Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Elegischer Dichter
Band VIII,1 (1912) S. 823 (IA)–828 (IA)
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2) H., elegischer Dichter. Seine Heimat ist die des Mimnermos und Antimachos, Kolophon (Athen. 597 a; vgl. auch Schol. Nicandr. Ther. 3), das überhaupt so reich an Dichtern war, daß [824] Nikander ein eigenes Werk περὶ τῶν ἐκ Κολοφῶνος ποιητῶν schrieb (Schol. Nic. Ther. a. O.). Mit dem H., dem Nikander seine Θηριακά widmete, hat übrigens unser H. aus chronologischen Gründen nichts zu tun (Bach 107). Die Zeit des H. hat man vordem zu frühe angesetzt mit bezug auf Paus. I 9, 8, der in den Gedichten des H. eine Klage über die Zerstörung Kolophons durch Lysimachos vermißte und deshalb annahm, er habe dieselbe nicht mehr erlebt; diese Zerstörung aber glaubte man aus Diodor. XX 107 auf das J. 302 ansetzen zu müssen. Mit Recht hat schon Bach 91 demgegenüber betont, daß H. den Philitas nicht vor 302 als einen so hochangesehenen Dichter feiern konnte, wie er es frg. 5, 75ff. tut (Philitas hat etwa von 340–285 gelebt, vgl. Susemihl I 176). Und die Bildsäule, mit der nach H. (a. O.) den Philitas seine dankbaren Mitbürger von Kos ehrten, wird doch auch erst nach seinem Tode errichtet worden sein (Susemihl I 176, 14). Trotzdem braucht man nicht mit Bach 90 und Häberlin Carmina figurata² 53, 4 das Argumentum ex silentio des Pausanias vollständig zu verwerfen. Der Fehler liegt in der Ansetzung der Zerstörung Kolophons auf 302. Rohde 75, 1 hat gezeigt, daß Diodor a. O. für dieses Jahr keine Zerstörung Kolophons berichtet, sondern nur eine Einnahme, und daß die anläßlich der Verlegung von Ephesos erfolgte Vernichtung der Städte Lebedos und Kolophon durch Lysimachos sicher nicht vor 300, wahrscheinlich aber nicht vor dem völligen Sturze des Demetrios (287) erfolgt ist. Immerhin gehört also H. der älteren Generation der alexandrinischen Dichter an. Als φίλος καὶ γνώριμος des Philitas erscheint er Schol. Nic. Ther. 3, gehörte also wie Theokrit zu den Schülern des Koers. Auf ganz unsicherem Boden aber bewegen wir uns, wenn wir ihn mit Häberlin a. O. 52 als den Ageanax in Theokrits 7. Jdylle, wo dieser das koische Poetenleben um Philitas schildert, deuten, vgl. Susemihl I 184, 54. Christ-Schmid Gr. Lit.-Gesch. II 1⁵ 148, 4. H. veröffentlichte drei Bücher Elegien (Athen. 597 a), nach seiner Geliebten, die mit der Hetäre des Epikur und der Epikureer nur den Namen gemeinsam hat (Susemihl I 185, 57) ‚Leontion‘ benannt. Sie redet er öfters direkt an (frg. 5, 49 γινώσκεις, 75 οἶσθα, 73 γινώσκεις ἀίσσουσα, vgl. Rohde 77, 1), und diese Anrede und Widmung an das geliebte Mädchen ist das Band, das die verschiedenen Liebeserzählungen, die H. vorbringt, zu einem Ganzen vereinigt. Denn erzählend ist diese ganze Elegiensammlung. Von Buch I und II können wir uns allerdings eine deutliche Vorstellung nicht mehr machen. Der einzige aus Buch I erhaltene Vers bei Herodian π. μον. λέξ. I 16 belehrt uns, daß hier von Polypheras Liebe zu Galateia gehandelt war, ein Thema, das nach Philoxenos bei den Alexandrinern sehr beliebt war (Rohde 77, 2). Sicher ist hier übrigens H. von Philoxenos beeinflußt, denn aus v. 69ff. des großen Fragments geht hervor, daß er dessen Dithyrambus kannte (vgl. Holland De Polyphemo et Galatea, Leipz. Stud. VII 230). Im 1. Buche mögen nun auch, wie man nach dem Vorgange von Bach 96f. ziemlich allgemein annimmt, die anderen Hirtenliebesgeschichten gestanden haben, die von Menalkas und Euippe auf [825] Euboia (frg. 3 = Argum. ad Theocr. Idyll. IX) und die von Menalkas und Daphnis (frg. 2 = Schol. ad Theocrit. VIII 55). Letzteres Liebesverhältnis möchte Rohde 78, 1 allerdings auf einen Irrtum des Theokritscholiasten zurückführen, um damit die einzige Stelle, wo in den Elegien des H. von Knabenliebe die Rede ist, ausmerzen zu können, was bei einem Zeitgenossen des Phanokles und Theokrit immerhin bedenklich ist. Aus dem 2. Buche stammt die 39. Metamorphose des Antoninus Liberalis nach der Aufschrift: ἱστορεῖ Ἑρμησιάναξ Λεοντίου β’. Hier war gehandelt von der Liebe des Kypriers Arkeophon zu der stolzen Königstochter Arsinoë, die unglücklich endet, indem Arkeophon, der keine Erhörung findet, sich durch Hunger tötet, Arsinoë aber wegen ihrer Härte in einen Stein verwandelt wird. Auf Grund dieses einen Fragmentes glaubte man, im 2. Buche habe H. überhaupt von unglücklich ausgehenden Liebschaften erzählt, und verwies die anderen uns bekannten derartigen Geschichten, bei denen das Buch der Dichtung nicht angegeben ist, so die von Leukippos und seiner Schwester (frg. 6 = Parthen. Erot. c. 5), von Nanis und Kyros (frg. 11 = Parthen. Erot. c. 22), in das 2. Buch (so besonders Schulze Quaestiones Hermesianacteae, Leipzig 1858, 37). Alle solche Versuche, dem Dichter eine bestimmte Ordnung zuzuschreiben, sind müßig, vgl. Holland a. O. 229f. Aus dem 3. Buche sind bei Athen. 597 b 98 Verse erhalten. Sie genügen, um uns über den Charakter dieses Buches sowie manche andere Eigenheiten der Dichtung des H. zu unterrichten. H. erzählt der Geliebten die Liebesgeschichten berühmter Dichter von den sagenhaften Orpheus und Musaios bis zu den zeitgenössischen Philoxenos und Philitas, um dann von v. 85 ab nach demselben Gesichtspunkt die Philosophen zu behandeln. Pythagoras, Sokrates und Aristipp werden noch in dem erhaltenen Bruchstück behandelt. Das Ganze hat einen katalogmäßigen Charakter (κατάλογον ποιεῖται ἐρωτικῶν: Athen. a. O.) und ist von diesem Gesichtspunkt aus literarhistorisch einzureihen. Zweifellos geht H. aus von der Katalogdichtung des Antimachos, dem er ja auch die Verse 41–46 widmet. Das Motiv, die Liebschaften großer Männer der Vorzeit der Reihe nach zu behandeln, ist beiden gemeinsam, gemeinsam vielleicht aber auch der Anlaß. Antimachos’ Lyde ist ein ἐπικήδειον, gedichtet nach dem Tode der Geliebten; dasselbe wird auch von der Leontion angenommen (Jacoby Rh. Mus. LX 47,4. Ellenberger 67). Beweisen freilich läßt es sich nicht; immerhin sprechen die direkten Anreden wenigstens nicht dagegen (Jacoby a. O.). Weiter kommt vielleicht als Vorbild für H. Mimnermos in Betracht, der nach einer Vermutung Kaibels (Herm. XXII 510), die sich stützt auf das Mimnermosfragment bei Strab. I 46, verglichen mit Apoll. Rhod. III 1ff., die Macht der Liebe in einer Reihe von Erzählungen zu beweisen suchte (der Widerspruch Ellenbergers 64 gegen Kaibel ist belanglos). Nun geht ja die ganze Katalogpoesie weiter zurück auf Hesiod, und Hesiodimitation wird auch bei H. vorliegen (s. Crusius o. Bd. V S. 2281. Couat La poésie Alex. 92). Nach Ellenberger 60 dürfte allerdings der hesiodeische Einfluß auf H. nicht überschätzt [826] werden; der Charakter des ἐπικήδειον sei eben ein anderer; viel wahrscheinlicher sei der Einfluß einzelner Homerstellen, wo ebenfalls zum Zwecke des Trostes in katalogischer Form allerlei Mißgeschicke der Vorzeit aufgezählt würden, z. Β. Il. V 383ff. und Od. V 121ff. Das alles ist sehr hypothetisch, weil die Voraussetzung dazu, nämlich die ‚elegische‘ Grundstimmung der Leontion nicht bewiesen ist und besonders weil jene homerischen Erzählungen nicht erotisch sind.

