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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Geduld, und daß derjenige groß im Dulden geworden sein muß, der sich in dieser Reihe geübt, und eine Meisterschaft errungen hat. Auch muß es eine große Sache sein, um deren willen man sich all dem hingeben soll, einmal und immer aufs Neue. Und wenn nun St. Paulus um der Ausrichtung seines Amtes willen diese Lasten immer aufs Neue sich auferlegen läßt, und diese Mühseligkeiten erduldet, da er sich ihnen doch entziehen konnte, wenn er Beruf und Predigt ließ, so ist es am Tage, was für ein großer und treuer Diener JEsu er ist, und wie er durch so viele Leiden und große Geduld den Gemeinden hätte empfohlen werden sollen.

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 Bei der Vorlegung der Amtstugenden und Gaben des Apostels steht an der Spitze das griechische Wort, für welches unsre Uebersetzung das deutsche Wort „Keuschheit“ setzt, obwohl dies Wort zu eng und kurz ist für den Umfang des griechischen Wortes, welches keineswegs allein eine Reinigung der Seele in geschlechtlichen Dingen, sondern überhaupt eine Heiligung und Reinigung aller Begier der Seele andeutet, und etwa mit Reinheit oder ungefälschter Lauterkeit der Seele wiedergegeben werden könnte. Prüfen wir uns nun beim Ueberblick aller der Tugenden und Gaben, die St. Paulus nennt, ob auch wir die göttliche Lauterkeit und Reinheit der Begier vorne an als Chorführerin, als Grundtugend, ja als Bedingungen der übrigen gestellt haben würden, so werden wir vielleicht in eine Verlegenheit kommen. Wir machen gern eine andre Ordnung. Sicherlich würden wir den heiligen Geist, der erst an fünfter Stelle steht, an die erste, die Erkenntnis an die zweite, dann vielleicht die heilige Lauterkeit an die dritte Stelle gebracht haben. Nun aber sehen wir zwar die Erkenntnis auch an zweiter Stelle, an der ersten aber die Lauterkeit des Willens und der Begier. Diese Stellung, die an und für sich selber richtig sein muß, weil ja St. Paulus den Geist des HErrn hat, rechtfertigt sich bei einiger Ueberlegung schnell auch vor unserm Verstande. Ohne Lauterkeit der Begier gibt es in göttlichen und geistlichen Dingen keine rechte Erkenntnis. Diese Erkenntnis ist zu sehr ein Stück des Lebens, als daß sie von andern los getrennt werden könnte. Es gibt schon eine Verstandeserkenntnis und eine Gelehrsamkeit, die ohne Tugend entsteht und wächst und groß wird; wie viele besitzen sie und verzichten in der Ruhe, die sie darauf liegend halten, auf Beßeres und Größeres. Aber dies fahle, todte Licht des menschlichen Verstandes ist von dem göttlichen Lichte der Seelen, welches auf dem Wege unsrer christlichen Erkenntnis und Vollendung „Erkenntnis“ heißt, sehr verschieden. Keine wahre Erkenntnis ohne ein lauteres Herz; Finsternis ist im Innern, so lang der Wille nicht entschieden zum Guten sich neigt. Es ist eine Thatsache, die kein Erfahrner leugnet, daß oft eine lautere Willenskraft vorhanden ist, während ihr doch noch Licht, Weg und Ziel mangelt. Daher geht allerdings unser Weg von der Lauterkeit zur Erkenntnis. An der dritten Stelle bringt uns dann der Apostel Langmuth, an der vierten Freundlichkeit. Wie in der vorigen Epistel von der Liebe gesagt wird, sie sei erstens langmüthig, zweitens aber freundlich; so ist auch hier die Freundlichkeit nach der Langmuth gesetzt. Was wäre auch eine Freundlichkeit ohne Langmuth? Kann man eine Tugend hoch anschlagen, die keine Dauer hat, sondern schnell wieder dahinstirbt; kann jemand die bleibende andauernde Tugend der Freundlichkeit besitzen, ohne die Macht in seiner Seele zu haben, vermöge deren man alle Schwachheit des Nächsten und jedes Hindernis der Liebe überwindet? Wahrlich ein guter langer Muth, ein ausdauerndes unermüdliches Wohlwollen bedarf derjenige, bei welchem die Freundlichkeit nicht pur Aprilwetter und vergängliche Laune sein soll. Die geistliche Tugend der Langmüthigkeit aber, die Mutter der Freundlichkeit, verdankt ihr ganzes Leben dem lauteren Willen und der denselben begleitenden klaren Einsicht. Bei unlauteren, falschen Herzen, so wie bei dunkler und wandelbarer Erkenntnis gibts weder Langmuth noch wahre Freundlichkeit, du müßtest denn die angeborenen temperamentlichen Tugenden gleichen Namens mit den geistlichen Tugenden vermengen. Nunmehr folgt, an fünfter Stelle der heilige Geist. Es versteht sich von selbst, daß unter dem heiligen Geiste hier an dieser Stelle nicht im Allgemeinen die dritte Person der Gottheit gemeint sein kann. Wie würde auch der, welcher ein Quell und Meister alles Guten ist, in irgend einer Reihe die fünfte Stelle einnehmen können? Es muß hier unter dem Namen „heiliger Geist“ irgend etwas, irgend eine Wirkung des vorhandenen heiligen Geistes gemeint sein, die an fünfter Stelle stehen kann, die zu dem bereits Angeführten in einem Verhältnis des Fortschritts,

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/181&oldid=- (Version vom 1.8.2018)