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Schwiegermütter, ältliche, mit den Lebensfreuden fertige, weil enttäuschte oder vielerfahrene Jungfrauen, die, weil sie selbst mit dem Dasein abgeschlossen haben, ihre Aufgabe darin erblicken, anderen das Leben zu vergällen.

Kinder.

Auch bei den Kindern ist das Hervordrängen der Kindlichkeit völlig vergessen oder mindestens in den Hintergrund geschoben. Wie fern stehen der neuen Zeit die munteren zimperlichen Backfische oder die „süßen“ Kinder vergangener Tage. Sprößlinge, die sich zaghaft wider den rauhen Befehl des Vaters aufbäumen oder die eindringlich zärtlichen Mahnungen der Mutter durch Liebkosungen und Schmeicheleien zunichte zu machen suchen, sind kaum denkbar; sie sind verdrängt durch selbstbewußte, ihres Ichs innegewordene, auf die Kraft ihrer Individualität pochende Lebewesen; an die Stelle der Pietät ist das Hochhalten des Selbstbestimmungsrechts getreten, das seine Begründung in dem frechen Wort und Gedanken findet, daß die Kinder ja keinen Anteil an dem Umstand besitzen, in die Welt gesetzt worden zu sein.

Männer.

Unter den Männern gibt es wohl nach wie vor Herren und Schwächlinge, Sinnenmenschen und Tugendbolde, aber der Typus der Herrenmenschen, wie er sich früher in der selbstherrlichen Verfügung über das Weib äußerte, ist verbannt und nur insofern geblieben, als der Mann so gut wie die Frau sich selbst den Weg bestimmt, zum Teil gegen die Gesetze und gewiß gegen die Konvention. Auffallend häufig begegnet auf dem Theater wie in der modernen Gesellschaft überhaupt der verwöhnte Jüngling oder der ältere Mann, der mit den Manieren der Jugend prahlt, der Beschäftigungslose, der von dem Gelde seiner Eltern oder von Schulden ein kostspieliges Dasein führt. Auch das ist freilich kein Novum – die Romantik kannte diesen Typus freilich mehr im Roman als im Drama unter der Bezeichnung des „schönen Leichtsinns“. Nur ein allerdings bedeutsamer Wesensunterschied besteht: die Helden der Romantik gleichen mitunter den Riesen, die Bäume zu entwurzeln vermögen, die der neusten Zeit sind Dekadenten. Sie tragen sichtlich alle Spuren des Verfalls an sich: sie wissen nichts von der Vergangenheit, denn der Genuß, den sie erschöpft haben, widert sie an. Die Gegenwart ist ihnen langweilig und die Zukunft trostlos.

Offiziere.

Während in früheren Zeiten solche Hohlköpfe vielfach dem Adel entnommen waren, hat infolge des Wandels der Anschauung, der Demokratisierung der Gesinnung diese Bevorzugung des Adligen gegen die Bürgerkanaille aufgehört; junge und alte Lebemänner entstammen bürgerlichen Kreisen. Geblieben ist vielleicht nur die Vorliebe für den Offiziersstand; nur wird der schneidige Offizier nicht mehr ausschließlich als Abgott der jungen Mädchen hingestellt – wie etwa noch in Kadelburgs „Husarenfieber“ –, sondern in ernsten Konflikt mit der Standesehre und mit dem bürgerlichen Pflichtgefühl gebracht (Hartlebens „Rosenmontag“, Sudermanns „Morituri“, Beyerleins „Zapfenstreich“, eines der erfolgreichsten, meistnachgeahmten und auch ins Ausland importierten Stücke unserer Epoche).

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1645. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/516&oldid=- (Version vom 20.8.2021)