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das freilich als letztes Opfer den Verführungskünsten des Diabolo anheimfällt. Das alles so schön unwahrscheinlich wie im echten Märchen und doch auf die Stufe höherer Vermenschlichung gehoben; auch für Gruseln und Humor wird reichlich gesorgt.

Die hauptsächliche Wiederbelebung des Märchens verdankt man Elsa Bernstein (E. Rosmer) „Die Königskinder“ (1895). Sie sind ein frei erfundenes Märchen voll kräftiger Phantasie und dichterischer Feinheit, mit dem keine der vielen Nachahmungen, die bekannte Figuren wie Blaubart, Dornröschen, Melusine vorführen, irgendwie zu vergleichen sind.

So sehr nun aber auch das Stoffliche in der Geschichte reizte und das Phantastische im Märchen lockte, – die eigentliche Domäne des modernen Dramatikers bleibt doch die Gegenwart, das reale Leben.

Stände.

Zunächst dienen die Vertreter der verschiedenen Stände zu poetischer Betrachtung und Verwertung. Es ist in der obigen Betrachtung häufig darauf hingewiesen worden, wie Männer und Frauen, wie Kinder beiderlei Geschlechts in ihren Gefühlserregungen beobachtet und analysiert wurden. Im älteren Theater konnte man sich kaum ein Stück ohne Liebe denken; ein solches ausschließliches Wertlegen auf die Liebe liegt dem Modernen fern. Trotzdem steht die Frau immer im Vordergrunde, von allem anderen abgesehen schon aus dem Grunde, da auch die Modernen den Reiz, den schöne Toiletten und pikante Gesichter auf die Zuschauer ausüben, nicht entbehren mögen. Nur wenige Dichter sind absichtlich oder unabsichtlich auf das Kunst- oder vielmehr Virtuosenstück verfallen – denn ein solches Verfahren hat mit wirklicher Kunst kaum etwas zu tun – Frauenrollen ganz auszulassen. So erscheint z. B. in Schnitzlers „Professor Bernhardt“ nur eine weibliche Person, eine Krankenschwester. Und ihre Tätigkeit vollzieht sich mehr hinter als auf der Bühne.

Frauen.

Fragt man sich nun, in welcher Weise die Vertreter der verschiedenen Geschlechter ausgestaltet werden, so dürfte sich schwerlich eine Gleichheit in der Charakteristik finden. Die koketten und lüsternen, die emanzipierten und blaustrümpfigen, die tätig häuslichen und die in Vergnügungen schwelgenden Frauen werden abwechselnd gezeichnet; gemeinsam ist den Dichtern nur, daß der schon von der Renaissance gepredigte Grundsatz, das Weib sei dem Manne gleich, – jene Zeit bezog es freilich in höherem Grade auf Bildung als auf sittliche Gleichberechtigung – allgemeine Gültigkeit erlangt hat. Während das französische Sittenstück für die Frau nur das Recht auf Ehebruch reklamierte als Bestrafung für die Leichtfertigkeit der Männer, die ein Hauen über die Stränge als ein Privilegium ihres Herrenrechtes beanspruchten, lehrt die Moderne das innere Recht, den auf Grund der entwickelten Wesenheit der Frau ihr zukommenden Anspruch, sich „auszuleben“, sich „selbst zu setzen“. Daher hat sie weder Platz für die Ingénues, jenes fast unentbehrliche Requisit aus der Väter Tagen: die lebensunkundigen, im Traumleben der Phantasie herumirrenden Naiven, noch für die schnippischen Kammerzofen, noch für die würdigen Duennas, die ehedem die schützende Leibwache unerfahrener Mädchen und Frauen bildeten, noch für die Tugenddrachen,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1644. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/515&oldid=- (Version vom 20.8.2021)