Entstehung der Arten (1876)/Vierzehntes Capitel

Dreizehntes Capitel Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein (1876)
von Charles Darwin
Fünfzehntes Capitel


[492]
Vierzehntes Capitel.


Gegenseitige Verwandtschaft organischer Wesen; Morphologie; Embryologie; Rudimentäre Organe.
Classification: Unterordnung der Gruppen.Natürliches System.Regeln und Schwierigkeiten der Classification erklärt aus der Theorie der Descendenz mit Modifikation.Classification der Varietäten.Abstammung stets bei der Classification benutzt.Analoge oder Anpassungs-Charactere.Verwandtschaften: allgemeine, verwickelte und strahlenförmige.Erlöschung trennt und begrenzt die Gruppen.Morphologie: zwischen Gliedern derselben Classe und zwischen Theilen desselben Individuum.Embryologie: deren Gesetze daraus erklärt, daß Abänderung nicht im frühen Lebensalter eintritt, aber in correspondirendem Alter vererbt wird.Rudimentäre Organe: ihre Entstehung erklärt.Zusammenfassung.
Classification.

Von der frühesten Periode in der Geschichte der Erde an gleichen alle organischen Wesen einander in immer weiter abnehmendem Grade, so daß man sie in Gruppen und Untergruppen classificiren kann. Diese Gruppirung ist offenbar nicht willkürlich, wie die der Sterne zu Sternbildern. Das Dasein von Gruppen würde eine einfache Bedeutung haben, wenn eine Gruppe ausschließlich für das Wohnen auf dem Lande und eine andere für das Leben im Wasser, eine für Fleisch-, eine andere für die Pflanzennahrung u. s. w. gebildet wäre; in der Natur aber verhält sich die Sache sehr abweichend, denn es ist bekannt, wie oft sogar Glieder einer nämlichen Untergruppe verschiedene Lebensweise besitzen. Im zweiten und vierten Capitel, über Abänderung und natürliche Zuchtwahl, habe ich zu zeigen versucht, daß es in jedem Lande die weit verbreiteten, die überall vorkommenden und gemeinen, d. h. die herrschenden, zu großen Gattungen gehörenden Arten in jeder Classe sind, die am meisten variiren. Die so entstandenen Varietäten oder beginnenden Arten gehen endlich in neue und verschiedene Arten über, welche nach dem Vererbungsproceß geneigt sind, andere neue und herrschende Arten zu erzeugen. Demzufolge [493] streben die Gruppen, welche jetzt groß sind und allgemein viele herrschende Arten in sich einschließen, danach, beständig an Umfang zuzunehmen. Ich habe weiter nachzuweisen gesucht, daß aus dem Streben der abändernden Nachkommen einer Art so viele und verschiedene Stellen als möglich im Haushalte der Natur einzunehmen, eine beständige Neigung zur Divergenz der Charactere entspringt. Diese letzte Folgerung wurde unterstützt durch die Betrachtung der großen Mannichfaltigkeit der Formen, die, auf irgend einem kleinen Gebiete, in Concurrenz mit einander gerathen, und durch die Wahrnehmung gewisser Thatsachen bei der Naturalisirung.

Ich habe ferner darzuthun versucht, daß bei den an Zahl und an Divergenz des Characters zunehmenden Formen ein fortwährendes Streben vorhanden ist, die früheren minder divergenten und minder verbesserten Formen zu unterdrücken und zu ersetzen. Ich ersuche den Leser, nochmals das Schema anzusehen, welches bestimmt war, die Wirkungsweise dieser verschiedenen Principien zu erläutern, und er wird finden, daß die einem gemeinsamen Urerzeuger entsprossenen abgeänderten Nachkommen unvermeidlich immer weiter in Gruppen und Untergruppen auseinanderfallen müssen. In dem Schema mag jeder Buchstabe der obersten Linie eine Gattung bezeichnen, welche mehrere Arten enthält, und alle Gattungen dieser obern Linie bilden miteinander eine Classe, denn alle sind von einem gemeinsamen alten Erzeuger entsprossen und haben mithin irgend etwas Gemeinsames ererbt. Aber die drei Gattungen auf der linken Seite haben diesem nämlichen Princip zufolge mehr mit einander gemein und bilden eine Unterfamilie, verschieden von derjenigen, welche die zwei rechts zunächstfolgenden einschließt, die auf der fünften Abstammungsstufe einem ihnen und jenen gemeinsamen Erzeuger entsprungen sind. Diese fünf Genera haben auch noch Manches, doch weniger als wenn sie in Unterfamilien vereinigt werden, miteinander gemein und bilden miteinander eine Familie, verschieden von der die nächsten drei Gattungen weiter rechts umfassenden, welche sich in einer noch früheren Periode von den vorigen abgezweigt haben. Und alle diese von A entsprungenen Gattungen bilden eine von der aus I entsprossenen verschiedene Ordnung. So haben wir hier viele Arten von gemeinsamer Abstammung in mehrere Genera vertheilt, und diese Genera bilden, indem sie zu immer größeren Gruppen zusammentreten, erst Unterfamilien, dann Familien, dann Ordnungen, welche zu einer Classe gehören. So erklärt [494] sich nach meiner Ansicht die Erscheinung der natürlichen Subordination aller organischen Wesen in Gruppen unter Gruppen, die uns freilich in Folge unserer Gewöhnung daran nicht mehr sehr aufzufallen pflegt. Die organischen Wesen lassen sich ohne Zweifel, wie alle anderen Gegenstände, in vielfacher Weise in Gruppen ordnen, entweder künstlich nach einzelnen Characteren, oder natürlicher nach einer Anzahl von Merkmalen. Wir wissen z. B., daß man Mineralien und selbst Elementarstoffe so anordnen kann. In diesem Falle gibt es natürlich keine Beziehung der Classification zu der genealogischen Aufeinanderfolge, und es läßt sich für jetzt kein Grund angeben, warum sie in Gruppen zerfallen. Bei organischen Wesen steht aber die Sache anders und die oben entwickelte Ansicht erklärt ihre natürliche Anordnung in Gruppen unter Gruppen, und eine andere Erklärung ist nie versucht worden.

Die Naturforscher bemühen sich, wie wir gesehen haben, die Arten, Gattungen und Familien jeder Classe in ein sogenanntes natürliches System zu ordnen. Aber was versteht man nun unter einem solchen System? Einige Schriftsteller betrachten es nur als ein Fachwerk, worin die einander ähnlichsten Lebenwesen zusammengeordnet und die unähnlichsten auseinander gehalten werden, – oder als ein künstliches Mittel, um allgemeine Sätze so kurz wie möglich auszudrücken, so daß, wenn man z. B. in einem Satz (Diagnose) die allen Säugethieren, in einem andern die allen Raubsäugethieren und in einem dritten die allen hundeartigen Raubsäugethieren gemeinsamen Merkmale zusammengefaßt hat, man endlich im Stande ist, schon durch Beifügung eines einzigen ferneren Satzes eine vollständige Beschreibung jeder beliebigen Hundeart zu liefern. Das Sinnreiche und Nützliche dieses Systems ist unbestreitbar; doch glauben viele Naturforscher, daß das natürliche System noch eine weitere Bedeutung habe, nämlich die, den Plan des Schöpfers zu enthüllen; so lange als aber nicht näher bezeichnet wird, ob eine Ordnung im Raume oder in der Zeit, oder in beiden, oder, was sonst mit dem „Plane des Schöpfers“ gemeint ist, scheint mir damit für unsere Kenntnis nichts gewonnen zu sein. Solche Ausdrücke, wie die berühmten Linné’schen, die wir oft in mancherlei Einkleidungen versteckt wieder finden, daß nämlich die Charactere nicht die Gattung machen, sondern die Gattung die Charactere gebe, scheinen mir zugleich andeuten zu sollen, daß unsere Classification noch etwas mehr als bloße Ähnlichkeit zu berücksichtigen habe. Und ich glaube in der That, daß dies der Fall ist, und [495] daß die Gemeinsamkeit der Abstammung (die einzige bekannte Ursache der Ähnlichkeit organischer Wesen) das durch mancherlei Modificationsstufen verborgene Band ist, welches durch unsere natürliche Classification theilweise enthüllt werden kann.

Betrachten wir nun die bei der Classification befolgten Regeln und die dabei vorkommenden Schwierigkeiten von der Ansicht aus, daß die Classification entweder einen unbekannten Schöpfungsact darstellt oder auch nur einfach ein Mittel bietet, allgemeine Sätze auszuprechen und die einander ähnlichsten Formen zusammenzustellen. Man könnte annehmen und es ist in älteren Zeiten angenommen worden, daß diejenigen Theile der Organisation, welche die Lebensweise und im Allgemeinen die Stellung eines jeden Wesens im Haushalte der Natur bestimmen, von sehr großer Bedeutung bei der Classification wären. Und doch kann nichts unrichtiger sein. Niemand legt mehr der äußern Ähnlichkeit der Maus mit der Spitzmaus, des Dugongs mit dem Wale, und des Wales mit dem Fisch einige Wichtigkeit bei. Diese Ähnlichkeit, wenn auch in innigstem Zusammenhange mit dem ganzen Leben des Thieres stehend, werden als bloße „analoge oder Anpassungs-Charactere“ bezeichnet; doch werden wir auf die Betrachtung dieser Ähnlichkeiten später zurückkommen. Man kann es sogar als eine allgemeine Regel ansehen, daß, je weniger ein Theil der Organisation für Specialzwecke bestimmt ist, desto wichtiger er für die Classification wird. So z. B. sagt R. Owen, indem er vom Dugong spricht: „Ich habe die Generationsorgane, insofern sie mit Lebens- und Ernährungsweise der Thiere in wenigst naher Beziehung stehen, immer als solche betrachtet, welche die klarsten Andeutungen über die wahren Verwandtschaften derselben zu liefern vermögen. Wir sind am wenigsten der Gefahr ausgesetzt, in Modificationen dieser Organe einen bloß adaptiven für einen wesentlichen Character zu nehmen.“ So ist es auch mit den Pflanzen. Wie merkwürdig ist es nicht, daß die Vegetationsorgane, von welchen ihre Ernährung und ihr Leben überhaupt abhängig ist, so wenig zu bedeuten haben, während die Reproductionswerkzeuge und deren Erzeugnis, der Same und Embryo von oberster Bedeutung sind. So haben wir früher bei Erörterung gewisser morphologischer Verschiedenheiten, welche von keiner physiologischen Bedeutung sind, gesehen, daß sie oft für die Classification von höchstem Werthe sind. Dies hängt von der Beständigkeit ab, mit welcher sie in vielen verwandten Gruppen auftreten; und diese Beständigkeit [496] hängt wiederum hauptsächlich davon ab, daß etwaige geringe Structurabweichungen in solchen Theilen von der natürlichen Zuchtwahl, welche nur auf nützliche Charactere wirkt, nicht erhalten und angehäuft worden sind.

Daß die bloße physiologische Wichtigkeit eines Organes seine Bedeutung für die Classification nicht bestimme, ergibt sich fast schon aus der Thatsache allein, daß der classificatorische Werth eines Organes in verwandten Gruppen, wo man ihm doch eine gleiche physiologische Bedeutung zuschreiben darf, oft weit verschieden ist. Kein Naturforscher kann sich mit einer Gruppe näher beschäftigt haben, ohne daß ihm dies aufgefallen wäre, was auch in den Schriften fast aller Autoren vollkommen anerkannt wird. Es wird genügen, wenn ich Robert Brown als den höchsten Gewährsmann citire, welcher bei Erwähnung gewisser Organe bei den Proteaceen sagt: ihre generische Wichtigkeit „ist so wie die aller ihrer Theile nicht allein in dieser, sondern nach meiner Erfahrung in allen natürlichen Familien sehr ungleich und scheint mir in einigen Fällen ganz verloren zu gehen.“ Eben so sagt er in einem andern Werke: die Genera der Connaraceae „unterscheiden sich durch die Ein- oder Mehrzahl ihrer Ovarien, durch Anwesenheit oder Mangel des Eiweises und durch die schuppige oder klappenartige Ästivation. Ein jedes einzelne dieser Merkmale ist oft von mehr als generischer Wichtigkeit; hier aber erscheinen alle zusammen genommen unzureichend, um nur die Gattung Cnestis von Connarus zu unterscheiden.“ Ich will noch ein Beispiel von den Insecten entlehnen, wo in der einen großen Abtheilung der Hymenopteren nach Westwood’s Beobachtung die Fühler von sehr beständiger Bildung sind, während sie in einer andern Abtheilung sehr abändern und die Abweichungen von ganz untergeordnetem Werthe für die Classification sind; und doch wird Niemand behaupten wollen, daß die Fühler in diesen zwei Gruppen derselben Ordnung von ungleichem physiologischen Werthe seien. So ließen sich noch Beispiele beliebiger Zahl von der veränderlichen Wichtigkeit desselben wesentlichen Organes für die Classification innerhalb derselben Gruppe von Organismen anführen.

Es wird ferner Niemand behaupten, rudimentäre oder verkümmerte Organe wären von hoher physiologischer Wichtigkeit oder von vitaler Bedeutung, und doch gibt es ohne Zweifel Organe, welche in diesem Zustande für die Classification einen großen Werth haben. So [497] bestreitet Niemand, daß die Zahnrudimente im Oberkiefer junger Wiederkäuer so wie gewisse Knochenrudimente in den Füßen sehr nützlich sind, um die nahe Verwandtschaft der Wiederkäuer mit den Dickhäutern zu beweisen. Und so bestand auch Robert Brown streng auf der hohen Bedeutung, welche die Stellung der verkümmerten Blumen der Gräser für ihre Classification haben.

Dagegen läßt sich eine Menge von Fällen nachweisen, wo Charactere an Organen von sehr unbedeutender physiologischer Wichtigkeit allgemein für sehr nützlich zur Bestimmung ganzer Gruppen gelten. So ist z. B. der Umstand, ob eine offene Communication zwischen der Nasenhöhle und der Mundhöhle vorhanden ist, nach R. Owen der einzige unbedingte Unterschied zwischen Reptilien und Fischen, und eben so wichtig ist die Einbiegung des Unterkieferwinkels bei den Beutelthieren, die verschiedene Zusammenfaltungsweise der Flügel bei den Insecten, die bloße Farbe bei gewissen Algen, die Behaarung gewisser Blüthentheile bei den Gräsern, die Art der Hautbedeckung, wie Haar- oder Federkleid bei den Wirbelthierclassen. Hätte der Ornitorhynchus ein Feder- statt ein Haargewand, so würde dieser äußere unwesentlich scheinende Character vielleicht von manchen Naturforschern als ein wichtiges Hilfsmittel zur Bestimmung des Verwandtschaftsgrades dieses sonderbaren Geschöpfes den Vögeln gegenüber angesehen worden sein.