Geht so die Form auf ältere Vorbilder zurück, so ist die Behandlung im einzelnen aus der Zeit des Dichters selbst zu erklären. H. ist einer der ersten in der Reihe der alexandrinischen Dichter, die zugleich Gelehrte sind, und die mit ihren Forschungen in ihren Gedichten nicht zurückhalten. Vorangegangen war ihm darin sein Lehrer Philitas, wohl der erste ποιητὴς ἅμα καὶ κριτικός (Strab. 657). Als Gelehrte sind beide nicht zu trennen von den peripatetischen Studien ihrer Zeit. Das beweist für H. zunächst seine Chronologie der Dichter und die Ordnung in der Aufzählung der einzelnen Dichtungsgattungen, die er im 3. Buch befolgt (Ellenberger 8). Sodann gefällt er sich wie die peripatetische Biographie des Chamaileon und später des Hermipp (s. d.), in kurioser Textinterpretation. Die Tendenz ist, Näheres zu erfahren von berühmten Männern der Vergangenheit, von denen authentische Nachrichten fehlten. Auf diese Weise bekommt Hesiod die famose Geliebte Eoia (v. 24), wird, insbesondere die Biographie der Lyriker bereichert. Die ‚Interpretation eines anakreontischen Liedes und der Glaube an eine gefälschte Sapphostrophe‘ (Leo Die griech.-röm. Biogr. 106) verleitet sowohl Chamaileon als H. (v. 47ff.) zur Annahme eines Liebesverhältnisses zwischen Anakreon und Sappho. Ist man sich darüber klar, so weiß man auch, daß es einerseits nicht angeht, diese Notiz ernst zu nehmen, wie es Beloch (Rh. Mus. XLV 473) tut, noch auch als von schalkhaftem Humor eingegeben zu betrachten (so Crusius Philol. LV 7; o. Bd. V S. 2282), eine Ansicht, die freilich bis ins Altertum zurückgeht: Athen. 599 d.

