Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)/Invocavit
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Am Sonntage Invocavit.
- 1. Wir ermahnen aber euch, als Mithelfer, daß ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfanget. 2. Denn er spricht: Ich habe dich in der angenehmen Zeit erhöret, und habe dir am Tage des Heils geholfen, Sehet jetzt ist die angenehme Zeit, jetzt ist der Tag des Heils. 3. Laßet uns aber Niemand irgend ein Aergernis geben, auf daß unser Amt nicht verlästert werde. 4. Sondern in allen Dingen laßet uns beweisen als die Diener Gottes, in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöthen, in Aengsten, 5. In Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhren, in Arbeit, in Wachen und Fasten, 6. In Keuschheit, in Erkenntnis, in Langmuth, in Freundlichkeit, in dem heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, 7. In dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, durch Waffen der Gerechtigkeit, zur Rechten und zur Linken; 8. Durch Ehre und Schande, durch böse Gerüchte und gute Gerüchte; als die Verführer, und doch wahrhaftig; 9. Als die Unbekannten, und doch bekannt;| als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht ertödtet; 10. Als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts inne haben, und doch alles haben.
UNsere Landeskirche feiert an dem heutigen Sonntag ihren jährlichen Bußtag. Im Allgemeinen spricht sie damit einen uralten Gedanken aus, nemlich daß die Passionszeit, wie eine Gedächtniszeit der Leiden JEsu, so auch eine Zeit der Buße sein solle. Was jedoch die Wahl des Tages insonderheit anbetrifft, so würde man in früheren Zeiten überhaupt keinen Sonntag, auch keinen Sonntag der Passionszeit zum Bußtage gemacht haben. Man war früherhin zu sehr gewohnt, jeden Sonntag als einen Bruder des Ostertages mit Freuden zu begehen, und das Gedächtnis der in Christo JEsu auferstandenen Menschheit mit dem Anfang jeder Woche zu verbinden, als daß man die öffentliche Bußandacht des Jahres auf einen Sonntag hätte legen können. Tritt doch sogar in den sonntäglichen Evangelien und Episteln der Passionszeit der Gedanke der Leiden JEsu in einem gewissen Maße zurück, wie ihr dies alle gewis schon oft bemerkt und hie und da einer unter euch es vielleicht auch schon getadelt haben wird, weil er den Sinn und Gedanken der alten Kirche bei der Textwahl nicht recht erkannte. Anstatt des Sonntags feierte man früherhin vom Aschermittwoch an alle Tage mit Ausnahme der Sonntage als Buß- und Fastenzeit; insonderheit aber war der Aschermittwoch, der erste von den vierzig Tagen, durch Bußfeier ausgezeichnet, wie sich denn dieser Tag jedenfalls am besten zum allgemeinen Bußtag eignen würde, wenn man nicht lieber und beßer die vier Quatembertage des Jahres, nach alter, heiliger und wohlbedachter Sitte der Kirche, der Buße weihen wollte. Indes sei das nun wie es will, bei uns ist heute Bußtag. Da die ganze Landeskirche Bußtag hält, ist es beßer uns mit derselben zu gleichem Zwecke zu vereinen, als im Andenken beßerer Zeiten und Ordnungen das zu versäumen, was uns und allen ohne Ausnahme noth thut, nemlich Buße. – Für diesen unsern Bußtag sind uns keine eigenen Texte vorgeschrieben, und wir können daher um so