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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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Am Sonntage Estomihi.

1 Cor. 13, 1–13.
1. Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht; so wäre ich ein tönendes Erz, oder eine klingende Schelle. 2. Und wenn ich weißagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis, und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht; so wäre ich nichts. 3. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe, und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht; so wäre mir es nichts nütze. 4. Die Liebe ist langmüthig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Muthwillen, sie blähet sich nicht, 5. Sie stellet sich nicht ungeberdig, sie suchet nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie trachtet nicht nach Schaden, 6. Sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit. 7. Sie verträget alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles. 8. Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weißagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden, und das Erkenntnis aufhören wird. 9. Denn unser Wißen ist Stückwerk, und unser Weißagen ist Stückwerk. 10. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. 11. Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, that ich ab, was kindisch war. 12. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich es stückweise, dann aber werde ich es erkennen, gleichwie ich erkannt bin. 13. Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größeste unter ihnen.

 WIr stehen am Eingang der abendländischen Fastenzeit. Wenn das Morgenland seine Septuagesima feiert und im Abendlande der morgenländische Brauch wenigstens in einem gewissen Maße nachklingt, so daß auch unsere Gedanken sich von Septuagesima an bereits dem anhaltenderen Gedächtnis der Leiden JEsu zuwenden; so ist doch die abendländische Fastenzeit, die Quadragesima, unsrer Seele durch langen Brauch näher und es erfaßt uns mit deren Beginn das Gedächtnis der Leiden JEsu mit besonderer Kraft und Macht. Und nun also stehen wir vor den Pforten der Quadragesima. Der nächste Mittwoch ist der Aschermittwoch und unter den vierzig ernsten Tagen der erste, der alte Bußtag, ja der erste einer vierzigtägigen Bußzeit, denn die alte Kirche feierte ja das Gedächtnis der Leiden JEsu mit Buße. Da wirkt denn die nahe Quadragesima auch auf den vorausgehenden Sonntag Estomihi ein und man merkt es den beiden Texten dieses Sonntags gar wohl an, daß die große Trauerzeit des Kirchenjahres vorhanden ist. Das Evangelium erzählt uns zuerst von der letzten Reise JEsu nach Jerusalem, wie der HErr noch jenseit des Jordans die Jünger bei Seite genommen und ihnen eine sehr eingehende Vorherverkündigung Seines Leidens und Sterbens gehalten habe. Im zweiten Theile aber ist von dem Blinden zu Jericho die Rede, deßen Geschichte uns, namentlich mit der vorausgegangenen Leidensverkündigung JEsu im Zusammenhang, fast den Gedanken aufdringt, daß auch wir um offene Augen für die Schönheit der Leiden JEsu beten sollten. So mahnt uns also das Evangelium durch die Leidensverkündigung an die nahende Gedächtniszeit der Leiden, und durch die Geschichte des Bettlers bei Jericho kann das nothwendige Gebet um offne Augen für die Leiden JEsu erweckt werden. Die Epistel aber ist nicht minder geeignet, auf die Quadragesima vorzubereiten. Sie enthält die berühmte Predigt St. Pauli von der Liebe und gibt damit der Leidensverkündigung JEsu im Evangelium den rechten tiefen Sinn. Was ist die Leidensgeschichte Jesu, wenn nicht eine Geschichte der Liebe JEsu zu Seinem Volke und ein so großes und erhabenes Beispiel zu der Predigt Pauli von der Liebe, daß man fast sagen könnte, der Apostel habe die hohe Liebe JEsu beschreiben| wollen, das Ur- und Vorbild jeder andern christlichen Liebe. So gehen also die beiden Texte zusammen, und indem wir uns nun zu einer Betrachtung der Liebe wenden, die St. Paulus predigt, brauchen wir das Gedächtnis der Leiden nicht wegzulegen, sondern im Gegentheil wir ziehen es an wie ein Kleid, wir legen es nun sechs Wochen lang nicht mehr ab, wir nehmen es auch mit hinein in unsern jetzigen Vortrag, und beständig den Gekreuzigten im Auge, werden wir nun sehen und erkennen, wie treffend der Apostel JEsu Herz und Thun voll Liebe in unsrem Texte gezeichnet hat.

 Wenn man ein größeres Ganzes vor sich hat, so fühlt man das Bedürfnis, es zu übersehen und im Zusammenhang seiner Theile kennen zu lernen. Erst wenn man den Ueberblick über das Ganze und die Gliederung seiner Theile gewonnen hat, geht man vergnüglich zur genaueren Kenntnisnahme der Theile über. So ist es auch mit unsrem Texteskapitel, welches schon beim ersten Lesen den Eindruck eines Ganzen macht und in dem herrlichen ersten Corintherbriefe sich ausnimmt wie ein seliges, blühendes Eiland im Meer. Sucht man nun bei diesem Kapitel die Theile, so grenzen sie sich vor dem beschauenden Auge sehr leicht ab. Da sehen wir zuerst in den drei Anfangsversen des Textes aller Gaben und Thaten Unwerth ohne Liebe; dann zählt St. Paulus vom vierten bis siebenten Verse die Eigenschaften der Liebe auf, die nothwendigen, die nimmer mangeln dürfen, wo Liebe ist. Dann wird uns vom achten bis zwölften Verse der Liebe unvergängliches, hier in der Zeit und dort in der Ewigkeit sich immer gleich bleibendes Wesen dargelegt, und am Schluß im 13. Verse wird sie uns in ihrer Größe und Würde im Vergleich mit dem Glauben und der Hoffnung gezeigt. Eine herrliche Belehrung, ja mehr ein Lied und Preisgesang auf die heilige Liebe, als eine bloße Belehrung! Was wird schöner und lieblicher sein als diese vier Theile des Textes in’s Auge zu faßen und genauer kennen zu lernen.