Speziell alexandrinisch ist sodann die ätiologische Sagenbehandlung des H. Hierher gehört seine Arkeophonsage, die an einen menschenähnlichen Stein auf Kypros anknüpft (Rohde 79), aber auch die Art und Weise, wie er im Athenaiosfragmente die Entstehung der Gedichte eines Hesiod, Homer usw. erklärt (Ellenberger 67). Das αἴτιον ist bei H. immer die Liebe, und durch diese Beschränkung unterscheidet seine Dichtung sich von den Αἴτια des Kallimachos, die durchaus nicht nur erotisch waren (vgl. Rohde 86). Überhaupt hatte ja damals noch nicht die Autorität des Kallimachos alles in ihren Bannkreis gezogen. Für H. gilt das ἀμάρτυρον οὐδὲν ἀείδω noch nicht in unbeschränktem Maße. Pausanias bemerkt zweimal, daß H. willkürlich Sagen umgebildet habe (vgl. Rohde 98, 1), und für die Arkeophonsage können auch wir es noch nachweisen. Hier tut H. den kühnen Schritt, eine Legende, die ursprünglich zeitlos war, an einen historischen Namen und zwar der nächsten Vergangenheit anzuknüpfen, an Nikokreon, den Fürsten von Salamis, während eine ursprünglichere Version derselben Sage bei Ovid. met. XIV 696ff. vorliegt (vgl. Bach 97. Rohde 79).

[827] Die späteren alexandrinischen Dichter stehen zum großen Teil unter dem Einfluß des H. Das gilt einmal von der Katalogdichtung (vgl. Rohde 83), vielleicht schon von den Ἔρωτες ἢ καλοί des Phanokles und Ἀπόλλων des Alexander Aitolos, sicher wohl von dem κατάλογος γυναικῶν des Nikainetos und den Ἠοῖοι des Sosikrates von Phanagoria (Susemihl I 381f.). Eine Einwirkung des H. scheint sodann bei Simmias von Rhodos vorzuliegen (Reitzenstein o. Bd. VI S. 86), der Elegiendichter und Epigrammatiker zugleich war, wie denn überhaupt das 3. Buch der ‚Leontion‘ in seinen einzelnen Teilen eine große Ähnlichkeit mit Katalogepigrammen hat (Reitzenstein o. Bd. VI S. 94. 100. Ellenberger 67). Ferner ist von H. nicht zu trennen Parthenios, dessen Ἀρήτη die Λύδη und die Λεόντιον zur Voraussetzung hat (Jacoby Rh. Mus. LX 47), und der in seinen Ἐρωτικὰ παθήματα den H. benützt und zwar direkt; denn wenn auch (was Bethe Herm. XXXVIII 608ff. zu widerlegen sucht) die Quellenangaben am Rande der Handschrift nicht direkt auf Parthenios zurückgehen (Literatur hierüber bei Christ-Schmid Gr. Lit.-Gesch. II 1⁵ 248, 1), so ist es doch aus verschiedenen Gründen (die Rohde 115, 2 geltend gemacht hat) sicher, daß er den H. tatsächlich herangezogen hat. Schließlich benützt auch Antoninus Liberalis den H. direkt, da die Quellenangabe zu Metam. c. 39 – im Gegensatz zu den meisten anderen – von Antoninus selbst herrührt (so Martini Mythogr. Graeci II 1, 1896, praef. LXI).

