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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

auch gar kein Bild von ihnen machen will, die scheinbar große Verehrung bewirkt eine solche Entfernung von ihnen, die man Kälte und Gleichgiltigkeit nennen muß. Würde man sich mit biblischen Charakteren vergleichen, so würde man nicht allein sich bußfertig vor ihnen schämen lernen, sondern man würde sich auch zur Nachahmung gedrungen fühlen. Das aber scheut man gerade. Solche Muster stehen zu hoch und zu fern; wer ihnen nachstreben wollte, den hielte man für einen Schwärmer, der nach einiger Zeit und gemachter Erfahrung schon wieder umkehren, und seine Vorbilder sich in den Kreisen des gewöhnlichen Lebens suchen wird. Gerade das aber ist ein rechter Flecken der gewöhnlichen, protestantischen Gemeinden; man wählt seine Vorbilder aus zu niedrigen Sphären und die Menschen haben daher von sich selbst und machen auf andre den Eindruck, daß sie gewöhnliche, gemeine Leute seien. – Hier, meine Freunde, könnten wir eine protestantische Sünde finden, die man am Bußtag wohl hervorheben und zu Gemüthe führen dürfte; der Mensch bedarf Vorbilder, Beispiele denen er nachwandeln kann. Von seinen Vorbildern und Beispielen hängt der Schwung ab, den sein Leben aufwärts, oder ins flache Weite, oder in die dunkle Tiefe nimmt. Es lautet erstaunlich schwung- und geistreich, zu sagen, man möge sich keine andern Vorbilder wählen als JEsum Christum selber; in der Regel aber ist dahinter gar nichts; es ist das meistens weiter nichts als eine hohle, leere Phrase und eine Beziehung auf Christum, die gewöhnlich nicht die geringste Wahrheit in sich trägt. Es wird kein Mensch leugnen können, daß die Nachfolge Christi ein biblischer Gedanke sei; aber es werden auch wenige Menschen sich jemals die Frage gelöst haben, ob man Christo in allen Stücken nachahmen dürfe und könne und solle, und in welchem Sinn uns der Befehl gegeben ist, Christo nachzufolgen. Ist es einem ein Ernst ein Nachfolger Christi zu sein, und hat man wirklich Lust Ihm nachzuahmen, worin man soll, nemlich in der Selbstverleugnung und Demuth, so freut man sich auch geringerer Vorbilder und Beispiele. Da sieht man etwa das Beispiel Pauli an, wie er selbst es in unsrem Texte zeigt, erkennt ihm gegenüber die eigene Armuth, das eigne pure Nichts, und läßt sich durch die Zerknirschung, von der man ergriffen wird, zu einem neuen Lebensanfang leiten. Und das ists, meine Freunde, was ich euch Angesichts unsrer Epistel wünsche, so wünsche, daß ich gar nichts dagegen hätte, wenn ihr mir auf meinen Wunsch mit Buße, Beichten und Seufzen antwortetet. St. Pauli Beispiel ist groß und hehr: bei seiner Betrachtung können wir uns allerdings schämen lernen.

 Aber nicht bloß das. St. Paulus erzählt seinen Lebenslauf in unserm Texte zu dem Ende, daß sich die Corinther beeifern sollen, die empfangene Gnade Gottes nicht ohne Frucht der Heiligung sein zu laßen. Wenn man ein Schüler eines solchen Lehrers ist, hat man Ursache, es mit der That zu beweisen, nicht aber gegen die vorhandenen göttlichen Kräfte auszuschlagen und sich ihnen zu widersetzen. Allein da stehen wir wieder vor einer unter uns gewöhnlichen, unerkannten Sünde, die man am Bußtage auch gar wohl nennen kann und soll. Fern liegt es, uns St. Pauli Beispiel anzueignen, ihn zum Vorbild zu nehmen, und nicht minder fern liegt uns der Gedanke, daß Paulus auch unser Lehrer sei, und deshalb schon, nicht blos wegen der hohen Vortrefflichkeit seines Beispiels, wir schuldig seien, uns ihm nachziehen und die Gnade nicht vergeblich sein zu laßen. Zwar werden uns immer St. Pauli Episteln gelesen, und wir laßen uns von ihm belehren; er lebt für uns, weil seine Worte bei uns im Schwange gehen; die lutherische Kirche nennt sich auch gerne im Bewußtsein ihrer Treue gegen die Rechtfertigungslehre des großen Apostels eine paulinische Kirche. Deshalb aber kommt es dennoch selten einmal einem Menschen bei, sich einen Schüler Pauli zu nennen, und ihn seinen Lehrer. Der Apostel ist gewis vermöge seiner Schriften nicht minder jetzt ein Lehrer der Völker und Heiden zu nennen, als früherhin; aber weil er nicht mehr persönlich unter uns steht, und man seine Stimme blos sieht und nicht mehr hört, so legt man auf die Jüngerschaft Pauli gar keinen Werth, und man kann leicht auf die Worte eines jetzt lebenden geringen Predigers oder Lehrers mehr Gewicht legen, als auf die Worte Pauli. Weil man nun die rechten Lehrer nicht nahe weiß, und sich mit ihnen in keiner Verbindung und in keinem Verhältnis fühlt, so fühlt man sich auch nicht angemahnt zum Gebrauch der empfangenen göttlichen Gnade, wenn einem die hohe Gestalt des Apostels in aller apostolischen Würde mit aufgehobenem Finger vor Augen tritt.

 Möge sich das bei uns ändern. St. Paulus

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/185&oldid=- (Version vom 1.8.2018)