leichter bei den altgewohnten Sonntagstexten bleiben. Am Bußtag gedenkt man der allgemeinen Sündhaftigkeit und der besondern Sünden, welche in der Landeskirche der man angehört, und in der Zeit in welcher man lebt, die herrschenden geworden sind. Mögen nun diese sein welche sie wollen, so wird man doch kaum aus den Evangelien einen paßenderen Text zum Zwecke des Bußtags wählen können, als den von der großen Versuchung Christi, welchen man am Sonntag Invocavit gewohnt ist zu lesen. Nicht blos sieht man da den HErrn JEsus am Ende einer vierzigtägigen Fastenzeit, wie wir am Anfang einer solchen stehen; sondern man sieht Ihn auch in der Versuchung, ja in dämonischen Versuchungen, die für die Lage des HErrn gar nicht unverständig vom Teufel ausgesucht waren. Der zweite Adam in Versuchung: Was für ein Thema, zumal wenn man am Bußtag an die Versuchung und den Fall des ersten Adams und an unsre eignen täglichen Versuchungen denkt. Der zweite Adam in Versuchung ohne Sünde, und in welchen Versuchungen ohne Sünde: Wahrlich auch das ist wie ein greller Lichtstrahl in unsre Sündennacht und sehr geeignet, Scham und Reue für unsern Sündendienst, unsre schnöde Sklaverei zu erwecken. Da gibt es zu predigen, anzuwenden, zu vergleichen und zu deuten genug. Aber auch die Epistel, meine lieben Brüder, schließt sich würdig ans Evangelium an. Zwar handelt sie im Grunde ganz und gar, wie wir das sehen werden, von den Aposteln und Lehrern der Kirche; aber wie das Evangelium Christum in der Versuchung, im Kampfe mit dem Satan und in der Mühseligkeit dieses Kampfes zeigt, so sehen wir in der Epistel neben Ihm Seine Diener einhergehen, gleichfalls in Versuchung, in Kampf, in Mühsal, aber doch auch, wie Christus selbst im Evangelium, in heiliger Bewährung, in Sieg, in Segen. Dabei wird uns ein so reicher Spiegel apostolischer Tugend und Treue vor die Seele gehalten, daß sich auch ohne Bußtag unsre Seele zur Buße, zum bußfertigen Vergleich unsres sündhaften Wandels mit dem der Apostel würde aufgefordert fühlen. Da laßt uns denn um so mehr am Bußtag in diesen Spiegel schauen, und den Geist bitten, von dem alle Weißagung und Schriftauslegung kommt, daß wir nicht schnell vorüber gehen und vergeßen wie wir gestaltet sind, sondern Fleiß anwenden, uns ernstlich über den Spiegel hin bücken, und nicht ablaßen, bis wir nach| den Worten St. Jacobi durchgedrungen sind in das vollkommene Gesetz der Freiheit. Das wäre unsres Bußtags größter Sieg und Segen.
Indem ich nun zur Betrachtung des Textes komme, bitte ich euch, unsre eben ausgesprochene Absicht auch dann nicht zu vergeßen, wenn es eine Zeit lang scheinen sollte, als hätte ich sie vergeßen. Denn die Auslegung des Textes verlangt es, daß ich nicht allein die Verwandtschaft der Epistel mit dem Evangelium zeige, nicht blos die Apostel und Diener als des HErrn JEsu würdigen Nachfolger in Mühsal und Versuchung kennen, sondern den Text, so wie er daliegt, anschauen lehre. Da kommt denn auch anderes vor, als die Vergleichung der Diener und des HErrn; und dies Andre ist von der Art, daß es erkannt sein muß, wenn man auch nur diese Vergleichung finden soll. Darum ist es sogar für unsern Zweck ganz nöthig und unvermeidlich, den Text kennen zu lernen so wie er vorliegt.