 Dabei aber kommt dem Deutschen leicht eine Frage. Er läßt sich gern von St. Paulo belehren, “nimmt allenfalls mit Dank und tiefer Anerkennung die vier Theile des apostolischen Textes an; aber es däucht ihm, als fehle bei aller Vollkommenheit etwas. St. Paulus redet von den Eigenschaften, der unbegrenzten Dauer und dem hohen Werthe der Liebe, aber – er sagt ja nicht, was die Liebe selber sei, und das will der Mensch, der auf der Schule gewesen ist, doch vor allem wißen. Es wird auch nicht helfen, daß man die Sache umkehrt und dem Frager die Frage selbst wieder vorlegt, die seinen Geist bewegt. Ist er bescheiden, so wird er erwiedern: „Ich wünsche wohl zu wißen, was die Liebe sei, und eben weil ich mich nicht getraue, die Frage zu lösen, so stelle ich sie in meinem Herzen an den Apostel.“ Der aber löst sie dennoch nicht, so sehr man es verlange. Was sie nicht sei, die Liebe, und wie sie sei, darüber ergießt sich die harmonische Rede seines Mundes; aber so wenig die Schrift erklärt, was Gott sei, so wenig erklärt sie, was die Liebe sei. Das Herz versteht die hohen Namen, auch wenn es die Grenzen deßen, was sie umfaßen, nicht sieht; und wenn einer auch nicht schulgerecht sagt und sagen kann, was Gott und die Liebe sei, und sich diese Begriffe gegen die Grenzen des Verstandes auflehnen, so kann er doch Gott und die Liebe beides erkennen und besitzen, so wie man sich auch denken könnte, daß ein König Herr sei über Länder und Meere und Leute, deren Grenzen er nicht stecken und deren Zahl er nicht nennen kann. Was liegt auch daran, ob du die Grenzen der unermeßlichen Liebe kennst und ihren Begriff verstehst? Hüte dich, nur Falsches von der großen Königin zu sagen, und sei bescheiden, wenn du Wahres sprichst. Sage nicht, die Liebe sei eine That, sage auch nicht, sie sei ein innerer Zustand der Neigung und des Wohlgefallens an dem Geliebten; es ist doch alles zu wenig. Sprich auch nicht, sie sei kein Leben in sich, sondern in Andern und für Andre, sie gebe sich dem Geliebten und für ihn; sie sei immer im Geben, ein reicher Strom, der sich ergießen müße und es nicht laßen könne; es ist doch auch das nicht richtig, denn die Liebe empfängt auch, sie gibt nicht blos, weil sie die Vollkommenheit des Geliebten will und derselbe vollkommen nicht sein könnte, wenn er blos empfienge, selbst aber niemals gäbe. Kurz, bescheide dich; trachte nach Liebe; lerne die Liebe, die du haben sollst; gehe zu Paulo in die Schule, der auch ein Jünger der Liebe ist wie Johannes; nimm an und erfahre, was er dir sagt, und überlaße es dem Geiste Gottes, dem treuen Lehrer, dich beim Fortschritt deines Lernens und Erfahrens| immer tüchtiger zu machen, annäherungsweise sagen zu können, was die Liebe sei. Komm, laß uns, nicht länger aufgehalten, dem Apostel zu Füßen sitzen und seine Worte hören und bewahren in einem feinen guten Herzen.