Die Wichtigkeit an sich gleichgültiger Charactere für die Classification hängt hauptsächlich von ihrer Correlation zu manchen anderen mehr oder weniger wichtigen Merkmalen ab. In der That ist der Werth mit einander verbundener Charactere in der Naturgeschichte sehr augenscheinlich. Daher kann sich, wie oft bemerkt worden ist, eine Art in mehreren einzelnen Characteren von hoher physiologischer Wichtigkeit und fast allgemeinem Übergewicht weit von ihren Verwandten entfernen und uns doch nicht in Zweifel darüber lassen, wohin sie gehört. Daher hat sich auch oft genug eine bloß auf ein einziges Merkmal, wenn gleich von höchster Bedeutung, gegründete Classification als mangelhaft erwiesen; denn kein Theil der Organisation ist unabänderlich beständig. Die Wichtigkeit einer Verkettung von Characteren, wenn auch keiner davon wesentlich ist, erklärt nach meiner Meinung allein den Ausspruch Linné’s, daß die Charactere nicht das Genus machen, sondern dieses die Charactere gibt; denn dieser Ausspruch scheint auf eine Würdigung vieler untergeordneter [498] ähnlicher Puncte gegründet zu sein, welche für die Definition zu gering sind. Gewisse zu den Malpighiaceen gehörige Pflanzen bringen vollkommene und verkümmerte Blüthen zugleich hervor; die letzten verlieren nach A. de Jussieu’s Bemerkung „die Mehrzahl der Art-, Gattungs-, Familien- und selbst Classencharactere und spotten mithin unserer Classification.“ Als aber Aspicarpa mehrere Jahre lang in Frankreich nur verkümmerte Blüthen lieferte, welche in einer Anzahl der wichtigsten Puncte der Organisation so wunderbar von dem eigentlichen Typus der Ordnung abweichen, da erkannte doch Richard scharfsinnig genug, wie Jussieu bemerkt, daß diese Gattung unter den Malpighiaceen zurückbehalten werden müsse. Dieser Fall scheint mir den Geist wohl zu bezeichnen, in welchem unsere Classificationen gegründet sind.

In der Praxis bekümmern sich aber die Naturforscher nicht viel um den physiologischen Werth des Characters, deren sie sich zur Definition einer Gruppe oder bei Einordnung einer Species bedienen. Wenn sie einen nahezu einförmigen und einer großen Anzahl von Formen gemeinsamen Character finden, der bei andern nicht vorkommt, so benutzen sie ihn als sehr werthvoll; kömmt er bei einer geringern Anzahl vor, so ist er von geringerem Werthe. Zu diesem Grundsatze haben sich einige Naturforscher offen als zu dem einzig richtigen bekannt, und keiner entschiedener als der vortreffliche Botaniker August St.-Hilaire. Wenn gewisse unbedeutende Charactere immer in Combination mit andern erscheinen, mag auch ein bedingendes Band zwischen ihnen nicht zu entdecken sein, so wird ihnen besonderer Werth beigelegt. Da in den meisten Thiergruppen wesentliche Organe, wie die zur Bewegung des Blutes, zur Athmung, zur Fortpflanzung bestimmten, nahezu von gleicher Beschaffenheit sind, so werden sie bei deren Classification für sehr werthvoll angesehen; wogegen wieder in andern Thiergruppen alle diese wichtigsten Lebenswerkzeuge nur Charactere von ganz untergeordnetem Werthe darbieten. So hat Fritz Müller neuerdings bemerkt, daß in derselben Gruppe der Crustaceen Cypridina mit einem Herzen versehen ist, während es in zwei nahe verwandten Gattungen, Cypris und Cytherea, fehlt: eine Species von Cypridina hat entwickelte Kiemen, während andere Arten keine besitzen.

Wir können beurtheilen, warum vom Embryo entnommene Charactere sich als von gleicher Wichtigkeit erweisen, wie die der erwachsenen Thiere; denn eine natürliche Classification umfaßt natürlich die [499] Arten in allen ihren Lebensaltern. Doch liegt es nach der gewöhnlichen Anschauungsweise keineswegs auf der Hand, warum die Structur des Embryos für diesen Zweck höher in Anschlag zu bringen wäre, als die des erwachsenen Thieres, welches doch nur allein vollen Antheil am Haushalte der Natur nimmt. Nun haben bedeutende Naturforscher, wie H. Milne-Edwards und L. Agassiz, scharf hervorgehoben, daß embryonische Charactere von allen die wichtigsten für die Classification sind, und diese Behauptung ist fast allgemein als richtig aufgenommen worden. Trotzdem ist ihre Bedeutung zuweilen übertrieben worden, da die adaptiven Charactere der Larven nicht ausgeschlossen wurden, und Fritz Müller hat, um dies zu beweisen, die große Classe der Crustaceen allein nach ihren embryologischen Verschiedenheiten angeordnet, wobei sich zeigte, daß eine solche Anordnung keine natürliche ist. Darüber kann aber kein Zweifel bestehen, daß von dem Embryo entnommene Merkmale allgemein nicht bloß bei Thieren, sondern auch bei Pflanzen von dem höchsten Werthe sind. So sind bei den Blüthenpflanzen deren zwei Hauptgruppen nur auf embryonale Verschiedenheiten gegründet, nämlich auf die Zahl und Stellung der Blätter des Embryos oder der Cotyledonen und auf die Entwickelungsweise der Plumula und Radicula. Wir werden sofort sehen, warum diese Charactere bei der Classification so werthvoll sind, weil nämlich das natürliche System in seiner Anordnung genealogisch ist.

Unsere Classificationen stehen oft offenbar unter dem Einflusse der Idee verwandtschaftlicher Verkettungen. Es ist nichts leichter, als eine Anzahl allen Vögeln gemeinsamer Charactere zu bezeichnen, aber hinsichtlich der Kruster ist eine solche Definition noch nicht möglich gewesen. Es gibt Kruster an den entgegengesetzten Enden der Reihe, welche kaum einen Character mit einander gemein haben; aber da die an den zwei Enden stehenden Arten offenbar mit andern und diese wieder mit andern Krustern u. s. w. verwandt sind, so ergibt sich ganz unzweideutig, daß sie alle zu dieser und zu keiner andern Classe der Gliederthiere gehören.

Auch die geographische Verbreitung ist oft, wenn gleich vielleicht nicht in völlig logischer Weise, zur Classification mit benützt worden, zumal in sehr großen Gruppen einander nahe verwandter Formen. Temminck besteht auf der Nützlichkeit und selbst Nothwendigkeit dieses Verfahrens bei gewissen Vogelgruppen; wie sie denn auch von einigen Entomologen und Botanikern in Anwendung gekommen ist.

[500] Was endlich den vergleichsweisen Werth der verschiedenen Artengruppen, wie Ordnungen und Unterordnungen, Familien und Unterfamilien, Gattungen u. s. w. betrifft, so scheinen sie wenigstens bis jetzt ganz willkürlich zu sein. Einige der besten Botaniker, wie Bentham u. A., haben ausdrücklich deren willkürlichen Werth betont. Man könnte bei den Pflanzen wie bei den Insecten Beispiele anführen von Artengruppen, die von geübten Naturforschern erst nur als Gattungen aufgestellt und dann allmählich zum Rang von Unterfamilien und Familien erhoben worden sind, und zwar nicht deshalb, weil durch spätere Forschungen neue wesentliche, zuerst übersehene Unterschiede in ihrer Organisation ausgemittelt worden wären, sondern nur in Folge späterer Entdeckung vieler verwandter Arten mit nur schwach abgestuften Unterschieden.

Alle voranstehenden Regeln, Behelfe und Schwierigkeiten der Classification klären sich auf, wenn ich mich nicht sehr täusche, durch die Annahme, daß das natürliche System auf die Descendenz mit fortwährender Abänderung sich gründet, daß diejenigen Charactere, welche nach der Ansicht der Naturforscher eine echte Verwandtschaft zwischen zwei oder mehr Arten darthun, von einem gemeinsamen Ahnen ererbt sind, insofern eben alle echte Classification eine genealogische ist: – daß gemeinsame Abstammung das unsichtbare Band ist, wonach alle Naturforscher unbewußter Weise gesucht haben, nicht aber ein unbekannter Schöpfungsplan, oder der Ausdruck für allgemeine Beziehungen, oder eine angemessene Methode die Naturgegenstände nach den Graden ihrer Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit zu sortiren.

Doch ich muß meine Ansicht ausführlicher auseinandersetzen. Ich glaube, daß die Anordnung der Gruppen in jeder Classe, ihre gegenseitige Nebenordnung und Unterordnung streng genealogisch sein muß, wenn sie natürlich sein soll; daß aber das Maß der Verschiedenheit zwischen den verschiedenen Gruppen oder Verzweigungen, obschon sie alle in gleicher Blutsverwandtschaft mit ihrem gemeinsamen Erzeuger stehen, sehr ungleich sein kann, indem dieselbe von den verschiedenen Graden erlittener Modifikation abhängig ist; und dies findet seinen Ausdruck darin, daß die Formen in verschiedene Gattungen, Familien, Sectionen und Ordnungen gruppirt werden. Der Leser wird meine Meinung am besten verstehen, wenn er sich nochmals nach dem Schema im vierten Capitel umsehen will. Nehmen wir an, die Buchstaben A bis L stellen verwandte Genera vor, welche [501] in der silurischen Zeit gelebt und selbst von einer noch früheren Form abstammen. Arten von dreien dieser Genera (A, F und I) haben sich in abgeänderten Nachkommen bis auf den heutigen Tag fortgepflanzt, welche durch die fünfzehn Genera a14 bis z14 der obersten Horizontallinie ausgedrückt sind. Nun sind aber alle diese modificirten Nachkommen einer einzelnen Art als in gleichem Grade blutsverwandt dargestellt; man könnte sie bildlich als Vettern im gleichen millionsten Grade bezeichnen; und doch sind sie weit und in ungleichem Grade von einander verschieden. Die von A herstammenden Formen, welche nun in 2–3 Familien geschieden sind, bilden eine andere Ordnung als die von I entsprossenen, die auch in zwei Familien gespalten sind. Auch können die von A abgeleiteten jetzt lebenden Formen eben so wenig in eine Gattung mit ihrem Ahnen A, als die von I herkommenden in eine mit ihrem Erzeuger zusammengestellt werden. Die noch jetzt lebende Gattung F14 dagegen mag man als nur wenig modificirt betrachten und demnach mit deren Stammgattung F vereinigen, wie es ja in der That noch jetzt einige organische Formen gibt, welche zu silurischen Gattungen gehören. So kommt es, daß das Maß oder der Werth der Verschiedenheiten zwischen denjenigen organischen Wesen, die alle in gleichem Grade miteinander blutsverwandt sind, doch so außerordentlich ungleich geworden ist. Demungeachtet aber bleibt ihre genealogische Anordnung vollkommen richtig nicht allein in der jetzigen, sondern auch in allen successiven Perioden der Descendenz. Alle modificirten Nachkommen von A haben etwas Gemeinsames von ihrem gemeinsamen Ahnen geerbt, wie die des I von dem ihrigen, und so wird es sich auch mit jedem untergeordneten Zweige der Nachkommenschaft in jeder der aufeinander folgenden Perioden verhalten. Sollten wir indessen annehmen, irgend welche Nachkommen von A oder I seien so sehr modificirt worden, daß sie sämmtliche Spuren ihrer Abkunft eingebüßt haben, so werden sie in einer natürlichen Classification ihre Stellen gleichfalls vollständig verloren haben, wie dies bei einigen noch lebenden Formen wirklich der Fall zu sein scheint. Von allen Nachkommen der Gattung F ist der ganzen Descendenz entlang angenommen worden, daß sie nur wenig modificirt worden sind und daher gegenwärtig nur ein einzelnes Genus bilden. Aber dieses Genus wird, obschon sehr vereinzelt, doch seine eigene Zwischenstelle einnehmen. Die Darstellung der Gruppen, wie sie hier im Schema in einer ebenen Fläche gegeben [502] wurde, ist viel zu einfach. Die Zweige sollten als nach allen Richtungen divergirend dargestellt sein. Hätte ich die Namen der Gruppen einfach in eine lineale Reihe schreiben wollen, so würde die Darstellung noch viel weniger natürlich gewesen sein; und es ist anerkanntermaßen unmöglich, in einer Reihe auf einer Fläche die Verwandtschaften zwischen den verschiedenen Wesen einer und derselben Gruppe darzustellen. So ist nach meiner Ansicht das Natursystem genealogisch in seiner Anordnung, wie ein Stammbaum, aber das Maß der Modificationen, welche die verschiedenen Gruppen durchlaufen haben, muß durch Eintheilung derselben in verschiedene sogenannte Gattungen, Unterfamilien, Familien, Sectionen, Ordnungen und Classen ausgedrückt werden.

Es wird die Mühe lohnen, diese Ansicht von der Classification durch einen Vergleich mit den Sprachen zu erläutern. Wenn wir einen vollständigen Stammbaum des Menschen besäßen, so würde eine genealogische Anordnung der Menschenrassen die beste Classification aller jetzt auf der ganzen Erde gesprochenen Sprachen abgeben; und sollte man alle erloschenen Sprachen und alle mittleren und langsam abändernden Dialecte mit aufnehmen, so würde diese Anordnung, glaube ich, die einzig mögliche sein. Da könnte nun der Fall eintreten, daß irgend eine sehr alte Sprache nur wenig abgeändert und zur Bildung nur weniger neuen Sprachen geführt hätte, während andere (in Folge der Ausbreitung und späteren Isolirung und der Civilisationsstufen einiger von gemeinsamem Stamm entsprossener Rassen) sich sehr verändert und die Entstehung vieler neuen Sprachen und Dialecte veranlaßt hätten. Die Ungleichheit der Abstufungen in der Verschiedenheit der Sprachen eines Sprachstammes müßte durch Unterordnung von Gruppen unter andere ausgedrückt werden; aber die eigentliche oder selbst allein mögliche Anordnung würde nur genealogisch sein; und dies wäre streng naturgemäß, indem auf diese Weise alle lebenden wie erloschenen Sprachen je nach ihren Verwandtschaften mit einander verkettet und der Ursprung und der Entwickelungsgang einer jeden einzelnen nachgewiesen werden würde.

