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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

den Worten St. Jacobi durchgedrungen sind in das vollkommene Gesetz der Freiheit. Das wäre unsres Bußtags größter Sieg und Segen.

 Indem ich nun zur Betrachtung des Textes komme, bitte ich euch, unsre eben ausgesprochene Absicht auch dann nicht zu vergeßen, wenn es eine Zeit lang scheinen sollte, als hätte ich sie vergeßen. Denn die Auslegung des Textes verlangt es, daß ich nicht allein die Verwandtschaft der Epistel mit dem Evangelium zeige, nicht blos die Apostel und Diener als des HErrn JEsu würdigen Nachfolger in Mühsal und Versuchung kennen, sondern den Text, so wie er daliegt, anschauen lehre. Da kommt denn auch anderes vor, als die Vergleichung der Diener und des HErrn; und dies Andre ist von der Art, daß es erkannt sein muß, wenn man auch nur diese Vergleichung finden soll. Darum ist es sogar für unsern Zweck ganz nöthig und unvermeidlich, den Text kennen zu lernen so wie er vorliegt.

 Dieser Text ist nach seinem engeren Zusammenhang nichts anderes, als eine Ermahnung des Apostels an die Corinther, die Gnade, welche sie empfangen haben, nicht vergeblich oder unnütz sein zu laßen. Die Ermahnung stützt sich aber auf das Wohlverhalten des Apostels und überhaupt der Amtsträger Christi, durch deren Wort und Dienst ihnen die Gnade zugekommen ist. Weil sie solche Lehrer und Seelsorger haben, deshalb sollen sie die Gnade nicht vergeblich sein laßen: es möchte sie sonst bei dem HErrn der Herrlichkeit jede einzelne Tugend ihrer Lehrer und Seelsorger verklagen, ihr Weh und ihre Verdammnis desto größer werden. Es ist ganz richtig, daß das Wort Gottes im Munde der verschiedensten Lehrer, ja auch sehr ungetreuer Lehrer dennoch rein und auch wirksam sein kann. Wenn aber eine Gemeinde Lehrer hat, die nicht blos im Allgemeinen recht predigen und das Amt wohl verwalten, sondern auch durch ihr Beispiel, durch ihre Aufopferung und ihre Begabung die Menschen einladen das Wort aufzunehmen, und es ihnen dadurch auch leicht machen; so ist das noch eine besondere Gnade Gottes, für deren Gebrauch der HErr Verantwortung fordern wird. Je größer der Lehrer ist, desto verdammlicher wird der Jünger, wenn er sein Wort nicht annimmt. Es ist also keineswegs ein gesuchter, weit entlegener, sondern namentlich bei den Corinthern ein sehr nahe liegender und gewaltiger Grund, wenn St. Paulus sagt, sie sollen die empfangene Gnade deshalb nicht an sich vergeblich sein laßen, weil sie ihnen durch so große Lehrer vermittelt ist. Wir dürfen daher auch die Begründung der apostolischen Vermahnung nicht so leichthin übersehen, sondern es ist unsre heilige Pflicht, uns dieselbe anzueignen.

 Indem ich das sage, denke ich mir den Fall, daß irgend jemand unter euch bei meinen Worten das Auge im Texte hat, und mich sodann befremdet und zweifelnd ansieht, weil er zwar die Vermahnung, von der ich rede, aber keine Begründung der Art findet, wie ich sie angebe. Es sollte mich ein solches Befremden, wenn es vorkäme, nicht im mindesten Wunder nehmen; wohl aber müßte ich mich wundern, wenn irgend ein aufmerksamer Leser das Befremden nicht theilen würde, da der deutsche Text allerdings von der wirklich vorhandenen Begründung Pauli gar nichts merken läßt. Die Ermahnung findet sich nemlich in den beiden ersten Versen, die Begründung aber in den acht übrigen. Nach Luthers Uebersetzung jedoch heißt der dritte Vers: „laßt uns niemand irgend ein Aergernis geben, auf daß unser Amt nicht verläßtert werde“, – eine Uebersetzung, bei welcher die Begründung St. Pauli selbst zu einer Vermahnung an die Corinther geworden ist, während der Zusammenhang nach den Worten Pauli ein ganz andrer ist. Der zweite Vers unterbricht nemlich den Zusammenhang, während der dritte sich eng an den ersten anschließt, und ungefähr die folgende Auffassung verlangt: „Als Mitarbeiter vermahnen wir euch aber auch, daß ihr die Gnade Gottes, die ihr empfangen habt, nicht vergeblich sein laßet, da wir euch ja in nichts auch nur den geringsten Anstoß geben (damit das Amt nicht verläßtert werde), sondern uns in allen Stücken als Diener Gottes empfehlen“ u. s. f. Daß dieses der Sinn sei, geht aus dem griechischen Texte so unzweifelig hervor, daß ihr euch dafür leicht Zeugnis genug verschaffen könnt. Es läßt sich auch unsre deutsche Uebersetzung kaum anders erklären, als aus der durch die Uebersetzung der römisch katholischen Kirche herkömmlichen Auffaßung. Nehmen wir also unsern Text so, wie er genommen werden muß, so ergeben sich die oben angedeuteten beiden Theile, eine apostolische Ermahnung die empfangene Gnade nicht vergeblich sein zu laßen, und eine Begründung

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/177&oldid=- (Version vom 1.8.2018)