Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres | |
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den Menschen und von dem wichtigen Satze, daß neben einer hohen Stufe sittlicher Vollendung, ja in der innersten Mitte derselben, das strengste, bußfertigste Selbstgericht, wie es sich Röm. 7 ausspricht, einher gehen kann. Die Gnade Gottes wirkt also nicht blos rechtfertigend, sondern wirklich heiligend auf den Christen; Heiligung und Tugend sind keine leeren Namen, und es liegt darin ein großer Trost für die Kinder der Kirche, die dann weder andre bis ins Grab nur im Stande zunehmender Sünde und Sündengefangenschaft erkennen, noch auch von sich selbst die Hoffnung der Heiligung und Beßerung aufgeben müßen. Es kann, es soll, es wird anders, es wird beßer werden, und das zunehmende Gefühl der Sünde ist nicht ein Gegenbeweis, sondern ein Beweis für den Satz. Ja man kann geradezu sagen und wiederholen, daß der Gradmeßer der Sündenerkenntnis zugleich der Gradmeßer der Heiligung sei, und daß der Christ, je heiliger und höher sich sein Gang hebt, innerlich desto zerschlagener werde. Man darf auch nicht einmal sagen, daß bei den Gläubigen doch der Fall nicht vorkomme, wie bei St. Paulo, daß sie neben dem tiefsten Sündengefühl, doch auch eine so ruhige und zuversichtliche Einsicht in den Fortschritt ihrer Heiligung und den Stand ihrer Vollendung hätten. Es kann tausend Christen geben, an denen andre nur immer Fortschritt sehen, während sie selbst immer von Rückschritt reden und ihnen der Stand ihrer Heiligung verschloßen ist. Gott kann eine heilige Absicht haben, warum er vielen die Erkenntnis ihrer Heiligung und ihres Fortschritts versagt. Dagegen aber kann es auch jetzt noch Menschen geben und gibt sie auch, die nach zweien Seiten hin völlig klar sehen, ihr Verderben immer tiefer erkennen und dennoch ihren Feinden gegenüber den vollen Trost St. Pauli haben, niemand Anstoß gegeben, unsträflich und würdiglich als Diener Gottes gewandelt zu haben. Nicht einem jeden ist diese Erkenntnisstufe verliehen, wer sie aber hat, der kann in Wahrheit und Demuth so von sich reden, wie St. Paulus und ist ein Wunder in den eignen und in fremden Augen, eben weil sich solche Gegensätze friedlich in ihm vereinen. –
Nachdem wir den Wandel St. Pauli im Allgemeinen betrachtet haben, kommen wir zum ersten Theile der Ausführung im Einzelnen. Alles, was in diesem ersten Theile aufgezählt ist, faßt sich in den Namen derjenigen Tugend zusammen, die zuerst genannt wird. St. Paulus sagt nemlich: „Wir empfehlen uns als Diener Gottes in allen Stücken, in vieler Geduld“; und nachdem er auf diese Weise eingeleitet, nennt er all das Unglück und darnach die Hauptsachen der Mühseligkeiten, unter welchen sich seine Geduld bewährte. Bei Aufzählung des Ungemachs und Unglücks steigt er wie an einer Leiter empor und zeigt uns immer eine größere Noth nach der kleineren. An erster Stelle nennt er die äußeren Verfolgungen, an der zweiten die schweren bedrängten Umstände, die Nöthen, welche aus den Verfolgungen kommen, an der dritten die Aengsten, welche aus Verfolgung für das Herz und innere Befinden kommen. Dann geht er weiter und zeigt wie die Verfolgung zu ihrem Ziele schreitet, Noth und Angst nicht ohne Ursache ist, er redet von den Schlägen, die sein Leib um Christi willen auszuhalten hat, sodann von den Gefängnissen, in die er geführt worden ist, und endlich von den Schrecken des Aufruhrs, der sich so manchmal um seinet- und seines Evangeliums willen erhoben hat. Damit beschließt er die Reihe aller der Unglücksfälle, die ihm schon um Christi willen zugekommen sind, und es ist, meine lieben Brüder, kein Zweifel, daß wir diese Reihe aus der Epistel des Sonntags Sexagesima noch vermehren können. Hierauf nennt er noch drei besondere Mühseligkeiten, deren eine jede ihm oft genug in Erfahrung gekommen ist. Er nennt nemlich: mühselige Arbeit, oftmaliges Wachen und Fasten. In allen diesen schweren und lastenden Fällen des Lebens schreibt sich der Apostel Geduld zu. So wie ein Lastthier stille steht und sich beladen läßt mit dieser und jener Last, ohne auch nur Miene zu machen, sich derselben zu entziehen; so wie es daher geht, all seine Kräfte anstrengt um sich aufrecht zu halten und die Last fortzubewegen, der Aufgabe nicht ungetreu wird, die ihm gestellt ist: so entzieht sich der Apostel allen den Leiden nicht, geht ihnen alle Tage wieder mit Ruhe und Freudigkeit entgegen, bleibt aufrecht, wird nicht laß noch müde, so sehr sich auch Hände und Kniee nach Ruhe, die Augen nach Schlaf, der Leib nach Speise, die Seele nach einer Zeit der Erleichterung und Erquickung sehnt. Es laßen sich wohl noch viele andre Proben der Geduld denken, aber es läßt sich auch nicht leugnen, daß die angeführte Reihe eine ausgesuchte, auserwählte ist, eine hohe Schule der
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/180&oldid=- (Version vom 1.8.2018)