Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/182

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

zu dem aber was nachfolgt, im Verhältnis der Ursache zur Wirkung steht. So ist es auch. Hat der heilige Geist lauteren Willen, Licht der Seelen, Langmuth und Freundlichkeit geschenkt, so mehrt sich nun das Leben; der Geist des HErrn, der zuvor zündete und den Anfang machte, tritt jetzt mit Flammen hervor ins Bewußtsein der Seele, und wie ein sprühender, feuriger Quell, so daß sich die vorgenannten Erstlingstugenden wiederholen und zu einer neuen Stufe der Verklärung gefördert werden. Da wird also durch die neue Kraft und Wirkung des heiligen Geistes aus der Lauterkeit und heiligen Stille der Begier die ungefälschte Liebe, die lautere, brennende Begier, die nach dem Heile der Brüder hungert und dürstet; aus der Erkenntnis wird nun die Offenbarung, das Wort der Wahrheit, und was zuvor eine schwache Erkenntnis war, wird nun zur göttlichen Gewisheit. An die Stelle der Langmuth tritt nun die Kraft des HErrn, und aus der Freundlichkeit hervor hebt sich eine gewaffnete Gerechtigkeit, welche rechts und links den Feinden trotzt, und ihnen ein Zeugnis wird, daß hie ist Immanuel. So sind also zweimal vier Gaben genannt, die je nach Zahl und Reihe mit einander in inniger Verbindung stehen, und von deren erstem Vier der heilige Geist mit neuer zuvor nicht vorhanden gewesener Ergießung und Erfahrung den Weg zum zweiten bahnt. Man lese einmal in stiller eigner Betrachtung das erste Quadrat der Tugenden; man sehe dann wie im zweiten sehr verwandten, aus jeder vorhandenen Tugend sich eine große Gabe entwickelt, die selbst nicht ohne Tugend ist. Man denke sich, daß der Apostel sich selbst alle diese Tugenden und Gaben zueignet, zueignen darf, und gegenüber seinen Feinden zueignen muß; man laße sich nicht wieder aufs Neue von dem peinigenden Gedanken irren, als habe der Apostel durch Aufzählung dieser Tugenden sein Herz befleckt, gesündigt. Man laße ihm seine besondere Kunst sagen zu können und zu dürfen, was zu sagen wir armen Leute gar nicht in die Versuchung kommen, und es wird auch ohne Verbindung mit den bereits aufgezählten Tugenden der Geduld, jedermann den Gedanken faßen müßen, daß St. Paulus ein hehrer, heiliger Mann gewesen sein müße, von welchem man nur nicht begreifen kann, wie Christenmenschen jener Zeiten an ihm irre werden und sich von ihm abwenden konnten. Erkennen wir nun aber vollends die Geduld mit ihren Tugenden und die Tugenden des sechsten und siebenten Verses als Eigentum Eines Mannes und Apostels, so muß uns derselbe wie zu einer leuchtenden Sonne werden, vor welcher sich ein jeder von uns verbergen muß, wie die Nachteule, wenn der Morgen kommt. So außerordentlich ist die Aufzählung der Tugenden Pauli, daß man es gar nicht verantwortlich finden könnte, wenn er uns hätte dies sein Bildnis vorenthalten wollen und doch wird dies erst recht vollständig durch die letzten Verse unsrer Epistel.

.

 In diesen letzten Versen erscheint der Held der Geduld, der tugend- und gabenreiche Apostel in der zwiespältigen Beurtheilung der Menschenkinder. So oft sagt man von einem Menschen, den man recht hoch stellen will: „Es ist nur Eine Stimme über ihn, der Mann genießt eine allgemeine Anerkennung“. Die das sagen, pflegen zu übertreiben. Im Bewußtsein ihrer eignen, willigen Anerkennung des Mannes, von dem etwa die Rede ist, vergeßen sie die Feinde, die er hat und alle die übrigen, die in keiner Verbindung mit ihm stehen, ihn nur aus der Ferne sehen, ein leichtsinniges, gleichgiltiges, wegwerfendes oder sonst irgend ein Urtheil haben, das mit dem ihrigen nicht stimmt. Ich weiß überhaupt nur einen einzigen Menschen zu nennen, über welchen nur Eine Stimme gewesen ist; diese Stimme aber war keine Stimme der allgemeinen Anerkennung, sondern eher des Gegentheils. Der Mensch, den ich meine, heißt JEsus, die Uebereinstimmung des Himmels, der Hölle und der Welt tritt am Charfreitag hervor, und ist eine Uebereinstimmung darin, daß er sterben soll, eine Uebereinstimmung, die auf den verschiedensten, ja entgegengesetztesten Gründen beruhte, und welche doch auch nicht einmal eine völlig allgemeine war, weil es ja doch auch einige Menschen gab, die den Rath Gottes nicht verstanden und zu dem Urtheil keineswegs Ja und Amen sagten. Eine Uebereinstimmung des Lobes und der Anerkennung aber hat es nie gegeben, und wird es nie geben, so gewis die Einsicht der Menschen eine verschiedene ist und bleibt, und so gewis es bis ans Ende einen Gegensatz der Guten und Bösen geben wird. Fromme Menschen kommen aus Mangel gleicher Einsicht sehr oft zu keiner Uebereinstimmung des Urtheils, die Welt aber und die Kirche können niemals einig sein und werden, wie der Apostel noch in unserm Texte im 15. Verse sagt: „Was für eine Uebereinstimmung

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/182&oldid=- (Version vom 1.8.2018)