Wir wollen nun zur Bestätigung dieser Ansicht einen Blick auf die Classification der Varietäten werfen, von welchen man annimmt oder weiß, daß sie von einer Art abstammen. Diese werden unter die Arten eingereiht und die Untervarietäten wieder unter die Varietäten; und in manchen Fällen werden noch manche andere Unterscheidungsstufen [503] angenommen, wie bei den domesticirten Tauben. Es werden hier fast die nämlichen Regeln wie bei der Classification der Arten befolgt. Manche Schriftsteller sind auf der Nothwendigkeit bestanden, die Varietäten nach einem natürlichen statt künstlichen Systeme zu classificiren; wir werden z. B. gewarnt, nicht zwei Ananasvarietäten zusammenzuordnen, bloß weil ihre Frucht, obgleich der wesentlichste Theil, zufällig nahezu übereinstimmt. Niemand stellt die schwedischen mit den gemeinen Rüben zusammen, obwohl deren verdickter eßbarer Stiel so ähnlich ist. Der beständigste Theil, welcher es immer sein mag, wird zur Classification der Varietäten benützt; so sagt der große Landwirth Marshall, die Hörner des Rindviehs seien für diesen Zweck sehr nützlich, weil sie weniger als die Form und Farbe des Körpers veränderlich sind u. s. f., während sie bei den Schafen ihrer Veränderlichkeit wegen viel weniger brauchbar sind. Ich stelle mir vor, daß, wenn man einen wirklichen Stammbaum hätte, eine genealogische Classification der Varietäten allgemein vorgezogen werden würde, und einige Autoren haben in der That eine solche versucht. Denn, mag ihre Abänderung groß oder klein sein, so werden wir uns doch überzeugt halten können, daß das Vererbungsprincip diejenigen Formen zusammenhalte, welche in den meisten Beziehungen mit einander verwandt sind. So werden alle Purzeltauben, obschon einige Untervarietäten in dem wichtigen Merkmal, der Länge des Schnabels, weit von einander abweichen, doch durch die gemeinsame Sitte zu purzeln unter sich zusammengehalten, aber die kurzschnäbelige Zucht hat diese Gewohnheit beinahe oder vollständig abgelegt. Demungeachtet hält man diese Purzler, ohne über die Sache nachzudenken oder zu urtheilen, in einer Gruppe beisammen, weil sie einander durch Abstammung verwandt und in manchen andern Beziehungen ähnlich sind.

Was dann die Arten in ihrem Naturzustande betrifft, so hat jeder Naturforscher die Abstammung bei der Classification factisch mit in Betracht gezogen, indem er in seine unterste Gruppe, die Species nämlich, beide Geschlechter aufnahm, und wie ungeheuer diese zuweilen sogar in den wesentlichsten Characteren von einander abweichen, ist jedem Naturforscher bekannt; so haben erwachsene Männchen und Hermaphroditen gewisser Cirripeden kaum ein Merkmal mit einander gemein, und doch denkt Niemand daran sie zu trennen. Sobald man wahrnahm, daß drei ehedem als eben so viele Gattungen aufgeführte Orchideenformen, Monachanthus, Myanthus und Catasetum, zuweilen [504] auf der nämlichen Pflanze entstehen, wurden sie sofort als Varietäten betrachtet; es ist mir nun aber möglich geworden zu zeigen, daß sie die männliche, weibliche und Zwitterform der nämlichen Art bilden. Der Naturforscher schließt in eine Species die verschiedenen Larvenzustände des nämlichen Individuums ein, wie weit dieselben auch unter sich und von dem erwachsenen Thiere verschieden sein mögen, wie er auch den von Steenstrup so genannten Generationswechsel mit einbegreift, den man nur in einem technischen Sinne noch als an einem Individuum verlaufend betrachten kann. Er schließt Misgeburten und Varietäten mit ein, nicht sowohl weil sie der elterlichen Form nahezu gleichen, sondern weil sie von derselben abstammen.

Da die Abstammung bei Classification der Individuen einer Art trotz der oft außerordentlichen Verschiedenheit zwischen Männchen, Weibchen und Larven, allgemein benutzt worden ist, und da dieselbe bei Classification von Varietäten, welche ein gewisses und mitunter ansehnliches Maß von Abänderung erfahren haben, in Betracht gezogen wird: sollte es nicht der Fall gewesen sein, daß man das nämliche Element ganz unbewußt bei Zusammenstellung der Arten in Gattungen und der Gattungen in höhere Gruppen und aller dieser im sogenannten natürlichen System angewendet hat? Ich glaube, daß es allerdings so geschehen ist; und nur so vermag ich die verschiedenen Regeln und Vorschriften zu verstehen, welche von unsern besten Systematikern befolgt worden sind. Wir haben keine geschriebenen Stammbäume, sondern sind genöthigt, die gemeinschaftliche Abstammung nur vermittelst der Ähnlichkeiten jedweder Art zu ermitteln. Daher wählen wir diejenigen Charactere aus, welche, so viel wir beurtheilen können, am wenigsten in Beziehung zu den äußeren Lebensbedingungen, welchen jede Art neuerdings ausgesetzt gewesen ist, modificirt worden sind. Rudimentäre Gebilde sind in dieser Hinsicht eben so gut und zuweilen noch besser, als andere Theile der Organisation. Mag ein Character noch so unwesentlich erscheinen, sei es ein eingebogener Unterkieferwinkel, oder die Faltungsweise eines Insectenflügels, sei es das Haar- oder Federgewand des Körpers: wenn sich derselbe durch viele und verschiedene Species erhält, durch solche zumal, welche sehr ungleiche Lebensweisen haben, so erhält er einen hohen Werth; denn wir können seine Anwesenheit in so vielerlei Formen mit so mannichfaltigen Lebensweisen nur durch seine Ererbung [505] von einem gemeinsamen Stamm erklären. Wir können uns dabei hinsichtlich einzelner Punkte der Organisation irren; wenn aber mehrere noch so unwesentliche Charactere durch eine ganze große Gruppe von Wesen mit verschiedener Lebensweise gemeinschaftlich hindurchziehen, so werden wir nach der Descendenztheorie fast überzeugt sein können, daß diese Gemeinschaft von Characteren von einem gemeinsamen Vorfahren ererbt ist. Und wir wissen, daß solche in Correlation zu einander stehende oder aggregirte Charactere bei der Classification von großem Werthe sind.

Es wird begreiflich, warum eine Art oder eine ganze Gruppe von Arten in einigen ihrer wesentlichsten Charactere von ihren Verwandten abweichen und doch ganz wohl mit ihnen zusammen classificirt werden kann. Man kann dies getrost thun und hat es oft gethan, so lange als noch eine genügende Anzahl von wenn auch unbedeutenden Characteren das verhüllte Band gemeinsamer Abstammung verräth. Es mögen zwei Formen nicht einen einzigen Character gemeinsam besitzen, wenn aber diese extremen Formen noch durch eine Reihe vermittelnder Gruppen mit einander verkettet sind, so dürfen wir doch sofort auf eine gemeinsame Abstammung schließen und sie alle zusammen in eine Classe stellen. Da wir Charactere von hoher physiologischer Wichtigkeit, solche die zur Erhaltung des Lebens unter den verschiedensten Existenzbedingungen dienen, gewöhnlich am beständigsten finden, so legen wir ihnen besondern Werth bei; wenn aber diese selben Organe in einer andern Gruppe oder Gruppenabtheilung sehr abweichen, so schätzen wir sie hier auch sofort bei der Classification geringer. Wir werden sehr bald sehen, warum embryologische Merkmale eine so hohe classificatorische Wichtigkeit besitzen. Die geographische Verbreitung mag bei der Classification großer Gattungen zuweilen mit Nutzen angewendet werden, weil alle Arten einer und derselben Gattung, welche eine eigenthümliche und abgesonderte Gegend bewohnen, höchst wahrscheinlich von gleichen Eltern abstammen.


Analoge Ähnlichkeiten.

Nach den oben entwickelten Ansichten wird es begreiflich, wie wesentlich es ist, zwischen wirklicher Verwandtschaft und analoger oder Anpassungsähnlichkeit zu unterscheiden. Lamarck hat zuerst die Aufmerksamkeit auf diesen Unterschied gelenkt, und Macleay u. A. [506] sind ihm darin glücklich gefolgt. Die Ähnlichkeit, welche zwischen dem Dugong, einem den Pachydermen verwandten Thiere, und den Walen in der Form des Körpers und der Bildung der vordern ruderförmigen Gliedmaßen, und jene, welche zwischen diesen beiden Säugethieren und den Fischen besteht, ist Analogie. So ist die Ähnlichkeit zwischen einer Maus und einer Spitzmaus (Sorex), welche zu verschiedenen Ordnungen gehören, eine analoge, ebenso auch die noch nähere zwischen der Maus und einem kleinen Beutelthiere Australiens (Antechinus), welche Mr. Mivart hervorhebt. Wie mir scheint, lassen sich die letzteren Ähnlichkeiten durch Adaptation für ähnlich lebendige Bewegungen durch Dickichte und Pflanzenwuchs in Verbindung mit dem Verbergen vor Feinden erklären.

Bei den Insecten finden sich unzählige Beispiele dieser Art, daher Linné, durch äußeren Anschein verleitet, wirklich ein Homopter unter die Motten gestellt hat. Wir sehen etwas Ähnliches auch bei unseren cultivirten Varietäten in der auffallend ähnlichen Körperform bei den veredelten Rassen des chinesischen und gemeinen Schweines und in den verdickten Stämmen der gemeinen und der schwedischen Rübe. Die Ähnlichkeit zwischen dem Windhund und dem englischen Wettrenner ist schwerlich eine mehr eingebildete, als andere von einigen Autoren zwischen einander sehr entfernt stehenden Thieren aufgesuchte Analogien.

Nach der Ansicht, daß Charactere nur insofern von wesentlicher Bedeutung für die Classification sind, als sie die gemeinsame Abstammung ausdrücken, lernen wir deutlich einsehen, warum analoge oder Anpassungscharactere, wenn auch von höchstem Werthe für das Gedeihen der Wesen, doch für den Systematiker fast werthlos sind. Denn zwei Thiere von ganz verschiedener Abstammung können leicht ähnlichen Lebensbedingungen angepaßt und sich daher äußerlich sehr ähnlich geworden sein: aber solche Ähnlichkeiten verrathen keine Blutsverwandschaft, sondern sind vielmehr geeignet, die wahre Blutsverwandtschaft der Formen zu verbergen. Wir begreifen hierdurch ferner das anscheinende Paradoxon, daß die nämlichen Charactere analoge sind, wenn eine Classe oder Ordnung mit der andern verglichen wird, aber für echte Verwandtschaft zeugen, woferne es sich um die Vergleichung von Gliedern einer und der nämlichen Gruppe unter einander handelt. So stellen Körperform und Ruderfüße der Wale nur eine Analogie zu denen der Fische dar, indem solche in beiden Classen nur [507] eine Anpassung des Thieres zum Schwimmen im Wasser bezwecken; aber beiderlei Charactere beweisen auch die nahe Verwandtschaft zwischen den Gliedern der Walfamilie selbst; denn diese Theile sind durch die ganze Ordnung hindurch so sehr ähnlich, daß wir nicht an der Ererbung derselben von einem gemeinsamen Vorfahren zweifeln können. Und ebenso ist es auch mit den Fischen.

Es ließen sich zahlreiche Fälle von auffallender Ähnlichkeit einzelner Theile oder Organe bei sonst völlig verschiedenen Wesen anführen, welche zu derselben Function angepaßt worden sind. Ein gutes Beispiel bietet die große Ähnlichkeit der Kiefer beim Hunde und dem tasmanischen Wolfe, dem Thylacinus, dar, Thiere, welche im natürlichen System weit von einander getrennt stehen. Diese Ähnlichkeit ist aber auf die äußere Erscheinung beschränkt, wie das Vorragen der Eckzähne und die schneidende Form der Backzähne. Denn in Wirklichkeit weichen die Zähne sehr von einander ab; so hat der Hund auf jeder Seite des Oberkiefers vier falsche und nur zwei wahre Backzähne, während der Thylacinus drei falsche und vier wahre Backzähne hat. Auch weichen die Backzähne in den beiden Thieren sehr in der relativen Größe und ihrer Structur ab. Dem bleibenden Gebiß geht ein sehr verschiedenes Milchgebiß voraus. Es kann natürlich Jedermann leugnen, daß die Zähne in beiden Fällen zum Zerreißen von Fleisch durch die natürliche Zuchtwahl nach einander auftretender Abänderungen angepaßt worden sind; wird dies aber in einem Falle zugegeben, so ist es für mich unverständlich, daß man es im andern leugnen sollte. Ich sehe mit Freuden, daß eine so bedeutende Autorität wie Prof. Flower zu demselben Schlusse gelangt ist.

Die in einem früheren Capitel mitgetheilten außerordentlichen Fälle, daß sehr verschiedene Fische electrische Organe besitzen, – daß sehr verschiedene Insecten Leuchtorgane besitzen, – und daß Orchideen und Asclepiadeen Pollenmassen mit klebrigen Scheiben haben, gehören in die nämliche Kategorie analoger Ähnlichkeiten. Diese Fälle sind aber so wunderbar, daß sie als Schwierigkeiten oder Einwendungen gegen meine Theorie vorgebracht worden sind. In allen solchen Fällen lassen sich gewisse fundamentale Verschiedenheiten in dem Wachsthum oder der Entwickelung der Theile und allgemein auch in ihrer reifen Structur nachweisen. Der zu erreichende Zweck ist derselbe, aber die Mittel sind, wenn sie auch oberflächlich dieselben zu sein scheinen, wesentlich verschieden. Das früher unter dem Ausdruck „der analogen [508] Abänderung“ erwähnte Princip ist bei diesen Fällen wahrscheinlich häufig mit in’s Spiel gekommen, d. h. die Glieder einer und derselben Classe haben, wenn sie auch nur entfernt mit einander verwandt sind, so vieles in ihrer Constitution Gemeinsame ererbt, daß sie geneigt sind, unter ähnlichen anregenden Ursachen auch in einer ähnlichen Art und Weise zu variiren; und dies wird offenbar das Erlangen von Theilen oder Organen, welche einander auffallend gleichen, unabhängig von ihrer directen Vererbung von einem gemeinsamen Urerzeuger, durch natürliche Zuchtwahl unterstützen.

