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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wollen, das Ur- und Vorbild jeder andern christlichen Liebe. So gehen also die beiden Texte zusammen, und indem wir uns nun zu einer Betrachtung der Liebe wenden, die St. Paulus predigt, brauchen wir das Gedächtnis der Leiden nicht wegzulegen, sondern im Gegentheil wir ziehen es an wie ein Kleid, wir legen es nun sechs Wochen lang nicht mehr ab, wir nehmen es auch mit hinein in unsern jetzigen Vortrag, und beständig den Gekreuzigten im Auge, werden wir nun sehen und erkennen, wie treffend der Apostel JEsu Herz und Thun voll Liebe in unsrem Texte gezeichnet hat.

 Wenn man ein größeres Ganzes vor sich hat, so fühlt man das Bedürfnis, es zu übersehen und im Zusammenhang seiner Theile kennen zu lernen. Erst wenn man den Ueberblick über das Ganze und die Gliederung seiner Theile gewonnen hat, geht man vergnüglich zur genaueren Kenntnisnahme der Theile über. So ist es auch mit unsrem Texteskapitel, welches schon beim ersten Lesen den Eindruck eines Ganzen macht und in dem herrlichen ersten Corintherbriefe sich ausnimmt wie ein seliges, blühendes Eiland im Meer. Sucht man nun bei diesem Kapitel die Theile, so grenzen sie sich vor dem beschauenden Auge sehr leicht ab. Da sehen wir zuerst in den drei Anfangsversen des Textes aller Gaben und Thaten Unwerth ohne Liebe; dann zählt St. Paulus vom vierten bis siebenten Verse die Eigenschaften der Liebe auf, die nothwendigen, die nimmer mangeln dürfen, wo Liebe ist. Dann wird uns vom achten bis zwölften Verse der Liebe unvergängliches, hier in der Zeit und dort in der Ewigkeit sich immer gleich bleibendes Wesen dargelegt, und am Schluß im 13. Verse wird sie uns in ihrer Größe und Würde im Vergleich mit dem Glauben und der Hoffnung gezeigt. Eine herrliche Belehrung, ja mehr ein Lied und Preisgesang auf die heilige Liebe, als eine bloße Belehrung! Was wird schöner und lieblicher sein als diese vier Theile des Textes in’s Auge zu faßen und genauer kennen zu lernen.

 Dabei aber kommt dem Deutschen leicht eine Frage. Er läßt sich gern von St. Paulo belehren, “nimmt allenfalls mit Dank und tiefer Anerkennung die vier Theile des apostolischen Textes an; aber es däucht ihm, als fehle bei aller Vollkommenheit etwas. St. Paulus redet von den Eigenschaften, der unbegrenzten Dauer und dem hohen Werthe der Liebe, aber – er sagt ja nicht, was die Liebe selber sei, und das will der Mensch, der auf der Schule gewesen ist, doch vor allem wißen. Es wird auch nicht helfen, daß man die Sache umkehrt und dem Frager die Frage selbst wieder vorlegt, die seinen Geist bewegt. Ist er bescheiden, so wird er erwiedern: „Ich wünsche wohl zu wißen, was die Liebe sei, und eben weil ich mich nicht getraue, die Frage zu lösen, so stelle ich sie in meinem Herzen an den Apostel.“ Der aber löst sie dennoch nicht, so sehr man es verlange. Was sie nicht sei, die Liebe, und wie sie sei, darüber ergießt sich die harmonische Rede seines Mundes; aber so wenig die Schrift erklärt, was Gott sei, so wenig erklärt sie, was die Liebe sei. Das Herz versteht die hohen Namen, auch wenn es die Grenzen deßen, was sie umfaßen, nicht sieht; und wenn einer auch nicht schulgerecht sagt und sagen kann, was Gott und die Liebe sei, und sich diese Begriffe gegen die Grenzen des Verstandes auflehnen, so kann er doch Gott und die Liebe beides erkennen und besitzen, so wie man sich auch denken könnte, daß ein König Herr sei über Länder und Meere und Leute, deren Grenzen er nicht stecken und deren Zahl er nicht nennen kann. Was liegt auch daran, ob du die Grenzen der unermeßlichen Liebe kennst und ihren Begriff verstehst? Hüte dich, nur Falsches von der großen Königin zu sagen, und sei bescheiden, wenn du Wahres sprichst. Sage nicht, die Liebe sei eine That, sage auch nicht, sie sei ein innerer Zustand der Neigung und des Wohlgefallens an dem Geliebten; es ist doch alles zu wenig. Sprich auch nicht, sie sei kein Leben in sich, sondern in Andern und für Andre, sie gebe sich dem Geliebten und für ihn; sie sei immer im Geben, ein reicher Strom, der sich ergießen müße und es nicht laßen könne; es ist doch auch das nicht richtig, denn die Liebe empfängt auch, sie gibt nicht blos, weil sie die Vollkommenheit des Geliebten will und derselbe vollkommen nicht sein könnte, wenn er blos empfienge, selbst aber niemals gäbe. Kurz, bescheide dich; trachte nach Liebe; lerne die Liebe, die du haben sollst; gehe zu Paulo in die Schule, der auch ein Jünger der Liebe ist wie Johannes; nimm an und erfahre, was er dir sagt, und überlaße es dem Geiste Gottes, dem treuen Lehrer, dich beim Fortschritt deines Lernens und Erfahrens

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/168&oldid=- (Version vom 1.8.2018)