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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht ertödtet; 10. Als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts inne haben, und doch alles haben.


 UNsere Landeskirche feiert an dem heutigen Sonntag ihren jährlichen Bußtag. Im Allgemeinen spricht sie damit einen uralten Gedanken aus, nemlich daß die Passionszeit, wie eine Gedächtniszeit der Leiden JEsu, so auch eine Zeit der Buße sein solle. Was jedoch die Wahl des Tages insonderheit anbetrifft, so würde man in früheren Zeiten überhaupt keinen Sonntag, auch keinen Sonntag der Passionszeit zum Bußtage gemacht haben. Man war früherhin zu sehr gewohnt, jeden Sonntag als einen Bruder des Ostertages mit Freuden zu begehen, und das Gedächtnis der in Christo JEsu auferstandenen Menschheit mit dem Anfang jeder Woche zu verbinden, als daß man die öffentliche Bußandacht des Jahres auf einen Sonntag hätte legen können. Tritt doch sogar in den sonntäglichen Evangelien und Episteln der Passionszeit der Gedanke der Leiden JEsu in einem gewissen Maße zurück, wie ihr dies alle gewis schon oft bemerkt und hie und da einer unter euch es vielleicht auch schon getadelt haben wird, weil er den Sinn und Gedanken der alten Kirche bei der Textwahl nicht recht erkannte. Anstatt des Sonntags feierte man früherhin vom Aschermittwoch an alle Tage mit Ausnahme der Sonntage als Buß- und Fastenzeit; insonderheit aber war der Aschermittwoch, der erste von den vierzig Tagen, durch Bußfeier ausgezeichnet, wie sich denn dieser Tag jedenfalls am besten zum allgemeinen Bußtag eignen würde, wenn man nicht lieber und beßer die vier Quatembertage des Jahres, nach alter, heiliger und wohlbedachter Sitte der Kirche, der Buße weihen wollte. Indes sei das nun wie es will, bei uns ist heute Bußtag. Da die ganze Landeskirche Bußtag hält, ist es beßer uns mit derselben zu gleichem Zwecke zu vereinen, als im Andenken beßerer Zeiten und Ordnungen das zu versäumen, was uns und allen ohne Ausnahme noth thut, nemlich Buße. – Für diesen unsern Bußtag sind uns keine eigenen Texte vorgeschrieben, und wir können daher um so leichter bei den altgewohnten Sonntagstexten bleiben. Am Bußtag gedenkt man der allgemeinen Sündhaftigkeit und der besondern Sünden, welche in der Landeskirche der man angehört, und in der Zeit in welcher man lebt, die herrschenden geworden sind. Mögen nun diese sein welche sie wollen, so wird man doch kaum aus den Evangelien einen paßenderen Text zum Zwecke des Bußtags wählen können, als den von der großen Versuchung Christi, welchen man am Sonntag Invocavit gewohnt ist zu lesen. Nicht blos sieht man da den HErrn JEsus am Ende einer vierzigtägigen Fastenzeit, wie wir am Anfang einer solchen stehen; sondern man sieht Ihn auch in der Versuchung, ja in dämonischen Versuchungen, die für die Lage des HErrn gar nicht unverständig vom Teufel ausgesucht waren. Der zweite Adam in Versuchung: Was für ein Thema, zumal wenn man am Bußtag an die Versuchung und den Fall des ersten Adams und an unsre eignen täglichen Versuchungen denkt. Der zweite Adam in Versuchung ohne Sünde, und in welchen Versuchungen ohne Sünde: Wahrlich auch das ist wie ein greller Lichtstrahl in unsre Sündennacht und sehr geeignet, Scham und Reue für unsern Sündendienst, unsre schnöde Sklaverei zu erwecken. Da gibt es zu predigen, anzuwenden, zu vergleichen und zu deuten genug. Aber auch die Epistel, meine lieben Brüder, schließt sich würdig ans Evangelium an. Zwar handelt sie im Grunde ganz und gar, wie wir das sehen werden, von den Aposteln und Lehrern der Kirche; aber wie das Evangelium Christum in der Versuchung, im Kampfe mit dem Satan und in der Mühseligkeit dieses Kampfes zeigt, so sehen wir in der Epistel neben Ihm Seine Diener einhergehen, gleichfalls in Versuchung, in Kampf, in Mühsal, aber doch auch, wie Christus selbst im Evangelium, in heiliger Bewährung, in Sieg, in Segen. Dabei wird uns ein so reicher Spiegel apostolischer Tugend und Treue vor die Seele gehalten, daß sich auch ohne Bußtag unsre Seele zur Buße, zum bußfertigen Vergleich unsres sündhaften Wandels mit dem der Apostel würde aufgefordert fühlen. Da laßt uns denn um so mehr am Bußtag in diesen Spiegel schauen, und den Geist bitten, von dem alle Weißagung und Schriftauslegung kommt, daß wir nicht schnell vorüber gehen und vergeßen wie wir gestaltet sind, sondern Fleiß anwenden, uns ernstlich über den Spiegel hin bücken, und nicht ablaßen, bis wir nach

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/176&oldid=- (Version vom 1.8.2018)