 Im ganzen zwölften Kapitel hat der Apostel einen Ueberblick über die mancherlei außerordentlichen Gaben des heiligen Geistes gegeben, welchen er zuletzt im 31. Verse mit der Ermahnung beschließt: „Trachtet nach den beßeren Gaben, d. h. nach den größeren und nützlicheren, von denen ich euch gesagt habe, und ich will euch noch einen beßeren Weg zeigen.“ Der Weg aber, der ihm überschwänglich höher steht und geht als die Erweisung aller von ihm gerühmten und gepriesenen Gaben, ist der Weg der Liebe. Die Liebe vergleicht er mit allen Gaben, ja mit den größten und herrlichsten, und gibt ihr nicht allein den Vorzug vor allen, sondern er belehrt uns auch, daß keine Gabe ohne die Liebe irgend einen Werth in Gottes Augen besitze. Zuerst wendet der Apostel dies auf die Sprachengabe an, dann auf die Gabe der Weißagung, auf den Wunderglauben und endlich auf die Werke der Barmherzigkeit, welche uns in den 28 Versen des vorigen Kapitels bei dem Namen der Helfer ins Gedächtnis treten können und in andern ähnlichen Stellen unter den Namen der Mittheilung, der Gemeinschaft, der Barmherzigkeit als Aeußerung einer besondern Gnadengabe vorkommen. – „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, spricht er also zuerst, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle.“ Es werden also Engelzungen und Menschenzungen unterschieden; die Menschenzungen sind mancherlei, auch die Engel haben Zungen, Sprachen wie die Menschen haben, und wie der heilige Geist verleihen kann, Menschensprachen zu sprechen, die man nie gelernt, so kann er auch Engelzungen verleihen, Menschen mit Engelsprachen reden lehren. Ist denn das, meine Brüder, etwas Geringes, ist’s nicht etwas Außerordentliches und Großes zu nennen? Ist es nicht etwas höchst Ergreifendes, Menschen-, ich will nicht sagen irdische Zungen und Sprachen, sondern Engelsprachen reden zu hören? Wenn wir Zeugen sein würden von dieser hohen Gabe, wenn wir einmal die Erfahrung davon hätten, würden wir nicht gerade in dieser Gabe den Geist Gottes als Sprachenmeister und die Sprache selbst als das wunderbarste aller Gotteswerke erkennen? So groß aber das Werk ist, so verliert es doch allen Werth, wenn im Herzen des Menschen, der die Sprachengabe besitzt, die Liebe nicht herrscht. Das größte Gotteswerk der Fertigkeit in fremder Zunge wird zum tönenden Erz und zur klingenden Schelle, also zur bloßen Instrumentalmusik statt zum hohen Preisgesang beseelter Menschenzungen, wenn die Liebe mangelt. Aehnlich ist es mit der prophetischen Gabe. „Wenn ich weißagen könnte, spricht der Apostel, und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis, so wäre ich nichts, wenn ich die Liebe nicht hätte“. Man kann also die Gabe der Weißagung besitzen, alle Geheimnisse wißen und alle Erkenntnis haben und doch nichts sein, weil die hohen Gaben nur durch die Liebe ihren Werth bekommen, den Weg der Liebe gehen sollen, die da sucht, was des andern ist, und ohne diese Verbindung mit der Liebe dem Menschen eben so wenig nützen und eben so wenig Liebe und Huld erwerben, als es bei Bileam der Fall war, der die Gabe der Weißagung besaß und doch von Gott verworfen wurde. Nur die Liebe gibt der Gabe den rechten Werth, und wenn jemand mit allen Gaben geschmückt ist, aber sie nicht in Liebe und Sorge für den Nächsten anwendet, so verwandelt sich ihm die Gabe und ihre Aeußerung in ein pures Nichts. Gottes Augen schauen nach der Liebe und blicken schrecklich, wenn irgend wer die hohe Gabe des HErrn nicht anwendet, wozu sie gegeben wird, nemlich um in der Gemeine der Heiligen zum Liebesband zu dienen und zu Gottes Dank und Preis, zu einer Saat des Segens unter den Menschenkindern verwendet zu werden. –