Dieser Text ist nach seinem engeren Zusammenhang nichts anderes, als eine Ermahnung des Apostels an die Corinther, die Gnade, welche sie empfangen haben, nicht vergeblich oder unnütz sein zu laßen. Die Ermahnung stützt sich aber auf das Wohlverhalten des Apostels und überhaupt der Amtsträger Christi, durch deren Wort und Dienst ihnen die Gnade zugekommen ist. Weil sie solche Lehrer und Seelsorger haben, deshalb sollen sie die Gnade nicht vergeblich sein laßen: es möchte sie sonst bei dem HErrn der Herrlichkeit jede einzelne Tugend ihrer Lehrer und Seelsorger verklagen, ihr Weh und ihre Verdammnis desto größer werden. Es ist ganz richtig, daß das Wort Gottes im Munde der verschiedensten Lehrer, ja auch sehr ungetreuer Lehrer dennoch rein und auch wirksam sein kann. Wenn aber eine Gemeinde Lehrer hat, die nicht blos im Allgemeinen recht predigen und das Amt wohl verwalten, sondern auch durch ihr Beispiel, durch ihre Aufopferung und ihre Begabung die Menschen einladen das Wort aufzunehmen, und es ihnen dadurch auch leicht machen; so ist das noch eine besondere Gnade Gottes, für deren Gebrauch der HErr Verantwortung fordern wird. Je größer der Lehrer ist, desto verdammlicher wird der Jünger, wenn er sein Wort nicht annimmt. Es ist also keineswegs ein gesuchter, weit entlegener, sondern namentlich bei den Corinthern ein sehr nahe liegender und gewaltiger Grund, wenn St. Paulus sagt, sie sollen die empfangene Gnade deshalb nicht an sich vergeblich sein laßen, weil sie ihnen durch so große Lehrer vermittelt ist. Wir dürfen daher auch die Begründung der apostolischen Vermahnung nicht so leichthin übersehen, sondern es ist unsre heilige Pflicht, uns dieselbe anzueignen.
Indem ich das sage, denke ich mir den Fall, daß irgend jemand unter euch bei meinen Worten das Auge im Texte hat, und mich sodann befremdet und zweifelnd ansieht, weil er zwar die Vermahnung, von der ich rede, aber keine Begründung der Art findet, wie ich sie angebe. Es sollte mich ein solches Befremden, wenn es vorkäme, nicht im mindesten Wunder nehmen; wohl aber müßte ich mich wundern, wenn irgend ein aufmerksamer Leser das Befremden nicht theilen würde, da der deutsche Text allerdings von der wirklich vorhandenen Begründung Pauli gar nichts merken läßt. Die Ermahnung findet sich nemlich in den beiden ersten Versen, die Begründung aber in den acht übrigen. Nach Luthers Uebersetzung jedoch heißt der dritte Vers: „laßt uns niemand irgend ein Aergernis geben, auf daß unser Amt nicht verläßtert werde“, – eine Uebersetzung, bei welcher die Begründung St. Pauli selbst zu einer Vermahnung an die Corinther geworden ist, während der Zusammenhang nach den Worten Pauli ein ganz andrer ist. Der zweite Vers unterbricht nemlich den Zusammenhang, während der dritte sich eng an den ersten anschließt, und ungefähr die folgende Auffassung verlangt: „Als Mitarbeiter vermahnen wir euch aber auch, daß ihr die Gnade Gottes, die ihr empfangen habt, nicht vergeblich sein laßet, da wir euch ja in nichts auch nur den geringsten Anstoß geben (damit das Amt nicht verläßtert werde), sondern uns in allen Stücken als Diener Gottes empfehlen“ u. s. f. Daß dieses der Sinn sei, geht aus dem griechischen Texte so unzweifelig hervor, daß ihr euch dafür leicht Zeugnis genug verschaffen könnt. Es läßt sich auch unsre deutsche Uebersetzung kaum anders erklären, als aus der durch die Uebersetzung der römisch katholischen Kirche herkömmlichen Auffaßung. Nehmen wir also unsern Text so, wie er genommen werden muß, so ergeben sich die oben angedeuteten beiden Theile, eine apostolische Ermahnung die empfangene Gnade nicht vergeblich sein zu laßen, und eine Begründung| derselben durch Hinweisung auf die Größe der Lehrer, welche die Corinther hatten.Dennoch aber haben wir nach Darlegung der altkirchlichen Deutung mit unsern Gedanken zu der allgemeineren Auffaßung des Apostels zurück zu kehren, wenn uns der zweite Theil des Textes in seiner begründenden Kraft und in seinem Zusammenhange recht klar werden soll. Vergeßen wir also nicht, daß unsre Zeit eine Gnadenzeit wird durch Wort und Sakrament, ein Tag der Erhörung, der Hilfe und des Heils durch die gütigen Kräfte des göttlichen Worts und Sacraments, die Kräfte der zukünftigen Welt, – daß wir die Gnade vergeblich empfangen, wenn wir Wort, Sacrament und Gotteskraft auf uns nicht wirken laßen, und daß wir deshalb um so größere Verantwortung haben, je vortrefflicher die Diener und Haushalter Gottes sind, durch welche uns die himmlischen Schätze und Gnaden mitgetheilt werden. Hier stehen wir nun wieder beim zweiten Theile unsres Textes und schauen mit einander die apostolische Größe St. Pauli an, welche nicht allein die Corinther, sondern auch wir verachten, wenn wir die von ihm uns dargebotenen himmlischen Schätze und Gnadengüter umsonst empfangen.