Über die Sprache des H. handelt Ellenberger 52; dazu die Indices 68. Es zeigt sich, daß der Kolophonier enge Berührungen hat mit der gleichzeitigen Epigrammatik, besonders mit Leonidas von Tarent. Bei Homer, Hesiod und dem Drama macht er starke Anleihen, indem er einmal manche ihnen eigentümliche Wortformen, besonders Glossen herübernimmt, teils auch an Weiterbildungen seine Freude hat. Charakteristisch ist auch, daß er bei der Aufzählung der einzelnen Dichter gerne aus der Diktion dessen schöpft, von dem er gerade spricht. In seinem Versbau fällt die überaus häufige Verteilung von Adjektiv und Substantiv auf das Ende der beiden Halbverse des Pentameters auf. In der Hiatvermeidung ist er noch lässig. Über anderes vgl. Couat La poésie Al. 96.

Nach Schol. Nic. Ther. 3 hat H. auch Περσικά geschrieben. Mit dieser ganz vereinzelten Notiz weiß man nichts anzufangen. Rohde 82, 2 und Susemihl I 187, 69 glauben, daß der Scholiast sich geirrt habe. Eine persische Geschichte wird man dem H. nicht leicht zuschreiben, trotzdem eine solche wohl auch poetische Form haben konnte (vgl. die Αἰτωλικά des Nikandros; Susemihl I 303, 99), eher vielleicht einen historischen Roman, der dann sehr wohl, wie Ruhnken (bei Bach 216) und Bach (103f.) annehmen, die Geschichte der Kroisostochter Nanis, die Sardes an Kyros verrät (Parthen. Erotic. c. 22), enthalten konnte, wie denn Parthenios auch sonst sagengeschichtliche Romane heranzog, so die Τρωϊκά des Kephalon von Gergithes (c. 4 und 34; vgl. Susemihl II 31f.). Wie dem auch sei, an der Notiz des Nikanderscholiasten zu zweifeln, liegt kein Anlaß vor. Übrigens ist es bei einigen Hs.-Fragmenten [828] sehr zweifelhaft, ob sie aus der Λεόντιον stammen, so bei frg. 7 = Paus. VII 17, 5, das über Attis handelt, deshalb, weil es nicht erotisch ist, und bei frg. 10 = Paus. VII 18, 1, wo ein ἐλεγεῖον εἰς Εὐρυτίονα Κέντανρον ὑπὸ Ἑρμησιάνακτος πεποιημένον erwähnt wird; vgl. hierüber Bach 101. Susemihl I 186.

Literatur: Rohde[WS 1] Der griechische Roman¹ 74ff. Couat La poésie alexandrine, Paris 1882, 80ff. Susemihl Geschichte d. griech. Lit. i. d. Alexandrinerzeit I 184ff. Ellenberger Quaestiones Hermesianacteae, Gießen 1907. Romagnoli L’elegia alessandrina prima di Callimaco, Rom 1899, 177. Über H.s Stellung innerhalb der griechischen Elegie s. Crusius o. Bd. V S. 2281f.

Fragmentensammlung: N. Bach Philetae Coi, Hermesianactis Colophonii atque Phanoclis rell., Halle 1829. Über weitere Fragmente vgl. Susemihl I 184, 51. II 660. Das größere Fragment ist bei Bach 116ff. (mit lateinischer Übersetzung), Bergk Anthologia lyrica¹ 110ff., am besten bei Kaibel im Athenaios Bd. III 316.

Beiträge zur Kritik und Erklärung: Lennep Animadversiones ad H. bei Bach 207ff. Ruhnken Annotationes ad H. bei Bach 214ff. Schubart De Hermesianactis elegis, Plauen 1858. A. Ludwich Coniectaneorum in Athenaeum fasc. II, Königsberg 1902. W. Headlam Journ. of Phil. 1898, 94f. Ellenberger 26ff.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Erwin Rohde