 Ebenso ist es mit dem Glauben. Zwar ist hier nicht die Rede von dem seligmachenden Glauben, sondern nur von jenem Wunderglauben, vermöge deßen in der sichtbaren Welt oft große Erfolge erreicht, wie der HErr Matth. 17 und St. Paulus in unserm Texte sagt, Berge versetzt und in’s Meer geworfen werden können. Hier und in andern Stellen der heiligen Schrift ist diese Gabe getrennt gedacht von der Liebe und wahren Anbetung JEsu, und die Trennung ist keine bloße Gedankentrennung, sondern wir haben Zeugnisse des göttlichen Wortes, nach denen sie in der Wirklichkeit| vorkommen konnten. So sagt ja z. B. der HErr selbst, es würden an Seinem großen Tage Leute vor Ihm erscheinen, die sich gegen das Verdammungsurtheil, das Er ihnen sprechen werde, auf die großen Wunder und Glaubensthaten berufen würden, die sie in Seinem Namen gethan hätten. „Haben wir nicht in Deinem Namen Teufel ausgetrieben und viele Thaten gethan?“ werden sie sagen. Da sieht man also den Haushalt Gottes und wie in demselben die Gaben so mannigfach und reich vertheilt sind; aber man wird auch mistrauisch gegen die bloße Gabe, man sieht, daß in den Gaben keine Versiegelung zum ewigen Leben liegt, daß sie im Gegentheil zu Mühlsteinen werden können, die der HErr an den Hals so mancher hängt, um sie in’s Meer der Verdammnis einzusenken, wo es am tiefsten ist. „Auch wenn ich allen Glauben habe, bis zum Berge versetzen, ruft der Apostel, ich habe aber die Liebe nicht, so bin ich nichts.“ Nicht die Gabe ist nichts, nicht der Glaube, nicht die Erkenntnis, nicht die Weißagung, nicht die Sprachengabe, die sind und bleiben große Gaben zur Verherrlichung des HErrn; aber der Mensch ist nichts, der alle diese Gaben hätte, die Liebe aber nicht besäße.
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 Es ist eine Steigerung in der Rede des heiligen Paulus, er geht von dem Kleineren zum Größeren, vom Zungenreden zur Weißagung, Erkenntnis und zum Wunderglauben. Die Gabe der Zungen und deren Uebung ist an und für sich selbst groß und wunderbar; eine Aufhebung innerer Schranken des Denkens und Erkennens, eine Macht über Verschiedenheiten in den Vorstellungen, Bildern und Gedanken der Seele, eine, wie es scheint, entzückte Zusammenfaßung und Vereinigung deßen, was Gott seit Babels Zeiten in den Gedanken der Menschen getrennt hat. Aber bei dieser Gabe läßt sich die Abwesenheit der Liebe am ersten erklären, weil ihr Nutzen für andre nicht sehr groß ist. Dagegen die Weißagung, die Erkenntnis, der Wunderglaube sind sämmtlich im Dienste der Gemeinde herrliche Früchte des von Christo gestifteten göttlichen Lebens. In Anbetracht ihrer ist es weit schwerer, die Liebe wegzudenken. Es wird ja durch diese Gaben der Name des HErrn verherrlicht und der Gemeinde genützt. Dennoch aber zeigt der Zusammenhang unsers Textes, daß die Liebe mangeln kann, während diese Gaben im Schwange gehen, daß man also auch ohne Liebe nützen und bei großem gestifteten Segen selbst verwerflich werden kann. Die Selbstsucht, die mit Gottes Gaben prangt und Gott die Glorie derselben raubt, kann allem Segen und Nutzen, den wir stiften, den Werth nehmen und uns bettelarm vor Gott machen, während andre von uns den seligsten Nutzen genießen. Die Welt kann uns über unsrem Grabe danken, während Gott unsre Seele wegen Mangel der Liebe verdammt hat. Erschrecklicher Gedanke, der aber noch greller und mächtiger im letzten Verse des ersten Theils unsres Textes hervortritt. „Wenn ich alle meine Habe zur Speise der Armen verwendete, und wenn ich meinen Leib hingäbe, daß ich verbrannt würde, die Liebe aber nicht habe, so nützt es mir nicht.“ Das ist der letzte Vers des ersten Theiles. Also wenn einer seine ganze Habe zur Speisung der Armen hingibt und seinen Leib den Flammen hingibt um Christi willen, aus Liebe zu Ihm und zu den Brüdern, so nützt es ihm etwas, so hat er davon seinen Gnadenlohn, so wird ihn Der dafür segnen, der keinen Becher Waßers unbelohnt laßen will und eine Krone der Gerechtigkeit den Märtyrern reicht, welche Glauben halten, den Kampf zu Ende kämpfen, den Lauf vollenden. Dagegen aber kann einer Alles, was er hat, für die Armen opfern und bis an’s Ende Beständigkeit üben, in Flammen und harten Todesarten, und dennoch ohne Gnadenlohn, ohne Erhörung des tausendfachen „Vergelt’s Gott“ der Armen, ohne Anerkennung seines Blutvergießens und letzten Seufzers, ohne Wohlgefallen des ewigen Richters dahingehen. Der Mangel an Liebe nimmt selbst der freiwilligen Armuth und dem Märtyrertode allen Werth und kann Arbeit und Kampf des reichsten Lebens zu einer Eitelkeit, zu einer hohlen Schaale, zu einem puren Nichts machen. Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung, die Liebe ist aller Thaten Werth, die Liebe ist der Edelstein, alles andre ist nur Faßung; wo die Liebe mangelt, werden alle Thaten und Werke zu bloßem Heuchelschein. Eine erschreckende Wahrheit! Wenn die zuerst genannten außerordentlichen Gaben ohne die Liebe keinen Werth haben, so könnte man sagen, sie kämen von außen her, sie wüchsen nicht aus dem Willen und Herzen des Menschen hervor. Dagegen aber die aufopfernde Barmherzigkeit, die freiwillige Armuth, die Hingabe in die Flammen des Märtyrertodes| wird man doch immer geneigt sein, als reife Früchte des inwendigen Lebens, als Aeußerungen der verborgenen Tiefe der Seele anzunehmen. Und doch, und doch kann auch das, was so ganz aus dem eignen Entschluß des Menschen hervorgeht, so nützlich, so glorreich ist, der Liebe mangeln, und es können also die eigensten Thaten des Menschen ihn selbst und andre vollkommen täuschen, die Ewigkeit kann ihm eine furchtbare Enttäuschung vorbehalten, und es kann ihn aus dem Munde des Richters der schreckliche Donner des Urtheils treffen: Gehe hin von mir, du Verfluchter, ich habe dich nie erkannt. – „Selig sind die Todten, die im HErrn sterben, und ihre Werke folgen ihnen nach.“ Aber nur in Kraft der Liebe werden die zeitlichen Werke des Menschen unsterblich gemacht, zur Nachfolge in die Ewigkeit und zum Himmel erhoben; was aber ohne Liebe geschieht, das fällt wie ein Bleigewicht in’s Meer der Vergeßenheit, ja in’s Meer der Verdammnis. Es steht wohl geschrieben: „Das ist die Liebe zu Gott, daß wir Seine Gebote halten,“ aber das ist nicht so zu faßen, als bestände die Liebe nur in Werken und Thaten, als wäre sie überall ohne Zweifel vorhanden, wo Werke und Thaten glänzen. Nein, nein, von den Thaten auf die Liebe, von den Werken auf den Meister, von den Früchten auf den Baum ist nicht immer ein sichrer Schluß. Umgekehrt, von der Ursache auf die Wirkung wird immer wohl geschloßen; von der Wirkung aber auf die Ursache, ich wiederhole und warne, gilt nicht immer der Schluß. Ganz unsichtbar und fast unerkennbar für das Menschenauge wird dadurch die Liebe. Es sieht aus, als gälte allein das Wort: „Der HErr kennt die Seinen,“ und ob wir auch deshalb nicht von der heiligen Pflicht des achten Gebotes, darnach wir Gutes reden und alles zum Besten kehren sollen, entbunden werden, so wird doch durch eine solche Warnehmung im Ganzen unser Urtheil kleinlaut und unser Vertrauen zu der Liebe unsrer Brüder fast zweifelmüthig. Es ist ja am Tage, daß alle Gaben und Werke, so hell sie glänzen, nicht nothwendig Aeußerungen und Früchte, oder auch nur Begleiter der Liebe sein müßen!
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 So unsicher also ist unser Schluß von den Werken auf die Liebe. Nun aber gehen wir zum zweiten Theil unsres Textes, in welchem uns nothwendige Eigenschaften der Liebe vorgelegt werden. Auch diese Eigenschaften sind nicht von der Art, daß sie uns einen vollkommen sicheren Weg zur Erkenntnis vorhandener Liebe anzeigten; auch bei ihnen ist Heuchelei zu fürchten. Es gelingt manchmal diesem Satansengel, die Gestalt der Liebe anzunehmen und sich so zu geberden, daß man darauf schwören möchte, es sei Liebe vorhanden, bis etwa dennoch zuletzt der Schleier sinkt und ein häßliches Gesicht der Bosheit enthüllt wird. Auch wird hie und da einem Menschen der Schein liebevollen Benehmens um so leichter gelingen, weil für das Benehmen so gar viel auf das Temperament ankommt. Da kann einmal eine Tugend vorhanden oder abwesend scheinen, während doch nicht sie da ist oder fehlt, sondern nur ihr temperamentliches Vorbild. Darum kann das Urtheil so leicht falsch greifen, und ist so viel Erfahrung nöthig, bis man nur dahin kommt, zuzuwarten, zu schweigen, und Zeit und Urtheil reifen zu laßen. Jedoch hat der heilige Apostel einen solch’ reichen Kranz von Eigenschaften der Liebe zusammen gestellt, daß man wohl wird behaupten dürfen, es werde keiner Heuchelei gelingen, alle diese Eigenschaften sich zuzueignen. Es mag wohl möglich sein, den Schein dieser oder jener Tugend anzunehmen; das aber scheint wohl eine unmögliche Sache zu sein, alle diese kostbaren Gewande von Tugenden anzuziehen und, während das Herz in Bosheit steht, im Himmelsglanze der mannigfaltigsten Heiligkeit zu erscheinen. Wenn man daher nicht auf eine einzige Tugend, sondern auf die Vereinigung vieler das prüfende Auge richtet, so wird die Täuschung geringer werden und das selige Vergnügen, wahre Liebe anwesend glauben zu dürfen, desto sichrer und zuversichtlicher in uns walten können. Beim Ueberblick über den Kranz heiliger Eigenschaften der Liebe, der sich in unsrem Texte findet, hat es ein Seelsorger, der gerne sein Volk mit dem göttlichen Worte speisen möchte, nicht ganz leicht. Da hindert die Uebersetzung, welche bei aller Vortrefflichkeit und hohem Geschick des Dolmetschers doch mehrfach nicht eine Uebersetzung, sondern eine menschliche Auffaßung des göttlichen Ausdrucks gibt, der geschrieben ist. Zuweilen einmal gehört auch ein Wort, das der Apostel braucht, zu denen, deren Sinn nicht völlig unklar, aber auch nicht völlig klar, sondern der Deutung fähig ist, so daß man überhaupt keine Sicherheit bei allem Deuten hat. Das Auge des Menschen, so wie| seine Kenntnis der Umstände, unter welchen geschrieben worden ist, reicht nicht immer aus, aufzufinden, was die heiligen Schriftsteller in dem oder jenem Worte den Gemeinden an Wohlthat reichen wollen. Dazu kommt bei unsrer Stelle noch die Schwierigkeit, den Gedankengang herauszufinden, welchen der Apostel bei Aufzählung der einzelnen Eigenschaften der Liebe verfolgt. Nachbarlich schließt sich zuweilen ein Paar von den Eigenschaften zusammen; warum sie aber alle gerade so und nicht anders geordnet sind, das zu sagen wage ich nicht, da ich mich fürchte, die einzelnen Ausdrücke durch Biegen und Beugen meiner Auffaßung gehorsamer zu machen.

