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Max Halbe.

Unter den konsequenten Naturalisten ist höchstens noch Max Halbe zu nennen, der mit seiner „Jugend“ (1893) einen außerordentlichen Erfolg davontrug: ein soziales Drama, das nicht bloß durch das bisher wenig geschilderte deutsch-polnische Milieu, auch nicht allein durch die wirkungsvolle Vorführung eines katholischen Geistlichen, sondern durch die vortreffliche, wenn auch mitunter zu stark naturalistische Ausmalung des Erwachens der Liebe bei Knaben und Mädchen die allgemeine Anerkennung verdient, die ihm zuteil ward.

Aber es blieb bei ihm, wie bei so manchen Poeten früherer Zeit, bei diesem einen Erfolge; keines seiner späteren Werke konnte an Bedeutung und Wirkung dem Erstling nur von ferne gleichkommen. Eines seiner letzten Dramen, „Der Strom“, ist ein verwickeltes Familienstück, das an veraltete Vorbilder erinnert: ein älterer Bruder, der die jüngeren um ihre Erbschaft betrügt, darüber seine Gattin verliert und im Kampfe mit seinem jüngsten Bruder zugrunde geht. Überaus künstlich, nicht künstlerisch, d. h. rein äußerlich, ist ein Dammbruch mit diesem Familiendrama in Verbindung gesetzt.

Im Anschluß an Halbe, obwohl vielleicht durch diese Aneinanderreihung seine Bedeutung über Gebühr erhöht wird, kann man von drei Richtungen sprechen, die in den modernen Produktionen bemerkbar sind: die eine die Sinnlichkeit, die andere die Heimatskunst, die dritte, die ich zunächst mit kurzem Worte als Erdgeruch bezeichnen möchte.

Sinnlichkeit.

Die Sinnlichkeit war immer Gegenstand von Theaterstücken. Während aber früher namentlich in dem von Frankreich Importierten der Sieg der Lüsternheit mit allerlei perversen Mittelchen gezeigt wurde, handelt es sich nun darum, das Aufkeimen der Sinnlichkeit als ein natürliches Phänomen, wenn auch nicht zu glorifizieren, so doch als etwas Unabwendbares darzustellen (Wedekinds „Frühlings Erwachen“ vgl. unten). Vor allem gilt es aber, einen Kampf zu führen gegen die konventionelle Sittlichkeit, gegen die sich mit dem Tugendmantel drapierende Ehrbarkeit und die großen Löcher jenes Tugendmantels zu zeigen.

Das ist eine neue Art, die sich im Lustspiel geltend macht. Sie wird durch eine Theorie begründet, die naturgemäß als die einzig richtige gilt, während die früheren als grundfalsch hingestellt und ihre Bekenner als Idioten gescholten werden. Früher galt als Gesetz, daß die Komödie lachend Unsitten zu strafen hatte. Dagegen erhebt sich ein Wortführer der neuen Richtung, Joseph Ruederer, indem er sagt: „Wird ja doch stets in der Komödie in Lüge und Intrigue, in Überlistung und Betrug, in Unkeuschheit und ehelicher Untreue das Möglichste geleistet zugunsten der Erzielung komischer Situationen; von einer Bestrafung der Unsittlichkeiten ist dabei so wenig die Rede, daß eine solche vielmehr die Komik aufheben würde. Die einzige Strafe, das Lächerlichwerden, trifft Gute und Böse so gleichzeitig, wie in der Tragödie der Untergang. Die treulosen, falschen, rücksichtslosen und unzarten Helden der Komödie empfangen vielmehr den Lohn, zuletzt in der Hauptsache ihren Willen zu kriegen.“ Bei diesem Plädoyer verfährt Ruederer zwar wie ein guter Advokat, aber wie ein schlechter Historiker. Denn wenn er Plautus und Aristophanes als seine Gewährsmanner anführt, so vergißt er Molière und Shakespeare, auch Kleist und Goethe. Vor allen Dingen beurteilt er auch seine Komödie

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1633. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/504&oldid=- (Version vom 20.8.2021)