Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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die Gattin, die Orpheus aus der Unterwelt zurückholen darf, die ,Weithinrichtende‘
Band VI,1 (1907) S. 13221325
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Eurydike (Εὐρυδίκη). 1) Die berühmte Gattin des Orpheus, deren Verlust ihn bewog, in die [1323] Unterwelt hinabzusteigen, um die Herrscher der Unterwelt zur Herausgabe der Abgeschiedenen zu bewegen. Es kann wohl nicht mehr zweifelhaft sein, daß diese E. ursprünglich eine Form der Unterweltsgöttin (die ,Weithinrichtende‘) ist, ähnlich wie etwa Βασίλη, vgl. J. E. Harrison Prolegomena to the Study of Greek Religion, 1903, 604. Darnach muß man annehmen, daß die älteste Sage von Orpheus und E. die war, daß der berühmte Sänger der Vorzeit in die Unterwelt stieg, um die Göttin derselben durch seinen Gesang zu bezwingen und heraufzuholen. Aber literarische und monumentale Belege für diese Vermutung sind nicht vorhanden. Jedenfalls steht fest, daß die später so populäre Sage von Orpheus, der seine früh verstorbene Gattin E. aus der Unterwelt heraufholt, sich vor der alexandrinischen Zeit mit Sicherheit garnicht nachweisen läßt. Die den Mythus erwähnenden Stellen der Literatur des 5. und 4. Jhdts. (Lobeck Aglaophamus I 373) sind durchaus kontrovers und nennen den Namen der E. überhaupt nicht: Euripides Alkestis 357ff. Kirchh. εἰ δ' Ὀρφέως μοι γλώσσα καὶ μέλος παρῆν, ὤστ' ἢ κόρην Δήμητρας ἢ κείνης πόσιν ὕμνοισι κηλήσαντά σ' ἐξ Ἅιδου λαβεῖν, κατήλθον ἄν – –. Isokrates XI 8 (Ὀρφεὺς) ἐξ Ἅιδου τοὺς τεθνεώτας ἀνῆγεν. Plat. symp. 179 D Ὀρφέα δὲ τὸν Οἰάγρου ἀτελῆ ἀπέπεμψαν ἐξ Ἅιδου, φάσμα δείξαντες τῆς γυναικὸς ἐφ' ἣν ἦκεν, αὐτὴν δὲ οὐ δόντες, ὅτι μαλθακίζεσθαι ἐδόκει, ἃτε ὢν κιθαρῳδός, καὶ οὐ τολμᾶν ἕνεκα τοῦ ἔρωτος ἀποθνῄσκειν ὤσπερ Ἄλκηστις, ἀλλὰ διαμηχανᾶσθαι ζῶν εἰσιέναι εἰς Ἅιδου. Platons Bericht von dem φάσμα, das die Götter dem Orpheus statt des Weibes, deswegen er in den Hades ging, gegeben haben, so daß er unverrichteter Sache (ἀτελής) in die Oberwelt zurückgehen mußte, ist ganz singulär und vielleicht durch das von Stesichoros erfundene εἴδωλον der Hera beeinflußt (vgl. A. Hugs Kommentar zum Symposion S. 43). Möglicherweise hat auch die Alkestis des Euripides eingewirkt (Ο. Gruppe bei Roscher Lex. III 1158). Auch das vielbewunderte Relief des 5. Jhdts. (Brunn-Bruckmann nr. 341 a) ist noch immer nicht sicher gedeutet worden und darf als Beweis dafür, daß die bekannte Form der Sage von dem durch Orpheus Ungehorsam verschuldeten Mißlingen seiner Hadesfahrt bereits im 5. Jhdt. bekannt war, nicht benutzt werden (die verschiedenen Deutungen des Reliefs ausführlich besprochen bei Gruppe a. a. O. 1194ff., wo auch die gesamte Literatur). Es scheint vielmehr sicher zu sein, daß die Sage von der versuchten Heraufholung der Gattin erst später auf E. übertragen worden ist, und daß dieselbe zunächst nicht E., sondern Agriope, die ,Wildblickende‘ geheißen habe, die ihrem Namen nach auch eine Form der Unterweltsgöttin sein könnte. Die Sage war erwähnt in der Leontion des Hermesianax von Kolophon (Athen. XIII 597 B), wo der Zusammenhang beweist, daß nur die Version von der verunglückten Hadesfahrt des Orpheus gemeint sein kann. Daß Zoëgas Änderung des Namens Agriope nicht nötig ist, hat Maass Orpheus 150, 41 mit Recht hervorgehoben (s. auch Gruppe a. a. O. 1158).

