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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

als eine Gnadenzeit und als einen Tag des Heils erkennt, der steht mit dem Apostel in keinem Widerspruch, wenn derselbe die ganze neutestamentliche Zeit eine Gnadenzeit und einen Tag des Heiles nennt. Es ist eine allgemeine Regel, daß vom Theile gilt, was vom Ganzen gesagt ist.

 Dennoch aber haben wir nach Darlegung der altkirchlichen Deutung mit unsern Gedanken zu der allgemeineren Auffaßung des Apostels zurück zu kehren, wenn uns der zweite Theil des Textes in seiner begründenden Kraft und in seinem Zusammenhange recht klar werden soll. Vergeßen wir also nicht, daß unsre Zeit eine Gnadenzeit wird durch Wort und Sakrament, ein Tag der Erhörung, der Hilfe und des Heils durch die gütigen Kräfte des göttlichen Worts und Sacraments, die Kräfte der zukünftigen Welt, – daß wir die Gnade vergeblich empfangen, wenn wir Wort, Sacrament und Gotteskraft auf uns nicht wirken laßen, und daß wir deshalb um so größere Verantwortung haben, je vortrefflicher die Diener und Haushalter Gottes sind, durch welche uns die himmlischen Schätze und Gnaden mitgetheilt werden. Hier stehen wir nun wieder beim zweiten Theile unsres Textes und schauen mit einander die apostolische Größe St. Pauli an, welche nicht allein die Corinther, sondern auch wir verachten, wenn wir die von ihm uns dargebotenen himmlischen Schätze und Gnadengüter umsonst empfangen.

 Die ganze Stelle, zu deren Betrachtung wir uns jetzt anschicken, hat eine gewisse Aehnlichkeit mit dem epistolischen Texte des Sonntags Sexagesima. Auch dort, also nach der Reihe unsrer Lectionen vor 14 Tagen, hatte der Apostel Paulus Ursache gefunden seine Amtsführung und seinen Wandel den Corinthern vorzustellen. Manches Wort, das wir dort gelesen haben, erinnert stark an Worte der heutigen Epistel. Es kann uns das nur um so lieber sein. Was St. Paulus mehrere Male geschrieben hat, dürfen wir auch mehrfach lesen und betrachten; es wird uns auch mehrfach nöthig sein. Wir erinnern uns dabei an die eigenen Worte des Apostels, die wir einmal in seinen Schriften lesen: „Daß ich euch immer einerlei schreibe, verdrießt mich nicht und macht euch desto gewisser.“ – Die Darstellung des apostolischen Wandels Pauli hat in unsrem Texte zuerst ein allgemeines Thema, oder wenn man lieber will, einen allgemeinen Eingang und verläuft dann selbst in drei Abtheilungen. Die erste Abtheilung legt uns die Geduld Pauli vor, die zweite seine Amtstugenden und Gaben, die dritte sein Verhalten gegenüber den Gerüchten, die ihn so wenig als andre Lehrer verschonten.

 In dem allgemeinen Eingang sagt er, seine Ermahnung an die Gemeinde zu Corinth solle um so gewisser aufgenommen werden, weil sie von ihm käme, von ihm, der ihnen mit nichts irgend einen Anstoß gebe, immer darüber wache, daß auf sein Amt und seinen Dienst unter ihnen kein Flecken oder gerechter Tadel falle, dagegen aber sich ihnen durch seinen ganzen Wandel und sein Verhalten als Diener Gottes beweise. Bei der Lehre des heiligen Paulus nicht blos über das sittliche Verderben des menschlichen Herzens, sondern auch über die Schwierigkeit der Heiligung, wie er sie zum Beispiel im 7. Kapitel an die Römer vorlegt, erscheint eine Selbstbeurtheilung wie die in unserm Texte auf den ersten Augenblick schier wie ein Widerspruch. Während er im 7. Kapitel an die Römer über die Macht des Sündengesetzes in seinen Gliedern klagt, sich einen elenden Menschen nennt und voll Sehnsucht nach Erlösung von dem Todesleibe ist, spricht er hier und anderwärts in den stärksten Ausdrücken, die nicht im mindesten den Reden Hiobs von seiner Gerechtigkeit nachstehen, über seine unanstößige, unsträfliche, untadeliche, eines Dieners Gottes völlig würdige Amts- und Lebensführung. Das thut er, während er doch wißen kann, daß die lauernden Ohren seiner corinthischen Feinde begierig auf alles lauschen werden, was sie ihm zum Nachtheil wenden und drehen können. Er muß also nicht gefürchtet haben, durch so verschiedene Aeußerungen ihnen eine willkommne Gelegenheit zur Verdrehung und Verfälschung seiner Meinung und zur Lästerung zu geben. Sein Selbstgericht muß so gerecht gewesen sein, daß es der corinthischen Gemeinde und selbst seinen Feinden ins Gewißen fallen und sie zu Zeugen der Wahrheit auffordern konnte. Wenn aber das der Fall ist, so ist allerdings die apostolische Würde St. Pauli schon durch diesen allgemeinen Eingang so ins Licht gesetzt, daß sie seiner Vermahnung an die Corinther großen Nachdruck geben mußte. Aber nicht blos das, sondern es ist alsdann ein helles Zeugnis von der Macht der Gnade gegeben, von ihrem heiligenden Einfluß auf

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/179&oldid=- (Version vom 1.8.2018)