 Bei alle dem aber leuchtet der zweite Theil unsres Textes dennoch so hell und klar, daß man der Liebe Eigenschaft und Art sich selbst zur Prüfung gar wohl erkennen kann. Bei allen Eigenschaften, welche aufgezählt werden, sieht man die Liebe in einem Kampfe gegenüber der fleischlichen Reizung. Alles, was gesagt wird, erscheint als Verleugnung der Natur, als Sieg und Triumph des göttlichen Geistes über Hindernisse. Nicht wie der Mensch sich im Verhältnis zu andern gewöhnlich zeigt und gibt, nicht wie sich gegenseitig die Kinder der Welt ansehen und zu entschuldigen pflegen, sondern ganz anders benimmt sich die Liebe. Einer verzeiht dem andern in der Welt den Mangel an Langmuth und Güte, Neid, Muthwillen und all das Gegentheil von demjenigen, was St. Paulus predigt; allzu natürlich findet ein Jeder das Hervortreten der selbstsüchtigen Natur, als daß er nur den Anspruch machen möchte, sein Nachbar sollte davon frei sein. St. Paulus aber lehrt uns die Vollkommenheit des neuen, in uns gepflanzten göttlichen Lebens; er stellt keine gesetzlichen Ansprüche, sondern er verweist auf die himmlischen Wirkungen und mühelosen Früchte der Liebe, die aus dem Heiligtum stammt. Und wie sich zur Frühlingszeit die Blumen entfalten, eine nach der andern, so sehen wir im Texte einen ganzen Garten blühender duftender Himmelsblumen der heiligen Liebe. Da blüht wie auf einem Stengel Langmuth und Freundlichkeit. Die Selbstsucht ist langmüthig und freundlich bis zur Erreichung ihrer Zwecke, dann stellt sich Ungeduld, unsanftes, mürrisches Wesen ein und rechtfertigt sich aus allgemein verständlichen, niederträchtigen Gründen. Es ist euch das allen bekannt. An zweiter Stelle sehen wir Neidlosigkeit, denn die Liebe eifert nicht, d. i. sie neidet nicht. Der Neid ist eine gallichte, elende Herzens- und Geistesplage für alle, bei denen er sich meldet; aber die Liebe ist glücklich, denn sie neidet nicht, ist zufrieden mit ihrem reichen Schatze und in ihrem überfließenden Wohlwollen, kraft deßen sie allen gönnen kann und gönnt, nicht blos was sie haben, sondern mehr als das. Am dritten Orte findet sich eine dreifache Blüthe der wahren Liebe. Die Liebe treibt nicht Muthwillen, wie Luther übersetzt, sie blähet sich nicht, sie stellt sich nicht ungeberdig. Statt des Muthwillens, dem sich die rohe ungezähmte Natur so gerne hingibt, hat sie Haltung, statt des aufgeblasenen Hochmuths jene Demuth, die ihrer Mängel und Versehen eingedenk ist, und statt des ungezogenen, unanständigen, ungeberdigen Wesens, mit dem der Mensch bei jedem Widerstand, den er gegen seine Meinung und Neigung findet, sich so sehr versündigt, weiß sie nicht allein das Rechte und Gute, sondern auch das Schickliche und Schöne im Benehmen festzuhalten; bescheidene Haltung, bußfertige Demuth, heilige Betrachtung aller Grenzen des Schicklichen und Schönen und eben damit jene wunderbare liebliche Herzensbildung, die Gott und Menschen wohl gefällt, sind ihre Zeichen, wo überall sie einhertritt.

