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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

immer tüchtiger zu machen, annäherungsweise sagen zu können, was die Liebe sei. Komm, laß uns, nicht länger aufgehalten, dem Apostel zu Füßen sitzen und seine Worte hören und bewahren in einem feinen guten Herzen.

 Im ganzen zwölften Kapitel hat der Apostel einen Ueberblick über die mancherlei außerordentlichen Gaben des heiligen Geistes gegeben, welchen er zuletzt im 31. Verse mit der Ermahnung beschließt: „Trachtet nach den beßeren Gaben, d. h. nach den größeren und nützlicheren, von denen ich euch gesagt habe, und ich will euch noch einen beßeren Weg zeigen.“ Der Weg aber, der ihm überschwänglich höher steht und geht als die Erweisung aller von ihm gerühmten und gepriesenen Gaben, ist der Weg der Liebe. Die Liebe vergleicht er mit allen Gaben, ja mit den größten und herrlichsten, und gibt ihr nicht allein den Vorzug vor allen, sondern er belehrt uns auch, daß keine Gabe ohne die Liebe irgend einen Werth in Gottes Augen besitze. Zuerst wendet der Apostel dies auf die Sprachengabe an, dann auf die Gabe der Weißagung, auf den Wunderglauben und endlich auf die Werke der Barmherzigkeit, welche uns in den 28 Versen des vorigen Kapitels bei dem Namen der Helfer ins Gedächtnis treten können und in andern ähnlichen Stellen unter den Namen der Mittheilung, der Gemeinschaft, der Barmherzigkeit als Aeußerung einer besondern Gnadengabe vorkommen. – „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, spricht er also zuerst, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle.“ Es werden also Engelzungen und Menschenzungen unterschieden; die Menschenzungen sind mancherlei, auch die Engel haben Zungen, Sprachen wie die Menschen haben, und wie der heilige Geist verleihen kann, Menschensprachen zu sprechen, die man nie gelernt, so kann er auch Engelzungen verleihen, Menschen mit Engelsprachen reden lehren. Ist denn das, meine Brüder, etwas Geringes, ist’s nicht etwas Außerordentliches und Großes zu nennen? Ist es nicht etwas höchst Ergreifendes, Menschen-, ich will nicht sagen irdische Zungen und Sprachen, sondern Engelsprachen reden zu hören? Wenn wir Zeugen sein würden von dieser hohen Gabe, wenn wir einmal die Erfahrung davon hätten, würden wir nicht gerade in dieser Gabe den Geist Gottes als Sprachenmeister und die Sprache selbst als das wunderbarste aller Gotteswerke erkennen? So groß aber das Werk ist, so verliert es doch allen Werth, wenn im Herzen des Menschen, der die Sprachengabe besitzt, die Liebe nicht herrscht. Das größte Gotteswerk der Fertigkeit in fremder Zunge wird zum tönenden Erz und zur klingenden Schelle, also zur bloßen Instrumentalmusik statt zum hohen Preisgesang beseelter Menschenzungen, wenn die Liebe mangelt. Aehnlich ist es mit der prophetischen Gabe. „Wenn ich weißagen könnte, spricht der Apostel, und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis, so wäre ich nichts, wenn ich die Liebe nicht hätte“. Man kann also die Gabe der Weißagung besitzen, alle Geheimnisse wißen und alle Erkenntnis haben und doch nichts sein, weil die hohen Gaben nur durch die Liebe ihren Werth bekommen, den Weg der Liebe gehen sollen, die da sucht, was des andern ist, und ohne diese Verbindung mit der Liebe dem Menschen eben so wenig nützen und eben so wenig Liebe und Huld erwerben, als es bei Bileam der Fall war, der die Gabe der Weißagung besaß und doch von Gott verworfen wurde. Nur die Liebe gibt der Gabe den rechten Werth, und wenn jemand mit allen Gaben geschmückt ist, aber sie nicht in Liebe und Sorge für den Nächsten anwendet, so verwandelt sich ihm die Gabe und ihre Aeußerung in ein pures Nichts. Gottes Augen schauen nach der Liebe und blicken schrecklich, wenn irgend wer die hohe Gabe des HErrn nicht anwendet, wozu sie gegeben wird, nemlich um in der Gemeine der Heiligen zum Liebesband zu dienen und zu Gottes Dank und Preis, zu einer Saat des Segens unter den Menschenkindern verwendet zu werden. –

 Ebenso ist es mit dem Glauben. Zwar ist hier nicht die Rede von dem seligmachenden Glauben, sondern nur von jenem Wunderglauben, vermöge deßen in der sichtbaren Welt oft große Erfolge erreicht, wie der HErr Matth. 17 und St. Paulus in unserm Texte sagt, Berge versetzt und in’s Meer geworfen werden können. Hier und in andern Stellen der heiligen Schrift ist diese Gabe getrennt gedacht von der Liebe und wahren Anbetung JEsu, und die Trennung ist keine bloße Gedankentrennung, sondern wir haben Zeugnisse des göttlichen Wortes, nach denen sie in der Wirklichkeit

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/169&oldid=- (Version vom 1.8.2018)