Da zu verschiedenen Classen gehörige Arten häufig durch successive unbedeutende Modificationen einem Leben unter nahezu ähnlichen Umständen angepaßt worden sind, – jede um die drei Elemente, Land, Luft und Wasser zu bewohnen, – so können wir vielleicht verstehen, woher es kommt, daß zuweilen zwischen den Untergruppen verschiedener Classen ein Zahlenparallelismus beobachtet worden ist. Ein Naturforscher, dem ein Parallelismus dieser Art auffiele, könnte dadurch, daß er den Werth der Gruppen in verschiedenen Classen (und alle unsere Erfahrung zeigt uns, daß deren Schätzung bis jetzt noch willkürlich ist) willkürlich erhöhte oder herabsetzte, den Parallelismus leicht sehr weit ausdehnen. In dieser Weise sind wahrscheinlich die Septenär-, Quinär-, Quaternär- und Ternär-Systeme entstanden.

Es gibt noch eine andere und merkwürdige Classe von Fällen, in denen große äußere Ähnlichkeit nicht von einer Anpassung an ähnliche Lebensweisen abhängt, sondern des Schutzes wegen erlangt worden ist. Ich meine die wunderbare Art und Weise, in welcher gewisse Schmetterlinge andere und völlig verschiedene Arten nachäffen, wie es zuerst von Bates beschrieben worden ist. Dieser ausgezeichnete Beobachter hat gezeigt, daß in einigen Districten von Süd-America, wo z. B. eine Ithomia in prächtigen Schwärmen vorkommt, ein anderer Schmetterling, eine Leptalis, oft dem Schwarm zugemischt gefunden wird, welcher in jedem Tone und Streifen der Farbe und selbst in der Form der Flügel der Ithomia so ähnlich ist, daß Bates trotz seiner durch elfjährige Sammlerthätigkeit geschärften Augen und trotzdem er immer auf seiner Hut war, beständig getäuscht wurde. Werden die Spottformen und die nachgeahmten gefangen und verglichen, so sieht man, daß sie in ihrer wesentlichen Structur völlig verschieden sind und nicht blos zu andern Gattungen, sondern oft [509] sogar zu andern Familien gehören. Wäre dies Nachäffen nur in einem oder in zwei Fällen vorgekommen, so hätte man sie als merkwürdige Coincidenz übergehen können. Wenn man aber auch von einem District sich entfernt, wo eine Leptalis eine Ithomia nachäfft, so wird man eine andere Spottform und nachgeahmte aus denselben beiden Gattungen, gleich sehr ähnlich, wiederfinden. Im Ganzen werden nicht weniger als zehn Gattungen aufgezählt mit Arten, welche andere Schmetterlinge nachahmen. Die nachgeahmte und spottende Form bewohnen immer dieselbe Gegend; wir finden niemals einen Nachahmer, der entfernt von der Form lebte, die er nachbildet. Die Spötter sind fast ausnahmslos seltene Insecten; die verspotteten kommen fast in jedem Falle in großen Schwärmen vor. In demselben District, in dem eine Leptalis eine Ithomia nachahmt, kommen zuweilen noch andere Lepidopteren vor, die dieselbe Ithomia imitiren; so daß man an derselben Stelle Arten von drei Schmetterlingsgattungen und selbst eine Motte finden kann, die alle einer Art einer vierten Gattung außerordentlich ähnlich sind. Es verdient besonders bemerkt zu werden, daß viele sowohl der imitirenden Formen der Leptalis als der nachgeahmten Formen durch eine Stufenreihe als bloße Varietäten einer und derselben Species nachgewiesen werden können, während andere unzweifelhaft distincte Arten sind. Warum werden nun aber, kann man fragen, gewisse Formen als nachgeahmte, andere als die Nachahmer angesehen? Bates beantwortet diese Frage zufriedenstellend damit, daß er zeigt, wie die Form, welche imitirt wird, den gewöhnlichen Habitus der Gruppe, zu der sie gehört, bewahrt, während die Nachahmer ihren Habitus verändert haben und nicht mehr ihren nächsten Verwandten ähnlich sind.

Wir kommen nun zunächst zu der Frage, welcher Ursache man es möglicherweise zuschreiben kann, daß gewisse Schmetterlinge und Motten so oft die Tracht anderer und ganz distincter Formen annehmen; warum hat sich zur Verwirrung der Naturforscher die Natur zu Bühnenmanoeuvers herabgelassen! Bates hat ohne Zweifel die rechte Erklärung getroffen. Die nachgeahmten Formen, welche immer äußerst zahlreich vorkommen, müssen gewöhnlich der Zerstörung in hohem Maße entgehen, sonst könnten sie nicht in solchen Schwärmen auftreten; man hat jetzt auch zahlreiche Beweise gesammelt, daß sie Vögeln und anderen insectenfressenden Thieren zuwider sind. Die imitirenden Formen, welche denselben District bewohnen, sind dagegen [510] vergleichweise selten und gehören zu seltenen Gruppen. Sie müssen daher gewöhnlich einiger Gefahr ausgesetzt sein, denn sonst würden sie, nach der Zahl der von allen Schmetterlingen gelegten Eier, in drei oder vier Generationen die ganze Gegend in Schwärmen überziehen. Wenn nun ein Glied einer dieser verfolgten und seltenen Gruppen eine Tracht annähme, die der einer gut geschützten Art so gliche, daß sie das Auge eines erfahrenen Entomologen beständig täuschte, so würde sie auch oft Raubvögel und Insecten täuschen, die Form daher der gänzlichen Vernichtung entgehen. Man kann beinahe sagen, daß Bates factisch den Proceß belauscht habe, durch welchen die Spottform der nachgeäfften so äußerst ähnlich wird; denn er weist nach, daß einige der Formen von Leptalis, welche so viele andere Schmetterlinge nachahmen, sehr variiren. In einem District kommen mehrere Varietäten vor und von diesen gleicht in gewisser Ausdehnung nur eine der gemeinen Ithomia desselben Districts. In einem andern District finden sich zwei oder drei Varietäten, von denen eine viel häufiger als die andere ist, und diese ahmt die Ithomia außerordentlich nach. Aus Thatsachen dieser Art schließt Bates, daß die Leptalis zuerst variirte, und daß eine Varietät, welche zufällig in gewissem Grade irgend einem gemeinen, denselben District bewohnenden Schmetterling glich, durch diese Ähnlichkeit mit einer gut gedeihenden und wenig verfolgten Art mehr Aussicht hatte, der Zerstörung durch Raubvögel und Insecten zu entgehen, und folglich öfter erhalten wurde; – „die weniger vollständigen Ähnlichkeitsgrade werden Generation nach Generation eliminirt und nur die andern zur Erhaltung ihrer Art bewahrt.“ Wir haben daher hier ein ausgezeichnetes Beispiel des Princips der natürlichen Zuchtwahl.

Wallace und Trimen haben gleichfalls mehrere auffallende Fälle von Nachahmung bei den Lepidopteren des malayischen Archipels beschrieben; ebenso bei einigen andern Insecten. Wallace hat auch ein Beispiel von Nachahmung bei den Vögeln entdeckt; bei den größeren Säugethieren haben wir indessen nichts Derartiges. Die viel bedeutendere Häufigkeit von Nachahmung bei Insecten als bei anderen Thieren ist wahrscheinlich die Folge ihrer geringen Größe. Insecten können sich nicht selbst vertheidigen mit Ausnahme der Arten, welche mit einem Stachel versehen sind; und ich habe nie von einem Fall gehört, daß ein solches andere Insecten nachahme, obschon sie selbst imitirt werden; Insecten können größeren Thieren nicht durch Flug [511] entgehen; sie sind daher wie die meisten schwachen Geschöpfe auf Kunstgriffe und Verstellung angewiesen.

Man muß beachten, daß der Proceß der Nachäffung wahrscheinlich niemals bei Formen begann, welche einander in der Farbe sehr ähnlich sind. Geht er aber von Species aus, welche einander bereits etwas ähnlich waren, so kann die größte Ähnlichkeit, wenn sie von Vortheil ist, leicht durch die obigen Mittel erlangt werden; und wenn die nachgeahmte Form in Folge irgend eines Einflusses später allmählich modificirt wurde, so würde die nachahmende Form denselben Weg geführt und dadurch beinahe in jedem möglichen Grade umgeändert werden, so daß sie schließlich ein Aussehen oder eine Färbung erhielte, welche von der der andern Glieder der Familie, zu der sie gehört, gänzlich verschieden ist. Einige Schwierigkeit liegt indeß hier noch vor; denn man muß nothwendigerweise in manchen Fällen annehmen, daß die alten, zu mehreren verschiedenen Gruppen gehörigen Formen, ehe sie in der jetzigen Ausdehnung von einander abwichen, zufällig einem Gliede einer andern und geschützten Gruppe in einem hinreichenden Grade glichen, um einen unbedeutenden Schutz daraus zu erhalten. Und dies gab den Ausgangspunkt für das spätere Erlangen der vervollkommnetsten Ähnlichkeit.


Natur der Verwandtschaften, die die organischen Wesen verbinden.

Da die abgeänderten Nachkommen herrschender Arten großer Gattungen diejenigen Vorzüge, welche die Gruppen, wozu sie gehören, groß und ihre Eltern herrschend gemacht haben, zu erben streben, so sind sie beinahe sicher, sich weit auszubreiten und mehr oder weniger Stellen im Haushalte der Natur einzunehmen. So streben die größeren und herrschenderen Gruppen in jeder Classe nach immer weiterer Vergrößerung und ersetzen demnach viele kleinere und schwächere Gruppen. So erklärt sich auch die Thatsache, daß alle erloschenen wie noch lebenden Organismen einige wenige große Ordnungen und noch weniger Classen bilden. Als Beleg dafür, wie wenige an Zahl die oberen Gruppen und wie weit sie in der Welt verbreitet sind, ist die Thatsache auffallend, daß die Entdeckung Neuhollands nicht ein Insect aus einer neuen Classe geliefert hat, und daß im Pflanzenreiche, wie ich von Dr. Hooker vernehme, nur zwei oder drei kleine Familien hinzugekommen sind.

[512] Im Capitel über die geologische Aufeinanderfolge habe ich nach dem Princip, daß im Allgemeinen jede Gruppe während des langdauernden Modificationsprocesses in ihrem Character sehr divergirt hat, zu zeigen mich bemühet, woher es kommt, daß die übrigen Lebensformen oft einigermaßen mittlere Charactere zwischen jetzt existirenden Gruppen darbieten. Da einige wenige solcher alten und mittleren Stammformen sich in nur wenig abgeänderten Nachkommen bis zum heutigen Tage erhalten haben, so geben diese zur Bildung unserer sogenannten schwankenden oder aberranten Gruppen Veranlassung. Je abirrender eine Form ist, desto größer muß die Zahl verkettender Glieder sein, welche gänzlich vertilgt worden und verloren gegangen sind. Auch dafür, daß die aberranten Formen sehr durch Erlöschen gelitten, haben wir einige Belege; denn sie sind gewöhnlich nur durch äußerst wenige Arten vertreten, und die wirklich vorkommenden Arten sind gewöhnlich sehr verschieden von einander, was gleichfalls auf Erlöschung hinweist. Die Gattungen Ornithorhynchus und Lepidosiren z. B. würden nicht weniger aberrant sein, wenn sie jede durch ein Dutzend statt nur eine oder zwei Arten vertreten wären. Wir können, glaube ich, diese Erscheinung nur erklären, indem wir die aberranten Formen als Gruppen betrachten, welche im Kampfe mit siegreichen Concurrenten unterlegen sind und nur noch wenige Glieder in Folge eines ungewöhnlichen Zusammentreffens günstiger Umstände bis heute erhalten haben.

Waterhouse hat die Bemerkung gemacht, daß, wenn ein Glied aus einer Thiergruppe Verwandtschaft mit einer ganz andern Gruppe zeigt, diese Verwandtschaft in den meisten Fällen eine allgemeine und nicht eine Artverwandtschaft ist. So ist nach Waterhouse von allen Nagern die Viscache (Lagostomus) am nächsten mit den Beutelthieren verwandt; aber die Charactere, worin sie sich den Marsupalien am meisten nähert, haben eine allgemeine Beziehung zu den Beutelthieren und nicht zu dieser oder jener Art im Besonderen. Da diese Verwandtschaftsbeziehungen der Viscache zu den Beutelthieren für wirkliche gelten und nicht Folge bloßer Anpassung sind, so müssen sie nach meiner Theorie von gemeinschaftlicher Ererbung von einem gemeinsamen Urerzeuger herrühren. Daher wir denn auch annehmen müssen, entweder, daß alle Nager einschließlich der Viscache von einem sehr alten Beutelthiere abgezweigt sind, welches natürlich einen mehr oder weniger mittleren Character in Bezug zu allen jetzt existirenden [513] Beutelthieren besessen hat, oder daß sowohl Nager wie Beutelthiere von einem gemeinsamen Stammvater herrühren und beide Gruppen durch starke Abänderungen seitdem in verschiedenen Richtungen auseinander gegangen sind. Nach beiderlei Ansichten müssen wir annehmen, daß die Viscache mehr von den erblichen Characteren des alten Stammvaters an sich behalten hat, als sämmtliche anderen Nager; und deshalb zeigt sie keine besonderen Beziehungen zu diesem oder jenem noch vorhandenen Beutler, sondern nur indirect zu allen oder fast allen Marsupialien überhaupt, indem sie sich einen Theil des Characters des gemeinsamen Urerzeugers oder eines früheren Gliedes dieser Gruppe erhalten hat. Andererseits besitzt nach Waterhouse’s Bemerkung unter allen Beutelthieren die Phascolomys am meisten Ähnlichkeit nicht zu einer einzelnen Art, sondern zur ganzen Ordnung der Nager überhaupt. In diesem Falle ist indeß sehr zu vermuthen, daß die Ähnlichkeit nur eine Analogie sei, indem die Phascolomys sich einer Lebensweise anpaßte, wie sie Nager besitzen. Der ältere DeCandolle hat ziemlich ähnliche Bemerkungen hinsichtlich der allgemeinen Natur der Verwandtschaft zwischen verschiedenen Pflanzenordnungen gemacht.

