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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wird man doch immer geneigt sein, als reife Früchte des inwendigen Lebens, als Aeußerungen der verborgenen Tiefe der Seele anzunehmen. Und doch, und doch kann auch das, was so ganz aus dem eignen Entschluß des Menschen hervorgeht, so nützlich, so glorreich ist, der Liebe mangeln, und es können also die eigensten Thaten des Menschen ihn selbst und andre vollkommen täuschen, die Ewigkeit kann ihm eine furchtbare Enttäuschung vorbehalten, und es kann ihn aus dem Munde des Richters der schreckliche Donner des Urtheils treffen: Gehe hin von mir, du Verfluchter, ich habe dich nie erkannt. – „Selig sind die Todten, die im HErrn sterben, und ihre Werke folgen ihnen nach.“ Aber nur in Kraft der Liebe werden die zeitlichen Werke des Menschen unsterblich gemacht, zur Nachfolge in die Ewigkeit und zum Himmel erhoben; was aber ohne Liebe geschieht, das fällt wie ein Bleigewicht in’s Meer der Vergeßenheit, ja in’s Meer der Verdammnis. Es steht wohl geschrieben: „Das ist die Liebe zu Gott, daß wir Seine Gebote halten,“ aber das ist nicht so zu faßen, als bestände die Liebe nur in Werken und Thaten, als wäre sie überall ohne Zweifel vorhanden, wo Werke und Thaten glänzen. Nein, nein, von den Thaten auf die Liebe, von den Werken auf den Meister, von den Früchten auf den Baum ist nicht immer ein sichrer Schluß. Umgekehrt, von der Ursache auf die Wirkung wird immer wohl geschloßen; von der Wirkung aber auf die Ursache, ich wiederhole und warne, gilt nicht immer der Schluß. Ganz unsichtbar und fast unerkennbar für das Menschenauge wird dadurch die Liebe. Es sieht aus, als gälte allein das Wort: „Der HErr kennt die Seinen,“ und ob wir auch deshalb nicht von der heiligen Pflicht des achten Gebotes, darnach wir Gutes reden und alles zum Besten kehren sollen, entbunden werden, so wird doch durch eine solche Warnehmung im Ganzen unser Urtheil kleinlaut und unser Vertrauen zu der Liebe unsrer Brüder fast zweifelmüthig. Es ist ja am Tage, daß alle Gaben und Werke, so hell sie glänzen, nicht nothwendig Aeußerungen und Früchte, oder auch nur Begleiter der Liebe sein müßen!

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 So unsicher also ist unser Schluß von den Werken auf die Liebe. Nun aber gehen wir zum zweiten Theil unsres Textes, in welchem uns nothwendige Eigenschaften der Liebe vorgelegt werden. Auch diese Eigenschaften sind nicht von der Art, daß sie uns einen vollkommen sicheren Weg zur Erkenntnis vorhandener Liebe anzeigten; auch bei ihnen ist Heuchelei zu fürchten. Es gelingt manchmal diesem Satansengel, die Gestalt der Liebe anzunehmen und sich so zu geberden, daß man darauf schwören möchte, es sei Liebe vorhanden, bis etwa dennoch zuletzt der Schleier sinkt und ein häßliches Gesicht der Bosheit enthüllt wird. Auch wird hie und da einem Menschen der Schein liebevollen Benehmens um so leichter gelingen, weil für das Benehmen so gar viel auf das Temperament ankommt. Da kann einmal eine Tugend vorhanden oder abwesend scheinen, während doch nicht sie da ist oder fehlt, sondern nur ihr temperamentliches Vorbild. Darum kann das Urtheil so leicht falsch greifen, und ist so viel Erfahrung nöthig, bis man nur dahin kommt, zuzuwarten, zu schweigen, und Zeit und Urtheil reifen zu laßen. Jedoch hat der heilige Apostel einen solch’ reichen Kranz von Eigenschaften der Liebe zusammen gestellt, daß man wohl wird behaupten dürfen, es werde keiner Heuchelei gelingen, alle diese Eigenschaften sich zuzueignen. Es mag wohl möglich sein, den Schein dieser oder jener Tugend anzunehmen; das aber scheint wohl eine unmögliche Sache zu sein, alle diese kostbaren Gewande von Tugenden anzuziehen und, während das Herz in Bosheit steht, im Himmelsglanze der mannigfaltigsten Heiligkeit zu erscheinen. Wenn man daher nicht auf eine einzige Tugend, sondern auf die Vereinigung vieler das prüfende Auge richtet, so wird die Täuschung geringer werden und das selige Vergnügen, wahre Liebe anwesend glauben zu dürfen, desto sichrer und zuversichtlicher in uns walten können. Beim Ueberblick über den Kranz heiliger Eigenschaften der Liebe, der sich in unsrem Texte findet, hat es ein Seelsorger, der gerne sein Volk mit dem göttlichen Worte speisen möchte, nicht ganz leicht. Da hindert die Uebersetzung, welche bei aller Vortrefflichkeit und hohem Geschick des Dolmetschers doch mehrfach nicht eine Uebersetzung, sondern eine menschliche Auffaßung des göttlichen Ausdrucks gibt, der geschrieben ist. Zuweilen einmal gehört auch ein Wort, das der Apostel braucht, zu denen, deren Sinn nicht völlig unklar, aber auch nicht völlig klar, sondern der Deutung fähig ist, so daß man überhaupt keine Sicherheit bei allem Deuten hat. Das Auge des Menschen, so wie

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/171&oldid=- (Version vom 1.8.2018)