Die ganze Stelle, zu deren Betrachtung wir uns jetzt anschicken, hat eine gewisse Aehnlichkeit mit dem epistolischen Texte des Sonntags Sexagesima. Auch dort, also nach der Reihe unsrer Lectionen vor 14 Tagen, hatte der Apostel Paulus Ursache gefunden seine Amtsführung und seinen Wandel den Corinthern vorzustellen. Manches Wort, das wir dort gelesen haben, erinnert stark an Worte der heutigen Epistel. Es kann uns das nur um so lieber sein. Was St. Paulus mehrere Male geschrieben hat, dürfen wir auch mehrfach lesen und betrachten; es wird uns auch mehrfach nöthig sein. Wir erinnern uns dabei an die eigenen Worte des Apostels, die wir einmal in seinen Schriften lesen: „Daß ich euch immer einerlei schreibe, verdrießt mich nicht und macht euch desto gewisser.“ – Die Darstellung des apostolischen Wandels Pauli hat in unsrem Texte zuerst ein allgemeines Thema, oder wenn man lieber will, einen allgemeinen Eingang und verläuft dann selbst in drei Abtheilungen. Die erste Abtheilung legt uns die Geduld Pauli vor, die zweite seine Amtstugenden und Gaben, die dritte sein Verhalten gegenüber den Gerüchten, die ihn so wenig als andre Lehrer verschonten.
In dem allgemeinen Eingang sagt er, seine Ermahnung an die Gemeinde zu Corinth solle um so gewisser aufgenommen werden, weil sie von ihm käme, von ihm, der ihnen mit nichts irgend einen Anstoß gebe, immer darüber wache, daß auf sein Amt und seinen Dienst unter ihnen kein Flecken oder gerechter Tadel falle, dagegen aber sich ihnen durch seinen ganzen Wandel und sein Verhalten als Diener Gottes beweise. Bei der Lehre des heiligen Paulus nicht blos über das sittliche Verderben des menschlichen Herzens, sondern auch über die Schwierigkeit der Heiligung, wie er sie zum Beispiel im 7. Kapitel an die Römer vorlegt, erscheint eine Selbstbeurtheilung wie die in unserm Texte auf den ersten Augenblick schier wie ein Widerspruch. Während er im 7. Kapitel an die Römer über die Macht des Sündengesetzes in seinen Gliedern klagt, sich einen elenden Menschen nennt und voll Sehnsucht nach Erlösung von dem Todesleibe ist, spricht er hier und anderwärts in den stärksten Ausdrücken, die nicht im mindesten den Reden Hiobs von seiner Gerechtigkeit nachstehen, über seine unanstößige, unsträfliche, untadeliche, eines Dieners Gottes völlig würdige Amts- und Lebensführung. Das thut er, während er doch wißen kann, daß die lauernden Ohren seiner corinthischen Feinde begierig auf alles lauschen werden, was sie ihm zum Nachtheil wenden und drehen können. Er muß also nicht gefürchtet haben, durch so verschiedene Aeußerungen ihnen eine willkommne Gelegenheit zur Verdrehung und Verfälschung seiner Meinung und zur Lästerung zu geben. Sein Selbstgericht muß so gerecht gewesen sein, daß es der corinthischen Gemeinde und selbst seinen Feinden ins Gewißen fallen und sie zu Zeugen der Wahrheit auffordern konnte. Wenn aber das der Fall ist, so ist allerdings die apostolische Würde St. Pauli schon durch diesen allgemeinen Eingang so ins Licht gesetzt, daß sie seiner Vermahnung an die Corinther großen Nachdruck geben mußte. Aber nicht blos das, sondern es ist alsdann ein helles Zeugnis von der Macht der Gnade gegeben, von