Von der römischen Zeit an ist jedenfalls E. der Name der Gattin des Orpheus, die diesem [1324] unter der Bedingung von Hades und Persephone zurückgegeben wird, daß er sich nicht nach ihr umblickt. Erste sichere Erwähnung der E. als Gemahlin des Orpheus wohl im Ἐπιτάφιος Βίωνος 123 (Moschos III, Bucolici Graeci rec. v. Wilamowitz p. 95; vgl. dazu v. Wilamowitz Textgeschichte der Bukoliker 66ff.); aber auch da ist der unglückliche Ausgang der Heraufholung nicht deutlich ausgesprochen. Wie alt dieser Mythus ist, läßt sich garnicht ausmachen. Denn natürlich kann es lediglich auf Zufall beruhen, daß er erst so spät in der Literatur begegnet. Jedenfalls ist überzeugend noch niemals nachgewiesen worden, daß die erste literarische Fixierung des E.-Mythus ein attisches Drama oder eine orphische Dichtung gewesen ist. Die erstere Ansicht bekämpft Gruppe a. a. O. 1159 sehr mit Recht, für die letztere führt auch er keine durchschlagenden Gründe an. Über die Alexandriner hinaus, die doch wohl auch hier die Quelle für die römischen Dichter gewesen sind, läßt sich der eigentliche E.-Mythus nicht verfolgen. Älteste ausführliche Darstellung desselben bei Verg. Georg. IV 453ff., die Maass Orpheus 295f. auf Philetas zurückführen wollte. Ihm folgt mit einigen Abweichungen Ovid. met. X 1ff. (s. dazu Ehwalds Kommentar und über Phanokles Maass Orpheus 288, 87). Von da an ist die Erwähnung des E.-Mythus eine überaus häufige und einheitliche (über Lucans Darstellung Maass a. a. O. 289, 88). Der Kern desselben ist folgender: Die mit Orpheus jungvermählte E. wird von einer Schlange (nach Ovid am Knöchel) gebissen, nach Vergil auf der Flucht vor dem ungestümen Liebeswerben des Aristaios (vgl. Maass a. a. O. 289, 88); nach Ovid, der den Aristaios so wenig erwähnt wie die übrige Literatur außer Fulgentius III 10 p. 77 H. und dem Mythogr. Vatic. I 76. III 8, 20, haben die Hochzeitsfackeln schon nicht brennen wollen und dadurch eine kurze Ehe verkündet. Bei Vergil a. a. O. 460 begleitet E. bei ihrer Flucht ein chorus aequalis dryadum, bei Ovid. a. a. O. 9 eine Naiadenschar. Darnach ist sie also von diesen – und dann sicher auch in der alexandrinischen Quelle – als Nymphe gedacht. E. Apollons Tochter wie Apollon auch öfter Vater des Orpheus (Maass a. a. O. 148, 38) ist, Mythogr. Vatic. I 76. Wie sich Orpheus die E. erworben hat, ist nur bei Fulgent. III 10 und dem Mythogr. Vatic. III 8, 20 überliefert (vgl. Maass a. a. O. 149, 40): Orpheus Euridicem nimfam amavit; quam sono citharae mulcens uxorem duxit. Ob dazu das von R. Schoene Bull. d. Inst. 1867, 49f. behandelte pompeianische Bild gehört, steht dahin (Gruppe a. a. O. 1160). Nach dem Tode der E. steigt Orpheus in die Unterwelt, um das Herrscherpaar derselben durch seinen Gesang zu erweichen und die Gattin wiederheraufzuholen. In verschiedener Weise wird nun von den römischen Dichtern (s. die Zusammenstellung bei Gruppe a. a. O.) ausgemalt, wie der Gesang des Orpheus da unten wirkt. Über die unteritalischen Vasenbilder mit der Hadesfahrt des Orpheus vgl. A. Winkler Darstellung der Unterwelt auf unteritalischen Vasen, Breslau 1888; E. (oder Agriope ?) nur auf der Vase Santangelo 709 Heydemann; Winkler a. a. O. 29. Orpheus [1325] erhält die E. unter der Bedingung, nicht umzublicken, bis er wieder zur Oberwelt gelangt ist. Fast am Ziele schon wendet er sich um und verscherzt sich die Gemahlin auf ewig. Alle moderne Literatur s. bei Gruppe a. a. O. 1157ff., dessen eigene Folgerungen aber mit Vorsicht aufzunehmen sind. Die Kritik seiner Vorgänger ist aber oft sehr zutreffend. Weiteres s. im Art. Orpheus.

[Kern. ]