abgefaßtes Gerede. Lanzelot, ein Schwächling, der weder zur Tugend noch zum Laster Kraft genug besitzt, Artus, ein Trottel, der nach Gebühr zum Hahnrei wird, und Ginevar, eine Hexe, der man nicht gönnt, daß die schöne Elaine ihrer Brunst zum Opfer fällt. Die Verbindung dieser ganz gewöhnlichen Sinnenlust mit der Gralsgeschichte ist ohne jede künstlerische Einheit.

Dem Mittelalter gehört Wilhelm v. Scholz, der Jude von Konstanz, an. In vier Aufzügen mit einem Nachspiel, ein gutes Gemälde aus dem 15. Jahrhundert, in dem der tragische Ausgang eines getauften jüdischen Arztes Nasson und seiner Geliebten Bellet, sowie der Untergang der Juden in Konstanz dargestellt wird. Das Psychologische ist nicht recht getroffen: wieso dieser Jude, der zum Christentum übergegangen ist, aber innerlich doch Jude bleibt, seinen ehemaligen Glaubensgenossen Rettung bringt und sich dadurch Verderben bereitet, ist nicht tief genug begründet.

Die übrigen Epochen der Geschichte werden nicht allzu häufig behandelt.

Neuere Zeit.

Ein Beispiel bietet Heinrich Lilienfein in seinem Schauspiel „Der Stier von Olivera“, in der eine Episode aus dem französisch-spanischen Kriege spannend erzählt wird: der Liebeswahnsinn eines französischen Generals zu einer jungen Spanierin und die Bewunderung für Napoleon, die schließlich über die senile Erotik triumphiert, werden geschickt zu einem belebten Ganzen verbunden.

Napoleon.

Von Persönlichkeiten der neueren Geschichte ist eigentlich nur die Riesengestalt Napoleons oft vorgeführt worden (um nur einige zu nennen: R. Voß, Hans Biesedahl, Hans Müller), ohne daß es irgendeinem gelang, dem gewaltigen, verwerflichen, für Deutschland so verhängnisvollen Großen dichterisch völlig gerecht zu werden.

Renaissance.

Gegenüber der Ungunst, welche den meisten geschichtlichen Epochen zuteil wurde, ist auf die Gunst hinzuweisen, welche die Renaissancezeit erfuhr. Ich glaube zwar nicht, daß in späteren Epochen die Periode, die wir jetzt durchschreiten, an innerer Bedeutung der Renaissancezeit gleichgestellt werden wird;

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1642. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/513&oldid=- (Version vom 20.8.2021)