Nach dem Princip der Vermehrung und der stufenweisen Divergenz des Characters der von einem gemeinsamen Ahnen abstammenden Arten in Verbindung mit der erblichen Erhaltung eines Theiles des gemeinsamen Characters erklären sich die außerordentlich verwickelten und strahlenförmig auseinander gehenden Verwandtschaften, wodurch alle Glieder einer Familie oder höheren Gruppe miteinander verkettet werden. Denn der gemeinsame Stammvater einer ganzen Familie, welche jetzt durch Erlöschung in verschiedene Gruppen und Untergruppen gespalten ist, wird einige seiner Charactere in verschiedener Art und Abstufung modificirt allen gemeinsam mitgetheilt haben, und die verschiedenen Arten werden demnach nur durch Verwandtschaftslinien von verschiedener Länge miteinander verbunden sein, welche in weit älteren Vorgängern ihren Vereinigungspunkt finden, wie es das so oft angezogene Schema darstellt. Wie es schwer ist, die Blutsverwandtschaft zwischen den zahlreichen Angehörigen einer alten adeligen Familie sogar mit Hilfe eines Stammbaumes zu zeigen, und fast unmöglich, es ohne dieses Hilfsmittel zu thun, so begreift man auch die außerordentliche Schwierigkeit, auf welche Naturforscher, ohne die Hilfe einer bildlichen Skizze, stoßen, wenn sie die [514] verschiedenen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den vielen lebenden und erloschenen Gliedern einer großen natürlichen Classe nachweisen wollen.

Erlöschen hat, wie wir im vierten Capitel gesehen haben, einen bedeutsamen Antheil an der Bildung und Erweiterung der Lücken zwischen den verschiedenen Gruppen in jeder Classe gehabt. Wir können selbst die Trennung ganzer Classen von einander, wie z. B. die der Vögel von allen andern Wirbelthieren, durch die Annahme erklären, daß viele alte Lebensformen ganz verloren gegangen sind, durch welche die ersten Stammeltern der Vögel vordem mit den ersten Stammeltern der übrigen damals weniger differenzirten Wirbelthierclassen verkettet gewesen sind. Dagegen sind nur wenige von den Lebensformen erloschen, welche einst die Fische mit den Batrachiern verbanden. In noch geringerem Grade ist dies in einigen andern Classen, z. B. bei den Krustern der Fall gewesen, wo die wundersamst verschiedenen Formen noch durch eine lange und nur theilweise unterbrochene Verwandtschaftskette zusammengehalten werden. Erlöschung hat die Gruppen nur umgrenzt, durchaus nicht gemacht. Denn wenn alle Formen, welche jemals auf dieser Erde gelebt haben, plötzlich wieder erscheinen könnten, so würde es zwar ganz unmöglich sein, die Gruppen durch Definitionen von einander zu unterscheiden, demungeachtet würde eine natürliche Classification oder wenigstens eine natürliche Anordnung möglich sein. Wir können dies ersehen, indem wir unser Schema betrachten. Nehmen wir an, die Buchstaben A bis L stellen elf silurische Gattungen dar, wovon einige große Gruppen abgeänderter Nachkommen hinterlassen haben. Jedes Mittelglied in allen Arten und Zweigen ihrer Nachkommenschaft sei noch am Leben, und diese Glieder seien so fein wie die zwischen den feinsten Varietäten abgestuft. In diesem Falle würde es ganz unmöglich sein, die vielfachen Glieder der verschiedenen Gruppen von ihren unmittelbaren Eltern und Nachkommen durch Definitionen zu unterscheiden. Und doch würde die in dem Bilde gegebene Anordnung ganz gut passen und auch natürlich sein; denn nach dem Vererbungsprincip würden alle von A herkommenden Formen unter sich etwas gemein haben. An einem Baume kann man diesen oder jenen Zweig unterscheiden, obwohl sich beide bei der Gabeltheilung vereinigen und ineinander fließen. Wir könnten, wie gesagt, die verschiedenen Gruppen nicht definiren; aber wir könnten Typen oder [515] solche Formen hervorheben, welche die meisten Charactere jeder Gruppe, groß oder klein, in sich vereinigten, und so eine allgemeine Vorstellung vom Werthe der Verschiedenheiten zwischen denselben geben. Dies wäre das, wozu wir getrieben werden würden, wenn wir je dahin gelangten, alle Formen einer Classe, die in Zeit und Raum vorhanden gewesen sind, zusammen zu bringen. Wir werden zwar gewiß nie im Stande sein, eine vollständige Sammlung zu machen, demungeachtet aber bei gewissen Classen uns diesem Ziele nähern; und Milne Edwards ist noch unlängst in einer vortrefflichen Abhandlung auf der großen Wichtigkeit bestanden, sich an Typen zu halten, gleichviel ob wir im Stande sind oder nicht, die Gruppen zu trennen und zu umschreiben, zu welchen diese Typen gehören.

Endlich haben wir gesehen, daß natürliche Zuchtwahl, welche aus dem Kampfe um’s Dasein hervorgeht und zu Erlöschung und Divergenz des Characters in den vielen Nachkommen einer herrschenden Stammart fast unvermeidlich führt, jene großen und allgemeinen Züge in der Verwandtschaft aller organischen Wesen, nämlich ihre Sonderung in Gruppen und Untergruppen erklärt. Wir benutzen das Element der Abstammung bei Classification der Individuen beider Geschlechter und aller Altersabstufungen in einer Art, wenn sie auch nur wenige Charactere miteinander gemein haben; wir benutzen die Abstammung bei der Einordnung anerkannter Varietäten, wie sehr sie auch von ihrer Stammart abweichen mögen; und ich glaube, daß dieses Element der Abstammung das geheime Band ist, welches alle Naturforscher unter dem Namen des natürlichen Systemes gesucht haben. Da nach dieser Vorstellung das natürliche System, so weit es ausgeführt werden kann, genealogisch geordnet ist und man die Grade der Verschiedenheit durch die Ausdrücke Gattungen, Familien, Ordnungen u. s. w. bezeichnet, so begreifen wir die Regeln, welche wir bei unserer Classification zu befolgen veranlaßt werden. Wir können begreifen, warum wir manche Ähnlichkeit weit höher als andere abzuschätzen haben; warum wir mitunter rudimentäre oder nutzlose oder andere physiologisch unbedeutende Organe anwenden; warum wir beim Aufsuchen der Beziehungen der einen zu der andern Gruppe analoge oder Anpassungscharactere kurz verwerfen, obwohl wir dieselben innerhalb der nämlichen Gruppe gebrauchen. Es wird uns klar, warum wir alle lebenden und erloschenen Formen in wenig große Classen zusammen ordnen können, und warum die verschiedenen Glieder jeder [516] Classe in den verwickeltsten und strahlenförmig auseinanderlaufenden Verwandtschaftslinien miteinander verkettet sind. Wir werden wahrscheinlich niemals das verwickelte Verwandtschaftsgewebe zwischen den Gliedern irgend einer Classe entwirren; wenn wir jedoch einen einzelnen Gegenstand in’s Auge fassen und nicht nach irgend einem unbekannten Schöpfungsplane ausschauen, so dürfen wir hoffen, sichere aber langsame Fortschritte zu machen.

Professor Häckel hat in seiner ‚Generellen Morphologie’ und in mehreren anderen Werken neuerdings sein grosses Wissen und Geschick darauf verwandt, das, was er Phylogenie oder die Descendenzlinien aller organischen Wesen nennt, zu ermitteln. Beim Verfolgen der einzelnen Reihen verläßt er sich hauptsächlich auf embryologische Charactere, zieht aber ebenso gut homologe und rudimentäre Organe wie auch die Perioden, in welchen, wie man annimmt, die verschiedenen Lebensformen in unseren geologischen Formationen nacheinander aufgetreten sind, zu Hülfe. Er hat damit kühn einen ersten Anfang gemacht und zeigt uns, wie die Classification künftig zu behandeln sein wird.


Morphologie.

Wir haben gesehen, daß die Glieder einer und derselben Classe, unabhängig von ihrer Lebensweise, einander im allgemeinen Plane ihrer Organisation gleichen. Diese Übereinstimmung wird oft mit dem Ausdrucke „Einheit des Typus“ bezeichnet; oder man sagt, die einzelnen Theile und Organe der verschiedenen Species einer Classe seien einander homolog. Der ganze Gegenstand wird unter dem Namen Morphologie begriffen. Dies ist einer der interessantesten Theile der Naturgeschichte und kann deren wahre Seele genannt werden. Was kann es Sonderbareres geben, als daß die Greifhand des Menschen, der Grabfuß des Maulwurfs, das Rennbein des Pferdes, die Ruderflosse der Seeschildkröte und der Flügel der Fledermaus sämmtlich nach demselben Modell gebaut sind und gleiche Knochen in der nämlichen gegenseitigen Lage enthalten. Wie merkwürdig ist es, um ein untergeordnetes, wenn auch auffallendes Beispiel zu geben, daß der Hinterfuß des Känguruhs, welcher für das Springen über die offenen Ebenen, der des kletternden, blattfressenden Koala, der gleicherweise zum Ergreifen der Zweige gut angepaßt ist, der des auf der Erde lebenden, Insecten und Wurzeln fressenden Bandicoots und der einiger andern [517] australischen Beutelthieren sämmtlich nach demselben außerordentlichen Typus gebaut sind, nämlich mit äußerst schlanken und von derselben Hautbedeckung umhüllten Knochen des zweiten und dritten Fingers, so daß diese wie eine einzige mit zwei Krallen versehene Zehe erscheinen. Trotz dieser Ähnlichkeit des Bauplans werden die Hinterfüße dieser verschiedenen Thiere offenbar zu so weit verschiedenen Zwecken benützt, als nur denkbar möglich ist. Der Fall wird um so auffallender, als die americanischen Opossums, welche nahezu dieselbe Lebensweise haben, wie einige ihrer australischen Verwandten, nach dem gewöhnlichen Plane gebaute Füße haben. Professor Flower, dem ich diese Angaben entnommen habe, bemerkt zum Schlusse: „wir können dies Übereinstimmung des Typus nennen, ohne jedoch der Erklärung dieser Erscheinung damit viel näher zu kommen;“ und dann fügt er hinzu: „legt es aber nicht sehr nachdrücklich die Annahme wirklicher Verwandtschaft, der Vererbung von einem gemeinsamen Vorfahren nahe?“

Geoffroy Saint-Hilaire hat beharrlich an der großen Wichtigkeit der wechselseitigen Lage oder Verbindung der Theile in homologen Organen festgehalten; die Theile mögen in fast allen Abstufungen der Form und Größe abändern, aber sie bleiben fest in derselben Weise miteinander verbunden. So finden wir z. B. die Knochen des Ober- und des Vorderarms oder des Ober- und Unterschenkels nie umgestellt. Daher kann man den homologen Knochen in weit verschiedenen Thieren denselben Namen geben. Dasselbe große Gesetz tritt in der Mundbildung der Insecten hervor. Was kann verschiedener sein, als der ungeheuer lange spirale Saugrüssel eines Abendschmetterlings, der sonderbar zurückgebrochene Rüssel einer Biene oder Wanze und die großen Kiefer eines Käfers? Und doch werden alle diese zu so ungleichen Zwecken dienenden Organe durch unendlich zahlreiche Modificationen einer Oberlippe, Oberkiefer und zweier Paar Unterkiefer gebildet. Dasselbe Gesetz herrscht in der Zusammensetzung des Mundes und der Glieder der Kruster. Und ebenso ist es mit den Blüthen der Pflanzen.

Nichts hat weniger Aussicht auf Erfolg, als ein Versuch diese Ähnlichkeit des Bauplanes in den Gliedern einer nämlichen Classe mit Hilfe der Nützlichkeitstheorie oder der Lehre von den endlichen Ursachen zu erklären. Die Hoffnungslosigkeit eines solchen Versuches ist von Owen in seinem äußerst interessanten Werke „Nature of limbs“ [518] ausdrücklich anerkannt worden. Nach der gewöhnlichen Ansicht von der selbständigen Schöpfung einer jeden Species läßt sich nur sagen, daß es so ist, und daß es dem Schöpfer gefallen hat, alle Thiere und Pflanzen in jeder großen Classe nach einem einförmig geordneten Plane zu bauen; das ist aber keine wissenschaftliche Erklärung.

Dagegen ist die Erklärung nach der Theorie der natürlichen Zuchtwahl aufeinander folgender geringer Abänderungen in hohem Grade einfach, deren jede der abgeänderten Form einigermaßen nützlich ist, welche aber in Folge der Correlation oft auch andere Theile der Organisation mit berühren. Bei Abänderungen dieser Art wird sich nur wenig oder gar keine Neigung zur Änderung des ursprünglichen Bauplanes oder zu Versetzung der Theile zeigen. Die Knochen eines Beines können in jedem Maße verkürzt und abgeplattet, sie können gleichzeitig in dicke Häute eingehüllt werden, um als Floße zu dienen; oder ein mit einer Bindehaut zwischen den Zehen versehener Fuß kann alle seine Knochen oder gewisse Knochen bis zu irgend einem Maße verlängern und die Bindehaut in gleichen Verhältnis vergrößern, so daß er als Flügel zu dienen im Stande ist; und doch ist ungeachtet aller so bedeutender Abänderungen keine Neigung zu einer Änderung der Knochenbestandtheile an sich oder zu einer andern Zusammenfügung derselben vorhanden. Wenn wir annehmen, daß ein alter Vorfahre oder der Urtypus, wie man ihn nennen kann, aller Säugethiere, Vögel und Reptilien seine Beine, zu welchem Zwecke sie auch bestimmt gewesen sein mögen, nach dem vorhandenen allgemeinen Plane gebildet hatte, so werden wir sofort die klare Bedeutung der homologen Bildung der Beine in der ganzen Classe begreifen. Wenn wir ferner hinsichtlich des Mundes der Insecten nur annehmen, daß ihr gemeinsamer Urahne eine Oberlippe, Oberkiefer und zwei Paar Unterkiefer vielleicht von sehr einfacher Form besessen hat, so wird natürliche Zuchtwahl vollkommen zur Erklärung der unendlichen Verschiedenheit in den Bildungen und Verrichtungen der Mundtheile der Insecten genügen. Demungeachtet ist es begreiflich, daß der ursprünglich gemeinsame Plan eines Organes allmählich so verdunkelt werden kann, daß er endlich ganz verloren geht, sei es durch Verkümmerung und endlich durch vollständiges Fehlschlagen gewisser Theile, durch Verschmelzung anderer Theile, oder durch Verdoppelung oder Vervielfältigung noch anderer: Abänderungen, die nach unserer Erfahrung alle in den Grenzen der Möglichkeit liegen. In den Ruderfüßen gewisser [519] ausgestorbener riesiger See-Eidechsen (Ichthyosaurus) und in den Theilen des Saugmundes gewisser Kruster scheint der gemeinsame Grundplan bis zu einem gewissem Grade verwischt zu sein.