ihrem heiligenden Einfluß auf| den Menschen und von dem wichtigen Satze, daß neben einer hohen Stufe sittlicher Vollendung, ja in der innersten Mitte derselben, das strengste, bußfertigste Selbstgericht, wie es sich Röm. 7 ausspricht, einher gehen kann. Die Gnade Gottes wirkt also nicht blos rechtfertigend, sondern wirklich heiligend auf den Christen; Heiligung und Tugend sind keine leeren Namen, und es liegt darin ein großer Trost für die Kinder der Kirche, die dann weder andre bis ins Grab nur im Stande zunehmender Sünde und Sündengefangenschaft erkennen, noch auch von sich selbst die Hoffnung der Heiligung und Beßerung aufgeben müßen. Es kann, es soll, es wird anders, es wird beßer werden, und das zunehmende Gefühl der Sünde ist nicht ein Gegenbeweis, sondern ein Beweis für den Satz. Ja man kann geradezu sagen und wiederholen, daß der Gradmeßer der Sündenerkenntnis zugleich der Gradmeßer der Heiligung sei, und daß der Christ, je heiliger und höher sich sein Gang hebt, innerlich desto zerschlagener werde. Man darf auch nicht einmal sagen, daß bei den Gläubigen doch der Fall nicht vorkomme, wie bei St. Paulo, daß sie neben dem tiefsten Sündengefühl, doch auch eine so ruhige und zuversichtliche Einsicht in den Fortschritt ihrer Heiligung und den Stand ihrer Vollendung hätten. Es kann tausend Christen geben, an denen andre nur immer Fortschritt sehen, während sie selbst immer von Rückschritt reden und ihnen der Stand ihrer Heiligung verschloßen ist. Gott kann eine heilige Absicht haben, warum er vielen die Erkenntnis ihrer Heiligung und ihres Fortschritts versagt. Dagegen aber kann es auch jetzt noch Menschen geben und gibt sie auch, die nach zweien Seiten hin völlig klar sehen, ihr Verderben immer tiefer erkennen und dennoch ihren Feinden gegenüber den vollen Trost St. Pauli haben, niemand Anstoß gegeben, unsträflich und würdiglich als Diener Gottes gewandelt zu haben. Nicht einem jeden ist diese Erkenntnisstufe verliehen, wer sie aber hat, der kann in Wahrheit und Demuth so von sich reden, wie St. Paulus und ist ein Wunder in den eignen und in fremden Augen, eben weil sich solche Gegensätze friedlich in ihm vereinen. –Es ist eine Gewohnheit der Menschen alles auf sich zu beziehen, und bei einer jeden Aeußerung, die über andere fällt, eine Vergleichung zu machen zwischen der Person, von welcher die Rede ist, und sich selbst. Unzählige Male kann man aus dem Munde derer, mit denen man umgeht, hören: „Ich möchte das nicht, bei mir ist es anders, ich bin nicht so u. s. w.“ Zwar könnte schon eine etwas größere Bildung von dieser Vergleichung aller Dinge mit sich, dieser Einmengung der eignen Person in alle Gespräche, befreien; allein wenn es gegen die Selbstsucht angeht, hat die Bildung schwere Arbeit, und wie in der Fabel die Eselsohren über die Löwenhaut, so ragt das eitle geckenhafte Ich, auch bei sonst gebildeten Menschen aus aller Bildung heraus. Und doch vergleicht sich der Mensch nach einer Seite hin mit andern zu wenig; nemlich mit beßeren als er selbst ist. So lange er hoffen kann, bei dem Vergleiche mit andern selbst zu gewinnen, vergleicht er. Strahlt ihm hingegen von irgend einer Person ein Licht entgegen, in