 An vierter Stelle steht wieder eine einsame aber große, herrlich duftende Blüthe, würdig mit der ersten einsam stehenden herrlichen Blume, mit der Neidlosigkeit verglichen zu werden. Man könnte sogar sagen, sie übertreffe die Neidlosigkeit an Schönheit, sie sei Königin im Garten, sie beherrsche alles Andre und gebe allem Andern, was der Apostel erwähnt, den gemeinsamen Sinn und Grundton. Es ist die Uneigennützigkeit, welche der Apostel mit den Worten darstellt: „Die Liebe suchet nicht das Ihre.“ Wir meinen nicht blos jene gewöhnliche Uneigennützigkeit, kraft welcher der Mensch in Sachen des zeitlichen Besitzes unschuldige Hände bewahrt, sondern jene, die in keinem Sinne das Ihre sucht, nicht ihre Lust, nicht ihre Anerkennung, nicht ihre Ehre, nicht ihre Freiheit, überhaupt nichts, was blos ihr gehört; sie sucht, was des Andern ist, und eben deshalb ist sie langmüthig und freundlich und neidlos, voll Haltung und Demuth und Schicklichkeit; eben deshalb wird es ihr auch leicht, sich in all den Tugenden zu bewähren,| die wir aus unserm Texte noch nicht genannt haben. Denn an fünfter Stelle sehen wir nun vier Tugendblumen paarweise einander gegenüber stehen. Da erzeugt die Liebe zuerst ein süßes, aller Galle und boshaftigen Erregung lediges, allezeit mildes Wesen, denn „sie läßt sich nicht erbittern“, noch viel weniger aber läßt sie sich zur Rache hinreißen, „sie trachtet nach keinem Schaden“; dabei freut sie sich niemals, wenn dem Andern Unrecht geschieht; aber wenn die Wahrheit und Wahrhaftigkeit sieget, da freut sie sich. Gegeneinander über stehen diese vier heiligen Blüthen der Liebe und neigen sich gegen einander, und wenn irgend etwas den Eindruck der inneren Freiheit und Vollendung machen kann, so ist es gewis die Anwesenheit dieses Doppelpaares, das nirgends blühen kann, wo man das Eigne sucht.

 Bis hieher sind wir im Garten der Liebe wie terrassenförmig aufwärts gegangen, von einer Doppeltugend zur Neidlosigkeit, von einem Drei der Tugenden zur heiligen Uneigennützigkeit, und von dieser wieder zum edlen Doppelpaare heiteren, friedlichen, der Wahrheit und Gerechtigkeit allein ergebenen Wesens. Nun aber treten wir auf die höchste Terrasse und hier duften vier edle Blüthen im stillen Vereine, jede unabhängig und groß für sich, jede ein Triumph der höchsten Liebe. Alles tragen, alle Fehler decken, – alles Gute von dem Nächsten glauben, – alles Gute von und für ihn hoffen, – alles glaubend und hoffend für ihn dulden! Also ganz im Nächsten leben, sein Heil schaffen, alles Glück in seinem Glücke finden, in ihm leben und für ihn, alles so anstellen, daß ihm sein ewiges Heil gelinge und seine zeitliche Wohlfahrt, kein Glück bedürfen als fremdes Glück, keine Herrlichkeit als die des Nächsten, selbst gesättigt im Heile Christi, in der Gemeinschaft aufgehen: das ist der Liebe Art und so erscheint ihr schöner Glanz. –