Ein anderer und gleich merkwürdiger Zweig der Morphologie beschäftigt sich mit der Reihenhomologie, d. h. mit der Vergleichung, nicht des nämlichen Theiles in verschiedenen Gliedern einer Classe, sondern der verschiedenen Theile oder Organe eines nämlichen Individuums. Die meisten Physiologen glauben, die Knochen des Schädels seien homolog – d. h. in Zahl und relativer Verbindung übereinstimmend – mit den Elementartheilen einer gewissen Anzahl Wirbel. Die vorderen und die hinteren Gliedmaßen eines jeden Thieres sind bei allen Wirbelthierclassen offenbar homolog zu einander. Dasselbe Gesetz gilt auch für die wunderbar zusammengesetzten Kinnladen und Beine der Kruster. Fast Jedermann weiß, daß in einer Blume die gegenseitige Stellung der Kelch- und der Kronenblätter und der Staubfäden und Staubwege zu einander eben so wie deren innere Structur aus der Annahme erklärbar werden, daß es metamorphosirte spiralständige Blätter sind. Bei monströsen Pflanzen erhalten wir oft den directen Beweis von der Möglichkeit der Umbildung eines dieser Organe ins andere; und bei Blüthen während ihrer frühen Eutwickelung, sowie bei den Embryozuständen von Crustaceen und vielen andern Thieren sehen wir wirklich, daß Organe, die im reifen Zustande äußerst verschieden von einander sind, auf ihren ersten Entwickelungsstufen einander außerordentlich gleichen.

Wie unerklärbar sind diese Erscheinungen der Reihenhomologie nach der gewöhnlichen Ansicht von einer Schöpfung! Warum sollte doch das Gehirn in einem aus so vielen und so außergewöhnlich geformten Knochenstücken zusammengesetzten Kasten eingeschlossen sein, welche dem Anscheine nach Wirbel darstellen! Wie Owen bemerkt, kann der Vortheil, welcher aus einer der Trennung der Theile entsprechenden Nachgiebigkeit des Schädels für den Geburtsact bei den Säugethieren entspringt, keinesfalls die nämliche Bildungsweise desselben bei den Vögeln und Reptilien erklären. Oder warum sind den Fledermäusen dieselben Knochen wie den übrigen Säugethieren zu Bildung ihrer Flügel und Beine anerschaffen worden, da sie dieselben doch zu gänzlich verschiedenen Zwecken, zum Fliegen und zum Gehen, gebrauchen? Und warum haben Kruster mit einem aus zahlreicheren Organenpaaren zusammengesetzten Munde in gleichem Verhältnisse [520] weniger Beine, oder umgekehrt die mit mehr Beinen versehenen weniger Mundtheile? Endlich, warum sind die Kelch- und Kronenblätter, die Staubgefässe und Staubwege einer Blüthe, trotz ihrer Bestimmung zu so gänzlich verschiedenen Zwecken, alle nach demselben Muster gebildet?

Nach der Theorie der natürlichen Zuchtwahl können wir alle diese Fragen beantworten. Wir brauchen hier nicht zu betrachten, wie der Körper mancher Thiere zuerst in einer Reihe von Segmenten, oder in eine rechte und linke Seite mit einander entsprechenden Organen getheilt wurde; denn derartige Fragen liegen beinahe jenseits unserer Untersuchung. Wahrscheinlich sind indessen einige reihenförmig sich wiederholende Gebilde das Resultat einer Zellenvermehrung durch Theilung, welche die Vermehrung der aus solchen Zellen sich entwickelnden Theile mit sich bringt. Es muß für unsern Zweck genügen, im Sinne zu behalten, daß eine unbegrenzte Wiederholung desselben Theiles oder Organes, wie Owen bemerkt hat, das gemeinsame Attribut aller gering oder wenig modificirten Formen ist; daher besaß wahrscheinlich die unbekannte Stammform aller Wirbelthiere viele Wirbel, die unbekannte Stammform aller Gliederthiere viele Körpersegmente und die unbekannte Stammform der Blüthenpflanzen viele in einer oder mehreren Spiralen geordnete Blätter. Wir haben auch früher gesehen, daß Theile, die sich oft wiederholen, sehr geneigt sind, nicht bloß in Zahl, sondern auch in der Form zu variiren. Folglich werden solche Theile, da sie bereits in beträchtlicher Anzahl vorhanden und sehr variabel sind, natürlich ein zur Anpassung an die verschiedenartigsten Zwecke geeignetes Material darbieten; und doch werden sie allgemein in Folge der Kraft der Vererbung deutliche Züge ihrer ursprünglichen oder fundamentalen Ähnlichkeit bewahren. Sie werden diese Ähnlichkeit um so mehr beibehalten, als die Abänderungen, welche die Grundlage für die spätere Modification durch natürliche Zuchtwahl darbieten, von Anfang an ähnlich zu sein streben werden, da die Theile auf einer frühern Wachsthumsstufe gleich und nahezu denselben Bedingungen ausgesetzt sind. Derartige Theile werden, mögen sie mehr oder weniger modificirt sein, Reihenhomologa darstellen, wenn nicht ihr gemeinsamer Ursprung vollständig verdunkelt ist.

In der großen Classe der Mollusken lassen sich zwar Homologien zwischen Theilen verschiedener Species, aber nur wenige Reihenhomologien [521] nachweisen, wie z. B. die Klappe der Chitonen, d. h. wir sind selten im Stande zu sagen, daß ein Theil oder Organ mit einem andern im nämlichen Individuum homolog sei. Dies läßt sich wohl erklären, weil wir selbst bei den untersten Gliedern des Weichthierkreises auch nicht annähernd eine solche unbegrenzte Wiederholung einzelner Theile wie in den übrigen großen Classen des Thier- und Pflanzenreiches finden.

Morphologie ist indessen ein viel complicirterer Gegenstand, als es auf den ersten Blick scheint, wie vor Kurzem Ray Lankester in einer merkwürdigen Abhandlung gezeigt hat. Er zieht eine wichtige Scheidewand zwischen gewissen Classen von Fällen, welche von den Naturforschern sämmtlich in gleicher Weise für Homologie angesehen wurden. Er schlägt vor, die Gebilde, welche einander in Folge der Abstammung von einem gemeinsamen Urerzeuger mit später eintretender Modification bei verschiedenen Thieren gleichen, homogene, und die Ähnlichkeiten, welche nicht in dieser Weise erklärt werden können, homoplastische zu nennen. Er glaubt z. B., daß die Herzen der Vögel und Säugethiere im Ganzen einander homogen sind, d. h. von einem gemeinsamen Urerzeuger herzuleiten sind, daß aber die vier Herzhöhlen in den beiden Classen homoplastisch sind, d. h. sich unabhängig entwickelt haben. Lankester führt auch die große Ähnlichkeit der Theile auf der rechten und linken Seite des Körpers und der hintereinanderliegenden Abschnitte eines und desselben individuellen Thieres an; und hier liegen gewöhnlich homolog genannte Theile vor, welche keine Beziehung zur Abstammung verschiedener Species von einem gemeinsamen Urerzeuger haben. Homoplastische Gebilde sind dieselben, welche ich, freilich in sehr unvollkommener Weise, als analoge Modificationen oder Ähnlichkeiten aufgestellt habe. Ihre Bildung kann zum Theil dem Umstand zugeschrieben werden, daß verschiedene Organismen oder verschiedene Theile eines und desselben Organismus in analoger Weise variirt haben, zum Theile dem, daß ähnliche Modificationen für denselben allgemeinen Zweck oder die gleiche Function erhalten worden sind, wofür sich viele Beispiele anführen ließen.

Die Naturforscher stellen den Schädel oft als eine Reihe metamorphosirter Wirbel, die Kinnladen der Krabben als metamorphosirte Beine, die Staubgefässe und Staubwege der Blumen als metamorphosirte Blätter dar; doch würde es, wie Huxley bemerkt hat, in den meisten Fällen richtiger sein zu sagen, Schädel wie Wirbel, Kinnladen [522] und Beine u. s. w. seien nicht eines aus dem andern, wie sie jetzt existiren, sondern beide aus einem gemeinsamen Elemente entstanden. Inzwischen brauchen die meisten Naturforscher jenen Ausdruck nur in bildlicher Weise, indem sie weit von der Meinung entfernt sind, daß Primordialorgane irgend welcher Art – Wirbel im einen und Beine im andern Falle – während einer langen Reihe von Generationen wirklich in Schädel und Kinnladen umgebildet worden seien, und doch ist der Anschein, daß eine derartige Modification stattgefunden habe, so vollkommen, daß die Naturforscher schwer vermeiden können, eine diesem letzten Sinne entsprechende Ausdrucksweise zu gebrauchen. Nach der hier vertretenen Ansicht können jene Ausdrücke wörtlich genommen werden; und die wunderbare Thatsache, daß die Kinnladen z. B. einer Krabbe zahlreiche Merkmale an sich tragen, welche dieselben wahrscheinlich ererbt haben würden, wenn sie wirklich während einer langen Generationenreihe durch allmähliche Metamorphose aus wirklichen wenn auch äußerst einfachen Beinen entstanden wären, wird erklärt.


Entwickelung und Embryologie.

Dies ist einer der wichtigsten Theile im ganzen Gebiete der Naturgeschichte. Allgemein werden die Metamorphosen der Insecten etwas abrupt in ein paar Stufen ausgeführt; die Umformungen sind aber in Wirklichkeit zahlreich und stufenweise, wenn auch verdeckt. So hat z. B. Sir J. Lubbock gezeigt, daß ein gewisses ephemerides Insect (Chloëon) sich während seiner Entwickelung über zwanzig Mal häutet und jedesmal einen gewissen Betrag von Veränderung erfährt; in einem solchen Falle haben wir den Act der Metamorphose in seinem natürlichen oder primären Gange vor uns. Was für große Structurveränderungen während der Entwickelung mancher Thiere ausgeführt werden, zeigen uns viele Insecten, noch deutlicher aber viele Crustaceen. Derartige Veränderungen erreichen indessen ihren Höhepunkt in dem sogenannten Generationswechsel einiger der niederen Thiere. Was kann z. B. größeres Erstaunen erregen, als daß ein zartes verzweigtes, mit Polypen besetztes und an einen submarinen Felsen geheftetes Korallenstöckchen erst durch Knospung, dann durch quere Theilung eine Menge großer schwimmender Quallen erzeugt, und daß diese Eier produciren, aus denen zunächst freischwimmende Thierchen hervorgehen, welche sich an Steine heften und sich zu verzweigten [523] Polypenstöckchen entwickeln; und so fort in endlosen Kreisen? Die Ansicht von der wesentlichen Identität des Generationswechsels mit der gewöhnlichen Metamorphose hat neuerdings durch Wagner’s Entdeckung eine kräftige Stütze erhalten, wonach die Larve einer Cecidomyia, d. i. die Made einer Fliege, ungeschlechtlich andere ähnliche Larven und diese wiederum andere erzeugt, welche endlich in reife Männchen und Weibchen entwickelt werden, die ihre Art in der gewöhnlichen Weise durch Eier fortpflanzen.

Es mag der Erwähnung werth sein, daß ich, als Wagner’s Entdeckung zuerst bekannt wurde, gefragt wurde, wie es zu erklären möglich sei, daß die Larven dieser Fliegen das Vermögen der geschlechtslosen Vermehrung erlangt hätten. So lange der Fall einzig blieb, konnte keine Antwort gegeben werden. Es hat nun aber bereits Grimm gezeigt, daß eine andere Fliege, ein Chironomus, sich auf eine nahezu gleiche Art und Weise fortpflanzt; auch glaubt er, daß dies in der Ordnung häufig vorkomme. Es ist die Puppe und nicht die Larve des Chironomus, welche diese Fähigkeit hat; und Grimm zeigt ferner, daß dieser Fall in einer gewissen Ausdehnung „den von der Cecidomyia mit der Parthenogenesis der Cocciden verbindet,“ wobei der Ausdruck Parthenogenesis die Thatsache umfaßt, daß die reifen Weibchen der Cocciden fähig sind, ohne Zuthun der Männchen fruchtbare Eier zu legen. Man kennt jetzt gewisse zu verschiedenen Classen gehörige Thiere, welche das gewöhnliche Fortpflanzungsvermögen in einem ungewöhnlich frühen Alter besitzen. Wir brauchen nun bloß die parthenogenetische Reproduction durch allmähliche Abstufungen auf ein immer früheres Alter zurückzutreiben, – wobei uns Chironomus einen beinahe genau intermediären Zustand, nämlich die Puppe, zeigt, – und wir können vielleicht den wunderbaren Fall der Cecidomyia erklären.

Es ist schon bemerkt worden, daß verschiedene Theile desselben Individuums, welche sich in einer frühen embryonalen Zeit einander völlig gleich sind, im reifen Alter der Thiere sehr verschieden und zu ganz abweichenden Diensten bestimmt werden. Ebenso wurde erwähnt, daß die Embryonen der verschiedensten Arten und Gattungen derselben Classe einander allgemein sehr ähnlich, wenn aber vollständig entwickelt, sehr unähnlich sind. Ein besserer Beweis dieser letzten Thatsache läßt sich nicht anführen als der, welchen von Baer erwähnt, „daß die Embryonen von Säugethieren, Vögeln, Eidechsen, [524] Schlangen und wahrscheinlich auch Schildkröten sich in der ersten Zeit im Ganzen sowohl als in der Bildungsweise ihrer einzelnen Theile so außerordentlich ähnlich sind, daß man sie in der That nur an ihrer Größe unterscheiden könne. Ich besitze zwei Embryonen im Weingeist aufbewahrt, deren Namen ich beizuschreiben vergessen habe, und nun bin ich ganz außer Stand zu sagen, zu welcher Classe sie gehören. Es können Eidechsen oder kleine Vögel oder sehr junge Säugethiere sein, so vollständig ist die Ähnlichkeit in der Bildungsweise von Kopf und Rumpf dieser Thiere. Die Extremitäten fehlen indessen noch. Aber auch wenn sie vorhanden wären, so würden sie auf ihrer ersten Entwickelungsstufe nichts beweisen; denn die Beine der Eidechsen und Säugethiere, die Flügel und Beine der Vögel nicht weniger als die Hände und Füße der Menschen; alle entspringen aus der nämlichen Grundform.“ – Die Larven der meisten Crustaceen gleichen auf entsprechenden Entwickelungsstufen einander sehr, wie verschieden auch die Erwachsenen werden mögen; und so verhält es sich bei vielen andern Thieren. Zuweilen geht eine Spur des Gesetzes der embryonalen Ähnlichkeit noch in ein späteres Alter über; so gleichen Vögel derselben Gattung oder nahe verwandter Genera einander oft in ihrem Jugendkleide: alle Drosseln z. B. in ihrem gefleckten Gefieder. In den Katzenfamilien sind die meisten Arten, wenn sie erwachsen sind, gestreift oder streifenweise gefleckt; und solche Streifen oder Flecken sind auch noch am neugeborenen Jungen des Löwen und des Puma deutlich vorhanden. Wir sehen zuweilen, aber selten, auch etwas der Art bei den Pflanzen. So sind die Embryonalblätter des Ulex und die ersten Blätter der neuholländischen Acacien, welche später nur noch Phyllodien hervorbringen, zusammengesetzt oder gefiedert, wie die gewöhnlichen Leguminosenblätter.