Anbetracht deßen er gar zu gering erscheint, und in einen gar zu dunkeln Schatten tritt, so geht er weiter und sucht sich eine dem Hochmuth schmeichelndere Vergleichung auf. Etwas von der Art zeigt sich namentlich bei Betrachtung biblischer Charaktere, theilweise auch solcher Menschen, die erst nach den Aposteln in den ersten Jahrhunderten der Christenheit lebten. Diesen Charakteren läßt man ihren eigenthümlichen Werth, man räumt ihnen einen besonderen hohen Platz in der Gesellschaft ein, man läßt ihre Vortrefflichkeit so sehr gelten, daß man sich| auch gar kein Bild von ihnen machen will, die scheinbar große Verehrung bewirkt eine solche Entfernung von ihnen, die man Kälte und Gleichgiltigkeit nennen muß. Würde man sich mit biblischen Charakteren vergleichen, so würde man nicht allein sich bußfertig vor ihnen schämen lernen, sondern man würde sich auch zur Nachahmung gedrungen fühlen. Das aber scheut man gerade. Solche Muster stehen zu hoch und zu fern; wer ihnen nachstreben wollte, den hielte man für einen Schwärmer, der nach einiger Zeit und gemachter Erfahrung schon wieder umkehren, und seine Vorbilder sich in den Kreisen des gewöhnlichen Lebens suchen wird. Gerade das aber ist ein rechter Flecken der gewöhnlichen, protestantischen Gemeinden; man wählt seine Vorbilder aus zu niedrigen Sphären und die Menschen haben daher von sich selbst und machen auf andre den Eindruck, daß sie gewöhnliche, gemeine Leute seien. – Hier, meine Freunde, könnten wir eine protestantische Sünde finden, die man am Bußtag wohl hervorheben und zu Gemüthe führen dürfte; der Mensch bedarf Vorbilder, Beispiele denen er nachwandeln kann. Von seinen Vorbildern und Beispielen hängt der Schwung ab, den sein Leben aufwärts, oder ins flache Weite, oder in die dunkle Tiefe nimmt. Es lautet erstaunlich schwung- und geistreich, zu sagen, man möge sich keine andern Vorbilder wählen als JEsum Christum selber; in der Regel aber ist dahinter gar nichts; es ist das meistens weiter nichts als eine hohle, leere Phrase und eine Beziehung auf Christum, die gewöhnlich nicht die geringste Wahrheit in sich trägt. Es wird kein Mensch leugnen können, daß die Nachfolge Christi ein biblischer Gedanke sei; aber es werden auch wenige Menschen sich jemals die Frage gelöst haben, ob man Christo in allen Stücken nachahmen dürfe und könne und solle, und in welchem Sinn uns der Befehl gegeben ist, Christo nachzufolgen. Ist es einem ein Ernst ein Nachfolger Christi zu sein, und hat man wirklich Lust Ihm nachzuahmen, worin man soll, nemlich in der Selbstverleugnung und Demuth, so freut man sich auch geringerer Vorbilder und Beispiele. Da sieht man etwa das Beispiel Pauli an, wie er selbst es in unsrem Texte zeigt, erkennt ihm gegenüber die eigene Armuth, das eigne pure Nichts, und läßt sich durch die Zerknirschung, von der man ergriffen wird, zu einem neuen Lebensanfang leiten. Und das ists, meine Freunde, was ich euch Angesichts unsrer Epistel wünsche, so wünsche, daß ich gar nichts dagegen hätte, wenn ihr mir auf meinen Wunsch mit Buße, Beichten und Seufzen antwortetet. St. Pauli Beispiel ist groß und hehr: bei seiner Betrachtung können wir uns allerdings schämen lernen.