 Meine Brüder, ich habe oben gesagt, man feire das Gedächtnis JEsu, indem man den paulinischen Text von der Liebe lese; da konnt’ es nun zwar allerdings im ersten Theile scheinen, als ließe sich das Gedächtnis JEsu nicht immer anreihen. Das Zungenreden, die Weißagung, die Erkenntnis, der Glaube, das sind lauter Gaben, für welche wir uns Ihn am liebsten als Geber, nicht als den Begabten denken. Weil Er den Geist nicht nach Maßen hat, scheint es uns fast ungehörig, Ihm einzelne Gaben zuzumeßen. Anders wird es bereits bei dem Verse, in welchem der Apostel von Austheilung der Habe an die Armen und von Hingabe des Leibes in die feurige Aufopferung des Todes spricht. Da erscheint uns JEsus, da sehen wir Ihn unter den fünf und viertausenden das Brot brechen in Liebe, in Liebe den eignen Leib als Brot den Seinen austheilen, in Liebe Ihn hangen und verzehrt werden am Kreuz von grimmigen Todesschmerzen. Am allerreinsten und schönsten aber erscheint uns in der Darstellung der mancherlei Liebestugenden JEsu Christi Liebesglanz zu leuchten. So ist Er, so ist Er gewesen und ist noch so, so hat Er um unsre Seele geworben, und alle Worte des zweiten Theiles unsres Textes füllen sich erst mit den rechten Gedanken bei Betrachtung Seines liebevollen Lebens, Leidens, Sterbens, Auferstehens und Seines verklärten Eingangs in den Himmel und Verweilens dortselbst. Und wenn uns auch beim letzten Verse des zweiten Theiles für Seine göttlich klare Hoheit das „Alles tragen, Alles glauben, Alles hoffen, Alles dulden,“ für Ihn gar zu sehnsüchtig, zu schmachtend, zu menschlich, zu hingegeben erscheinen könnte; so müßen wir doch zugeben, daß mit dem menschlich starken Liebesausdruck am Ende der göttlichen Ueberschwänglichkeit Seiner Liebe am meisten die Ehre gegeben wird, und daß uns darin Sein eignes schönstes Bild gezeigt wird und Sein großes Auge voll Liebe anschaut. Ja wahrlich, das ist Liebe, und wenn man sich mit Scham und Bußthränen an diesem Bilde satt gesehen hat, dann ist man am ersten fähig, zum dritten Theile unsres Textes überzugehen und zu lesen, was sich weitaus am paßendsten anreiht, nach so viel schönem: „Die Liebe höret nimmer auf.

 Wie könnte es auch anders sein! Was sollte aus der Liebe schöneres werden? In welchen höheren Zustand sollte sie sterbend übergehen? Nein, es gibt nichts höheres und schöneres; die Liebe hört nicht auf, räumt ihren Platz nichts anderem ein, verwandelt sich auch in nichts anderes, treibt keine höheren Blüthen, ist himmlisches Leben schon auf Erden, kann durch Versetzung in die Ewigkeit nur in so fern schöner werden, als Nebel und Befleckung der Sünde aufhören und damit jedes Hindernis ihres vollkommenen Gedeihens verschwindet. Die Liebe hört nimmer auf und bleibt sich immer gleich.

|  Dieser Gedanke beschäftigt den heiligen Apostel in unsrem Texte so sehr, daß er zwischen der Liebe und den andern obenerwähnten herrlichen Gaben der Weißagung, des Zungenredens und der Erkenntnis eine Vergleichung anstellt, deren Ziel und Ende nichts andres ist, als den Sieg der Liebe über alle Gaben darzulegen. Die Weißagungen hören auf, denn sie werden erfüllt. Die Zungen kommen einmal doch zum Schweigen, wenn wir dahin kommen, wo wir alle die gleiche Sprache reden. Auch hört diese Weise der verständigen Erkenntnis auf, die wir jetzt pflegen, und macht der Erkenntnis des Schauens Raum. Alle diesseitige Erkenntnis und Weißagung ist unvollkommen, weil stückweise; aber wir werden zu einer vollendeten Erkenntnis und Einsicht in Gottes Wege kommen, dann erstirbt das Unvollkommene im Vollkommenen. Alle diesseitige Erkenntnis und Rede gleicht dem Lallen des Kindes, der Denk- und Schlußweise der Jugend, dagegen aber sollen wir für eine himmlische Mannheit erzogen werden, und wird nun dies Ziel unsrer Erziehung erreicht sein, dann werden auch unsre Gedanken und unsre Worte in ganz andrer Kraft und Fülle gehen. Hier nehmen wir all’ unsre Weisheit aus der Schöpfung Gottes oder aus Gnadenmitteln, wie sie uns der HErr für diese Welt bestellt hat; aber es kommen ewige Zeiten, da wir in Gottes Angesicht Alles schauen und erkennen werden, wie wir erkannt sind. Da hört dann die schwache stückweise Erkenntnis auf, wie auch die Weißagungen aufhören und die Zungen schweigen. Die Liebe aber wird alle diese und überhaupt alle möglichen Veränderungen überleben und mit uns gleichen Wesens in die Ewigkeit gehen. Wen sie hier geliebt, den liebt sie auch dort, sie wechselt die Gegenstände ihrer Neigung nicht, sie ist eines getreuen Gedächtnisses und vergißt nach dem Eintritt in’s Paradies über der Glorie des HErrn um so weniger die geliebten Brüder auf Erden, als der HErr Selbst, den sie dann von Angesicht schaut, ihrer in unaussprechlicher göttlicher Liebe gedenkt. Sie behält also mitten im Lichte und in den Flammen himmlischer Liebe Gottes die Bruderliebe bei und übt alle Tugenden derselben, wie sie sie hier geübt hat, in unveränderlicher Geduld und Barmherzigkeit. Wie sie in Gott dem HErrn alle Herrlichkeit väterlicher Liebe erkennt und von Ihm her erfährt, so erkennt sie in dem verklärten Erlöser den ewigen König und Hohenpriester, in Seinem Regimente und der Uebung Seines Priestertums die größte Fülle und das heiligste Vorbild ewiger Bruderliebe und vereinigt sich mit Ihm zu einer vollkommnen Fortsetzung aller der Liebesarbeit, die schon hier auf Erden begonnen hat. Wir können nicht in das ewige Heiligtum schauen, wir sind nicht wie Paulus entzückt bis in den dritten Himmel, wir leben noch in irdischer Dunkelheit; aber wenn wir sehen könnten, wenn der Vorhang fiele, so würden wir Christum sehen, wie Er unter den Schaaren unsrer miterlösten bereits vollendeten Brüder unser Gedächtnis feiert und als König und Hoherpriester die Werke himmlischer Bruderliebe übt; wir würden dort die Liebe sehen, wie sie hier gewesen, und die Einheit der Kirche dort und hier würde uns schon dadurch überzeugend entgegentreten, daß wir beide von derselbigen Liebe durchdrungen sehen würden. Das aber, meine lieben Brüder, dient ja alles dem Zweck, den der Apostel in unserm Texte erreichen will, nemlich die Liebe zu preisen. Erst sie gibt allen Gaben und Werken den Werth, wie uns der erste Theil des Textes zeigte; sie allein geht im Glanze der mannigfaltigsten selbstsuchtlosen Tugenden, wie uns der zweite Theil gezeigt hat; sie ist unsterblich wie die Seele selber, und verändert auch beim Uebergang in die Ewigkeit ihre Weise nicht, gleich der Raupe, die sich zum Schmetterling verkehrt. Damit ist so viel zu Lob und Preis der Liebe gesagt, daß wir völlig vorbereitet sind, den Schluß der Rede St. Pauli von der Liebe aufzufaßen.
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 Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, spricht er; die Liebe aber ist unter ihnen die größeste.“ So schließt er, und wer in aller Welt kann den Schluß für einen Fehlschluß halten, der auf so gewaltigen Voraussetzungen ruht. Der Glaube wird zum Schauen und stirbt in seiner Verwandelung; die Hoffnung wird zum Haben und erlischt, indem sie den Sieg und das Kleinod gewinnt; die Liebe aber ist das ewige Leben selber, das unaufhörlich bei uns bleibet, nachdem wir es einmal empfangen haben; sie erblaßt nicht im Todesthal, sie erstirbt nicht im Anschauen Gottes; sie erweist sich als Gottes Bild im Menschen und in ihr finden wir die Wiederherstellung alles desjenigen, was uns die Sünde entwendet hat. So groß ist die Liebe. Wenn daher der Apostel Paulus sie über alle andern Gaben| stellt und im ersten Verse des 14. Kapitels uns zuruft: „Jaget der Liebe nach“, so können wir doch nicht anders, als ihm völlig beistimmen, aufspringen vom Sitze unsrer Trägheit und der Liebe nachjagen, bis daß sie sich uns ergeben hat.