Diejenigen Puncte der Organisation, worin die Embryonen ganz verschiedener Thiere einer und derselben Classe sich gegenseitig gleichen, haben oft keine unmittelbare Beziehung zu ihren Existenzbedingungen. Wir können z. B. nicht annehmen, daß in den Embryonen der Wirbelthiere der eigenthümliche schleifenartige Verlauf der Arterien nächst den Kiemenspalten des Halses mit der Ähnlichkeit der Lebensbedingungen in Zusammenhang stehe: beim jungen Säugethiere, das im Mutterleibe ernährt wird, beim Vogel, welcher dem Eie entschlüpft, und beim Frosche, der sich im Laiche unter Wasser entwickelt. Wir haben nicht mehr Grund, an einen solchen Zusammenhang [525] zu glauben, als anzunehmen, daß die Übereinstimmung der Knochen in der Hand des Menschen, im Flügel einer Fledermaus und im Ruderfuße eines Tümmlers mit einer Übereinstimmung der äußern Lebensbedingungen in Verbindung stehe. Niemand wird annehmen, daß die Streifen an dem jungen Löwen oder die Flecken an der jungen Amsel diesen Thieren von irgend welchem Nutzen sind.

Anders verhält sich jedoch die Sache, wenn ein Thier während eines Theiles seiner Embryonalzeit activ ist und für sich selbst zu sorgen hat. Die Periode der Thätigkeit kann früher oder kann später im Leben kommen; doch wann immer sie kommen mag, die Anpassung der Larve an ihre Lebensbedingungen ist eben so vollkommen und schön, wie die des reifen Thieres an die seinige. In welch’ wichtiger Weise dies zur Erscheinung kommt, hat Sir J. Lubbock vor kurzem in seinen Bemerkungen über die große Ähnlichkeit der Larven mancher zu weit getrennten Ordnungen gehörender Insecten und die Unähnlichkeit der Larven anderer zu derselben Ordnung gehörender Insecten, je nach der Lebensweise, gezeigt. Durch derartige Anpassungen, besonders wenn sie eine Arbeitstheilung auf die verschiedenen Entwickelungsstufen einschließen, wenn z. B. eine Larve auf dem einen Zustande Nahrung zu suchen, auf dem andern einen Ort zum Anheften auszuwählen hat, wird dann zuweilen auch die Ähnlichkeit der Larven einander verwandter Thiere sehr verdunkelt; und es ließen sich Beispiele anführen, wo die Larven zweier Arten und sogar Artengruppen noch mehr von einander verschieden sind, als ihre reifen Eltern. In den meisten Fällen jedoch gehorchen auch die thätigen Larven noch mehr oder weniger dem Gesetze der embryonalen Ähnlichkeit. Die Cirripeden liefern einen guten Beleg dafür: selbst der berühmte Cuvier erkannte nicht, daß ein Lepas ein Kruster ist; aber ein Blick auf ihre Larven verräth dies in unverkennbarer Weise. Und eben so haben die zwei Hauptabtheilungen der Cirripeden, die gestielten und die sitzenden, welche in ihrem äußeren Ansehen so sehr von einander abweichen, Larven, die in allen ihren Entwickelungsstufen kaum unterscheidbar sind.

Während des Verlaufes seiner Entwickelung erhebt sich der Embryo gewöhnlich in der Organisation; ich gebrauche diesen Ausdruck obwohl ich weiß, daß es kaum möglich ist, genau anzugeben, was unter höherer, oder tieferer Organisation zu verstehen sei. Doch wird wahrscheinlich Niemand bestreiten, daß der Schmetterling höher organisirt [526] sei als die Raupe. In einigen Fällen jedoch, wie bei parasitischen Krustern, sieht man allgemein das reife Thier für tieferstehend als die Larve an. Ich beziehe mich wieder auf die Cirripeden. Auf ihrer ersten Stufe hat die Larve drei Paar Füße, ein einziges sehr einfaches Auge und einen rüsselförmigen Mund, womit sie reichliche Nahrung aufnimmt, denn sie nimmt schnell an Größe zu. Auf der zweiten Stufe, dem Puppenstande des Schmetterlings entsprechend, hat sie sechs Paar schön gebauter Schwimmfüße, ein Paar herrlich zusammengesetzter Augen und äußerst zusammengesetzte Fühler, aber einen geschlossenen und unvollkommenen Mund, der keine Nahrung aufnehmen kann; ihre Verrichtung auf dieser Stufe ist, einen zur Befestigung und zur letzten Metamorphose geeigneten Platz mittelst ihres wohl entwickelten Sinnesorganes zu suchen und mit ihren mächtigen Schwimmorganen zu erreichen. Wenn diese Aufgabe erfüllt ist, so bleibt das Thier lebenslänglich an seiner Stelle befestigt; seine Beine verwandeln sich in Greiforgane; es bildet sich wieder ein gut gebildeter Mund aus; aber es hat keine Fühler, und seine beiden Augen haben sich jetzt wieder in einen kleinen und ganz einfachen Augenfleck verwandelt. In diesem letzten und vollständigen Zustande kann man die Cirripeden als höher oder tiefer organisirt betrachten, als sie im Larvenstande gewesen sind. In einigen ihrer Gattungen jedoch entwickeln sich die Larven entweder zu Hermaphroditen von der gewöhnlichen Bildung oder zu (von mir so genannten) complementären Männchen; und in diesen letzten ist die Entwickelung sicher zurückgeschritten, denn sie bestehen aus einem bloßen Sack mit kurzer Lebensfrist, ohne Mund, Magen oder anderes wichtiges Organ, das der Reproduction ausgenommen.

Wir sind so sehr gewöhnt, Structurverschiedenheiten zwischen Embryonen und erwachsenen Organismen zu sehen, daß wir uns veranlaßt fühlen, diese Erscheinung als in gewisser Weise nothwendig mit dem Wachsthum zusammentreffend zu betrachten. Inzwischen ist doch kein Grund einzusehen, warum der Plan z. B. zum Flügel der Fledermaus oder zum Ruder des Tümmlers mit allen ihren Theilen in angemessener Proportion nicht schon im Embryo entworfen worden sein soll, sobald nur irgend eine Structur in demselben sichtbar wurde. Und in einigen ganzen Thiergruppen sowohl als in gewissen Gliedern anderer Gruppen ist dies der Fall und weicht der Embryo zu keiner Zeit seines Lebens weit vom Erwachsenen ab; so hat Owen in Bezug [527] auf die Tintenfische bemerkt: „da ist keine Metamorphose; der Cephalopodencharacter ist deutlich da, schon weit früher als die Theile des Embryos vollständig sind.“ Land-Mollusken und Süßwasser-Crustaceen werden in der ihnen eigenen Form geboren, während die marinen Formen dieser beiden großen Classen beträchtliche und oft sehr große Entwickelungsveränderungen durchlaufen. Ferner erleiden die Spinnen kaum irgend eine Metamorphose. Bei fast allen Insecten durchlaufen die Larven, mögen sie nun thätig und den verschiedenst gestalteten Lebensarten angepaßt sein oder unthätig bleiben, dabei von ihren Eltern gefüttert oder mitten in die ihnen angemessene Nahrung hineingesetzt werden, eine ähnliche wurmförmige Entwickelungsstufe; in einigen wenigen Fällen aber ist, wie bei Aphis, nach den trefflichen Zeichnungen Huxley’s über die Entwickelung dieses Insects, kaum eine Spur dieses wurmförmigen Zustandes zu finden.

In manchen Fällen fehlen nur die früheren Entwickelungsstufen. So hat Fritz Müller die merkwürdige Entdeckung gemacht, daß gewisse garneelenartige Crustaceen (mit Penaeus verwandt) zuerst in der einfachen Nauplius-Form erscheinen, dann zwei oder drei Zoëa-Stufen, dann die Mysis-Form durchlaufen und endlich die reife Form erlangen. Nun kennt man in der ganzen enormen Classe der Malakostraken, zu denen diese Kruster gehören, bis jetzt keine Form, die zuerst eine Nauplius-Form entwickelte, obschon sehr viele als Zoëa erscheinen. Demungeachtet belegt Müller seine Ansicht mit Gründen, daß alle Crustaceen als Nauplii erschienen sein würden, wenn keine Unterdrückung der Entwickelung eingetreten wäre.

Wie sind aber dann diese verschiedenen Erscheinungen der Embryologie zu erklären? – nämlich: die sehr gewöhnliche, wenn auch nicht allgemeine Verschiedenheit der Organisation des Embryos und des Erwachsenen? – die in einer früheren Periode bestehende Gleichheit der verschiedenen Theile desselben individuellen Embryo, welche schließlich sehr ungleich werden und verschiedenen Zwecken dienen? – die fast allgemeine obschon nicht ausnahmslose Ähnlichkeit zwischen Embryonen oder Larven der verschiedensten Species einer und derselben Classe? – das Bestehenbleiben von Bildungen am Embryo, so lange er sich im Ei oder dem mütterlichen Körper findet, welche weder zu dieser noch späteren Periode des Lebens für ihn von Nutzen sind, während Larven, welche für sich selbst zu sorgen haben, den umgebenden Bedingungen vollkommen angepaßt sind? – und endlich [528] die Thatsache, daß gewisse Larven höher auf der Stufenleiter der Organisation stehen, als die reifen Thiere, zu denen sie sich entwickeln? Ich glaube, daß sich alle diese Erscheinungen auf folgende Weise erklären lassen.

Gewöhnlich nimmt man an, vielleicht weil Monstrositäten sich oft sehr früh am Embryo zu zeigen beginnen, daß geringe Abänderungen oder individuelle Verschiedenheiten nothwendig in einer gleichmäßig frühen Periode des Embryos zum Vorschein kommen. Doch haben wir dafür wenig Beweise, und diese weisen sogar eher auf das Gegentheil; denn es ist bekannt, daß die Züchter von Rindern, Pferden und verschiedenen Thieren der Liebhaberei erst eine gewisse Zeit nach der Geburt des jungen Thieres zu sagen im Stande sind, welche Form oder Vorzüge es schließlich zeigen wird. Wir sehen dies deutlich bei unseren eigenen Kindern; wir können nicht immer sagen, ob die Kinder von schlanker oder gedrungener Figur sein oder wie sie sonst genau aussehen werden. Die Frage ist nicht: in welcher Lebensperiode eine Abänderung verursacht worden ist, sondern in welcher die Wirkungen in die Erscheinung treten werden. Die Ursache kann schon gewirkt haben und hat nach meiner Meinung gewöhnlich gewirkt auf Vater oder Mutter oder auf beide Eltern vor der Reproduction. Es verdient Beachtung, daß es für ein sehr junges Thier, so lange es noch im Mutterleibe oder im Ei eingeschlossen ist oder von seinen Eltern genährt und geschützt wird, von keiner Bedeutung ist, ob es die meisten Charactere etwas früher oder später im Leben erlangt. Es würde z. B. für einen Vogel, der sich sein Futter am besten mit einem stark gekrümmten Schnabel verschafft, gleichgültig sein, ob er die entsprechende Schnabelform schon bekömmt, so lange er noch von seinen Eltern gefüttert wird, oder nicht.

Ich habe im ersten Capitel angeführt, daß eine Abänderung, die in irgend welcher Lebenszeit der Eltern zuerst zum Vorschein kommt, sich auch in gleichem Alter wieder beim Jungen zu zeigen strebt. Gewisse Abänderungen können nur in sich entsprechenden Altern wieder erscheinen, wie z. B. die Eigenthümlichkeiten der Raupe oder des Coccons oder des Imago des Seidenschmetterlings, oder der Hörner des fast erwachsenen Rindes. Aber auch außerdem streben Abänderungen, welche nach Allem, was wir wissen, einmal früher oder später im Leben eingetreten sein könnten, im entsprechenden Alter des Nachkommen wieder zu erscheinen. Ich bin weit entfernt zu glauben, daß [529] dies unabänderlich der Fall ist, und könnte selbst eine gute Anzahl von Ausnahmefällen anführen, wo Abänderungen (im weitesten Sinne des Wortes genommen) im Kinde früher als in den Eltern eingetreten sind.

Diese zwei Principien, daß nämlich unbedeutende Abänderungen allgemein zu einer nicht sehr frühen Lebensperiode eintreten und zu einer entsprechenden nicht frühen Periode vererbt werden, erklären, wie ich glaube, alle oben aufgezählten Haupterscheinungen in der Embryologie. Doch, sehen wir uns zuerst nach einigen analogen Fällen bei unseren Hausthiervarietäten um. Einige Autoren, die über den Hund geschrieben, behaupten, der Windhund und der Bullenbeißer seien, wenn auch noch so verschieden von Aussehen, in der That sehr nahe verwandte Varietäten, vom nämlichen wilden Stamme entsprossen. Ich war daher begierig zu erfahren, wie weit ihre neugeworfenen Jungen von einander abweichen. Züchter sagten mir, daß sie beinahe eben so verschieden seien wie ihre Eltern; und nach dem Augenschein war dies auch ziemlich der Fall. Aber bei wirklicher Ausmessung der alten Hunde und der 6 Tage alten Jungen fand ich, daß diese letzten entfernt noch nicht die abweichenden Maßverhältnisse angenommen hatten. Ebenso vernahm ich, daß die Füllen des Karren- und des Rennpferdes, – zwei Rassen, welche fast gänzlich durch Zuchtwahl im Zustande der Domestication gebildet worden sind –, eben so sehr wie die erwachsenen Thiere von einander abweichen. Als ich aber sorgfältige Ausmessungen an den Müttern und den drei Tage alten Füllen eines Renners und eines Karrengauls vornahm, fand ich, daß dies keineswegs der Fall ist.