Aber nicht bloß das. St. Paulus erzählt seinen Lebenslauf in unserm Texte zu dem Ende, daß sich die Corinther beeifern sollen, die empfangene Gnade Gottes nicht ohne Frucht der Heiligung sein zu laßen. Wenn man ein Schüler eines solchen Lehrers ist, hat man Ursache, es mit der That zu beweisen, nicht aber gegen die vorhandenen göttlichen Kräfte auszuschlagen und sich ihnen zu widersetzen. Allein da stehen wir wieder vor einer unter uns gewöhnlichen, unerkannten Sünde, die man am Bußtage auch gar wohl nennen kann und soll. Fern liegt es, uns St. Pauli Beispiel anzueignen, ihn zum Vorbild zu nehmen, und nicht minder fern liegt uns der Gedanke, daß Paulus auch unser Lehrer sei, und deshalb schon, nicht blos wegen der hohen Vortrefflichkeit seines Beispiels, wir schuldig seien, uns ihm nachziehen und die Gnade nicht vergeblich sein zu laßen. Zwar werden uns immer St. Pauli Episteln gelesen, und wir laßen uns von ihm belehren; er lebt für uns, weil seine Worte bei uns im Schwange gehen; die lutherische Kirche nennt sich auch gerne im Bewußtsein ihrer Treue gegen die Rechtfertigungslehre des großen Apostels eine paulinische Kirche. Deshalb aber kommt es dennoch selten einmal einem Menschen bei, sich einen Schüler Pauli zu nennen, und ihn seinen Lehrer. Der Apostel ist gewis vermöge seiner Schriften nicht minder jetzt ein Lehrer der Völker und Heiden zu nennen, als früherhin; aber weil er nicht mehr persönlich unter uns steht, und man seine Stimme blos sieht und nicht mehr hört, so legt man auf die Jüngerschaft Pauli gar keinen Werth, und man kann leicht auf die Worte eines jetzt lebenden geringen Predigers oder Lehrers mehr Gewicht legen, als auf die Worte Pauli. Weil man nun die rechten Lehrer nicht nahe weiß, und sich mit ihnen in keiner Verbindung und in keinem Verhältnis fühlt, so fühlt man sich auch nicht angemahnt zum Gebrauch der empfangenen göttlichen Gnade, wenn einem die hohe Gestalt des Apostels in aller apostolischen Würde mit aufgehobenem Finger vor Augen tritt.
Möge sich das bei uns ändern. St. Paulus| ruht wohl in seinem Grabe, aber sein Geist lebt ja doch, er selbst lebt. Möge uns der HErr verleihen durch eine innige Auffaßung und eifrige Aneignung der paulinischen Lehre, Paulo selbst näher zu kommen und uns als seine Schüler zu erkennen, und wir je länger je mehr von dem hohen Meister lernen, mit dem wir durch Einen Geist und Glauben verbunden sind.Diese beiden Gedanken sind Bußgedanken, sie sind uns nütze zur Strafe. Aber es ist die angenehme Zeit, es ist der Tag des Heils, es wird viel gepredigt, und zwar jetzt vom süßesten Thema, den Leiden JEsu, und die Einladung zu einem gesegneten Gebrauch des heiligen Sacramentes tritt mächtiger an unser Herz. Gottes Mittel und Hebel sind in Bewegung, es wird gewaltig an uns gearbeitet, es ist eine schöne, segensreiche Zeit. Da mögen uns denn zunächst gegeben werden Augen für Pauli Beispiel, Ohren für seine Vermahnung, Macht und Kraft nicht vergeblich die Gnade Gottes zu empfangen. Die Reue grüne und thaue, die Gerechtigkeit blühe, und die Nachfolge Pauli reife als zeitgemäße Frucht der durchgreifenden mächtigen Arbeit Pauli an unsrer Zeit und unserm Geschlechte. Amen.
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