 Da geht der HErr im Evangelium von Galiläa die Jordan-Au hinab bis Jericho und von Jericho hinaus nach Jerusalem. Hier ist Sein Ziel und der Ort Seines Strebens, hier ist Golgatha, hier wird das große Opfer der heiligsten Bruderliebe dargebracht. Es ist ein Todesgang, auf welchem wir JEsum sehen, aber auch ein Liebesgang, denn die Liebe ist die Regentin auch in diesem Tode. Die Liebe treibt Ihn bis zu Seinem großen Wort: „Es ist vollbracht“, die Liebe bricht Ihm Aug und Herz, die Liebe treibt Seine Seele zu den andern körperlosen Seelen in’s Paradies, die Liebe öffnet Ihm wieder den Eingang in Seinen Leib, die Liebe verklärt den Leib, die Liebe bereitet Ihm eine Auferstehung, Liebe füllt die vierzig Tage nach der Auferstehung, Liebe trägt Ihn gen Himmel, Liebe regiert Ihn, wie Er hinwiederum die Welt regiert: Sein ganzer Gang ist Liebe, und Er Selbst, lauter Liebe ist Er; und wir? Können wir das Alles wieder einmal in der Fastenzeit vor uns vorübergehen sehen, ohne daß es auch uns warm um’s Herz wird, ohne daß wir aufwachen zur Nachfolge Deßen, der die Seinen geliebt hat bis an’s Ende? Können wir haßen, zürnen, geizen und ein Leben der Selbstsucht führen, während uns apostolische Worte von der Liebe predigen und der König der Ehren hehren Beispiels an uns vorübergeht? Ist niemand da, der sich in Liebe bereitet zur Fastenzeit, zur Passionszeit, zum Andenken JEsu? Ist’s nöthig, daß man auf Anathema Maharam Motha hinweist, wie auf einen in der Ferne grollenden Donner, der die Lieblosen richten, aber doch keine Liebe erwecken kann? Man kann doch nicht ohne Liebe bleiben, wenn St. Paulus von der Liebe predigt, wenn Deine Majestät, HErr JEsu, im Evangelium die Liebes- und Leidensverkündigung hält! HErr, ob man könnte, man will ja nicht. Wie der Hirsch schreit nach frischem Waßer, so schreit unsre Seele, o Liebe, nach Dir. Hörest Du nicht die Seufzer der Sehnsucht nach Dir, welche sich der Brust entwinden? Siehst Du, trocknest Du, verwandelst Du nicht die Sehnsuchtsthränen, nach Dir geweint, in Freudenthränen darüber, daß Du einkehrst und Wohnung bei uns machst? Du mit Deinen Wundmaalen, der Du die Liebe bist, erhöre uns und laß uns in der Gedächtniszeit Deiner Leiden Deiner Liebe voll werden. Kyrie Eleison, Christe Eleison, Kyrie Eleison.

Amen!




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