Da wir entscheidende Beweise dafür besitzen, daß die verschiedenen Haustaubenrassen von nur einer wilden Art herstammen, so verglich ich junge Tauben verschiedener Rassen 12 Stunden nach dem Ausschlüpfen miteinander; ich maß die Größenverhältnisse (wovon ich die Einzelnheiten hier nicht mittheilen will) des Schnabels, der Weite des Mundes, der Länge der Nasenlöcher und der Augenlider, der Läufe und Zehen sowohl beim wilden Stamme, als bei Kröpfern, Pfauentauben, Runt- und Barbtauben, Drachen- und Botentauben und Purzlern. Einige von diesen Vögeln weichen nun im reifen Zustande so außerordentlich in der Länge und Form des Schnabels und in anderen Characteren von einander ab, daß man sie, wären sie natürliche Erzeugnisse, zweifelsohne in ganz verschiedene Genera bringen würde. [530] Wenn man aber die Nestlinge dieser verschiedenen Rassen in eine Reihe ordnet, so erscheinen, obwohl man die meisten derselben eben noch von einander unterscheiden kann, die Verschiedenheiten ihrer Proportionen in den genannten Beziehungen, unvergleichbar geringer, als in den erwachsenen Vögeln. Einige characteristische Differenzpunkte der Alten, wie z. B. die Weite des Mundspaltes, sind an den Jungen noch kaum zu entdecken. Ich fand nur eine merkwürdige Ausnahme von dieser Regel, indem die Jungen des kurzstirnigen Purzlers von den Jungen der wilden Felstaube und der andern Rassen in allen Maßverhältnissen fast genau ebenso verschieden waren, wie im erwachsenen Zustande.

Die zwei oben aufgestellten Principien erklären diese Thatsachen. Liebhaber wählen ihre Pferde, Hunde und Tauben zur Nachzucht aus, wenn sie nahezu erwachsen sind. Es ist ihnen gleichgiltig, ob die verlangten Bildungen und Eigenschaften früher oder später im Leben zum Vorschein kommen, wenn nur das erwachsene Thier sie besitzt. Und die eben mitgetheilten Beispiele insbesondere von den Tauben zeigen, daß die characteristischen Verschiedenheiten, welche den Werth einer jeden Rasse bedingen und durch künstliche Zuchtwahl gehäuft worden sind, nicht allgemein in einer frühen Lebensperiode zum Vorschein gekommen und auch erst in einem entsprechenden späteren Lebensalter auf die Nachkommen vererbt sind. Aber der Fall mit dem kurzstirnigen Purzler, welcher schon in einem Alter von zwölf Stunden seine eigenthümlichen Maßverhältnisse besitzt, beweist, daß dies keine allgemeine Regel ist; denn hier müssen die characteristischen Unterschiede entweder in einer früheren Periode als gewöhnlich erscheinen, oder wenn nicht, statt in dem entsprechenden in einem früheren Alter vererbt worden sein.

Wenden wir nun diese zwei Principien auf die Arten im Naturzustande an. Nehmen wir eine Vogelgruppe an, die von irgend einer alten Form herkommt und durch natürliche Zuchtwahl für verschiedene Lebensweisen modificirt worden ist. Dann werden in Folge der vielen successiven kleinen Abänderungsstufen, welche in einem nicht frühen Alter eingetreten sind und sich in entsprechendem Alter weiter vererbt haben, die Jungen nur wenig modificirt bleiben und sich einander mehr zu gleichen geneigt sein, als es bei den Alten der Fall ist, gerade so wie wir es bei den Tauben gesehen haben. Wir können diese Ansicht auf sehr verschiedene Bildungen und auf ganze Classen ausdehnen. [531] Die vorderen Gliedmaßen z. B., welche der Stammart als Beine gedient haben, mögen in Folge langwährender Modification bei einem Nachkommen zu den Diensten der Hand, bei einem anderen zu denen des Ruders und bei einem dritten zu solchen des Flügels angepaßt worden sein: aber nach den zwei obigen Principien werden die vorderen Gliedmaßen in den Embryonen dieser verschiedenen Formen nicht sehr modificirt worden sein, obschon in jeder die Vordergliedmaßen des reifen Thieres sehr verschieden sind. Was immer für einen Einfluß lange fortgesetzter Gebrauch oder Nichtgebrauch auf die Abänderung der Gliedmaßen oder anderer Theile irgend einer Species gehabt haben mag, so wird ein solcher Einfluß hauptsächlich oder allein das nahezu reife Thier betreffen, welches bereits zu seiner ganzen Thatkraft gelangt ist und sein Leben selbst fristen muß; und die so entstandenen Wirkungen werden sich im entsprechenden nahezu reifen Alter vererben. Das Junge wird daher nicht oder nur wenig durch die Wirkungen des vermehrten Gebrauchs oder Nichtgebrauchs modificirt sein.

In andern Fällen mögen die aufeinander folgenden Abänderungsstufen schon in sehr früher Lebenszeit erfolgen, oder jede solche Stufe wird in einer früheren Lebensperiode vererbt werden, als worin sie zuerst entstanden ist. In beiden Fällen wird das Junge oder der Embryo (wie die Beobachtung am kurzstirnigen Purzler zeigt) der reifen elterlichen Form vollkommen gleichen. Und dies ist in einigen ganzen Thiergruppen oder nur in gewissen Untergruppen die Regel, wie bei den Tintenfischen, Landmollusken, Süßwassercrustaceen, Spinnen, und in einigen Fällen der großen Classe der Insecten. Was nun die Endursache betrifft, warum das Junge in diesen Fällen keine Metamorphose durchläuft, so läßt sich erkennen, daß dies von den folgenden zwei Bedingungen herrührt; erstens davon, daß das Junge schon von sehr früher Entwickelungsstufe an für seine eigenen Bedürfnisse zu sorgen hatte, und zweitens davon, daß es genau dieselbe Lebensweise wie seine Eltern befolgte; denn in diesem Falle würde es für die Existenz der Art unabweislich sein, daß das Kind in derselben Weise wie seine Eltern modificirt würde. In Bezug ferner auf die merkwürdige Thatsache, daß so viele Land- und Süßwasserformen keine Metamorphose durchlaufen, während die marinen Glieder derselben Gruppen verschiedene Umgestaltungen erfahren, so hat Fritz Müller die Vermuthung ausgesprochen, daß der Proceß der langsamen [532] Modification und Anpassung eines Thieres an ein Leben auf dem Lande oder im Süßwasser, statt im Meere, bedeutend dadurch vereinfacht würde, wenn es kein Larvenstadium durchlief; denn es ist nicht wahrscheinlich, daß Plätze in der Natur, die sowohl für Larven, als reife Zustände unter so neuen und bedeutend abgeänderten Lebensweisen geeignet wären, von andern Organismen gar nicht oder schlecht besetzt sein sollten. In diesem Falle würde das allmähliche Erlangen der erwachsenen Structur auf einem früheren und früheren Alter durch die natürliche Zuchtwahl begünstigt, und alle Spuren früherer Metamorphosen würden endlich verloren werden.

Wenn es auf der andern Seite dem Jungen vortheilhaft ist, eine von der elterlichen etwas verschiedene Lebensweise einzuhalten und demgemäß einen etwas abweichenden Bau zu haben, oder wenn es Larven, die bereits von ihren Eltern abweichen, vortheilhaft ist, noch weiter abzuweichen, so kann nach dem Princip der Vererbung in übereinstimmenden Lebenszeiten das Junge oder die Larve durch natürliche Zuchtwahl immer mehr und mehr zu jedem merkbaren Grade von seinen Eltern verschieden werden. Verschiedenheiten in den Larven können auch mit den aufeinander folgenden Stufen ihrer Entwickelung in Correlation treten, so daß die Larve auf ihrer ersten Stufe weit von der Larve auf der zweiten Stufe abweicht, wie es bei so vielen Thieren der Fall ist. Auch das Erwachsene kann sich Lagen und Gewohnheiten anpassen, wo ihm Bewegungs-, Sinnes- oder andere Organe nutzlos werden, und in diesem Falle kann man dessen letzte Metamorphose als eine rückschreitende bezeichnen.

Nach den eben gemachten Bemerkungen läßt sich erkennen, wie durch Abänderungen im Bau der Jungen in Übereinstimmung mit einer Vererbung derselben in correspondirenden Altersstufen Thiere dazu gelangen, von dem ursprünglichen Zustande ihrer erwachsenen Erzeuger vollständig verschiedene Entwickelungszustände zu durchlaufen. Die meisten unserer besten Gewährsmänner sind jetzt überzeugt, daß die verschiedenen Larven- und Puppenzustände von Insecten in dieser Weise durch Adaptation und nicht durch Vererbung von einer alten Form aus erlangt worden sind. Der merkwürdige Fall der Sitaris, eines Käfers, welcher gewisse ungewöhnliche Entwickelungsstufen durchläuft, wird erläutern, wie dies zu Stande kommt. So stellt die erste Larvenform, wie es Fabre beschreibt, ein kleines, lebendiges, mit sechs Füßen, zwei langen Antennen und vier Augen, [533] versehenes Insect dar. Diese Larven kriechen in einem Bienenstocke aus; und wenn die Drohnen im Frühjahr aus ihren Verstecken hervorkommen, was sie vor den Weibchen thun, so springen jene Larven auf sie und benutzen dann die Begattung, um auf die weiblichen Bienen zu kriechen. Sobald die letzteren ihre Eier auf den in den Zellen befindlichen Honig legen, so hüpft die Larve auf das Ei und verzehrt es. Später erfährt sie eine complete Veränderung; die Augen verschwinden, die Füße und Antennen werden rudimentär und sie ernährt sich von Honig. Sie gleicht daher nunmehr den gewöhnlichen Insectenlarven. Endlich unterliegt sie noch weiteren Verwandlungen und erscheint zuletzt als vollkommener Käfer. Wenn nun ein Insect mit ähnlichen Umgestaltungen wie diese Sitaris der Urerzeuger der ganzen großen Insectenclasse werden sollte, so würde wahrscheinlich der allgemeine Verlauf der Entwickelung und besonders der der ersten Larvenstände sehr verschieden von dem der jetzt existirenden Insecten sein. Und sicher würden die ersten Larvenstände nicht den früheren Zustand irgend eines erwachsenen und alten Insectes repräsentirt haben.

Auf der andern Seite ist es sehr wahrscheinlich, daß bei vielen Thiergruppen uns die embryonalen oder Larvenzustände mehr oder weniger vollständig die Form des Urerzeugers der ganzen Gruppe in seinem erwachsenen Zustande zeigen. In der ungeheuren Classe der Crustaceen erscheinen wunderbar von einander verschiedene Formen, wie die saugenden Parasiten, Cirripeden, Entomostraken und selbst der Malacostraken in ihrem ersten Larvenzustand unter einer ähnlichen Nauplius-Form; und da diese Larven im offenen Meere sich ernähren und leben und nicht irgend eigenthümlichen Lebensweisen angepaßt sind, so ist es, wie auch noch nach andern von Fritz Müller angeführten Gründen, wahrscheinlich, daß ein unabhängiges erwachsenes Thier ähnlich einem Nauplius in einer sehr früheren Zeit existirt und später längs mehrerer divergirender Descendenzreihen die verschiedenen obengenannten großen Crustaceengruppen erzeugt hat. So ist es ferner nach dem, was wir von den Embryonen der Säugethiere, Vögel Fische und Reptilien wissen, wahrscheinlich, daß diese Thiere die modificirten Nachkommen irgend eines alten Urerzeugers sind, welcher im erwachsenen Zustande mit Kiemen, einer Schwimmblase, vier flossenartigen Gliedmaßen und einem langen Schwanze, alles für das Leben im Wasser passend, versehen war.

[534] Da alle organischen Wesen, welche noch leben oder jemals auf dieser Erde gelebt haben, in einige wenige große Classen geordnet werden können, und da alle innerhalb jeder Classe, unserer Theorie gemäß, früher durch die feinsten Abstufungen mit einander verkettet gewesen sind, so würde die beste, oder in der That, wenn unsere Sammlungen einigermaßen vollständig wären, die einzig mögliche Anordnung derselben die genealogische sein. Gemeinsame Abstammung ist das geheime Band, welches die Naturforscher unter dem Namen natürliches System gesucht haben. Von dieser Annahme aus können wir begreifen, woher es kommt, daß in den Augen der meisten Naturforscher die Bildung des Embryos für die Classification selbst noch wichtiger als die des Erwachsenen ist. Thiere zweier oder mehrerer Gruppen mögen jetzt im erwachsenen Zustande in Bau und Lebensweise noch so verschieden von einander sein; wenn sie gleiche oder ähnliche Embryostände durchlaufen, so dürfen wir uns überzeugt halten, daß beide von denselben Eltern abstammen und deshalb nahe verwandt sind. So verräth Übereinstimmung in der Embryonalbildung gemeinsame Abstammung; aber Unähnlichkeit in der Embryonalentwickelung beweist noch nicht eine verschiedene Abstammung, denn in einer von zwei Gruppen können die Entwickelungsstufen unterdrückt oder durch Anpassung an neue Lebensweisen so stark modificirt worden sein, daß man sie nicht wieder erkennen kann. Selbst in Gruppen, in welchen die Erwachsenen im äußersten Grade modificirt worden sind, wird die Gemeinsamkeit der Abstammung oft durch die Structur der Larven enthüllt; wir haben z. B. gesehen, daß die Cirripeden, obschon sie äußerlich den Muscheln so ähnlich sind, an ihren Larven sogleich als zur großen Classe der Kruster gehörig erkannt werden können. Da der Bau des Embryo uns im Allgemeinen mehr oder weniger deutlich den Bau ihrer alten noch wenig modificirten Stammform überliefert, so sehen wir auch ein, warum alte und erloschene Lebensformen so oft den Embryonen der heutigen Arten derselben Classe gleichen. Agassiz hält dies für ein allgemeines Naturgesetz; und ich hoffe es später noch bestätigt zu sehen. Es läßt sich indessen nur in den Fällen beweisen, wo der alte Zustand des Erzeugers der Gruppe weder durch successive in einer frühen Wachsthumsperiode erfolgte Abänderungen noch durch Vererbung derartiger Abweichungen auf ein früheres Lebensalter, als worin sie ursprünglich aufgetreten sind, verwischt worden ist. Auch ist zu erwähnen, daß [535] das Gesetz ganz wahr sein und doch, weil sich die geologische Urkunde nicht weit genug rückwärts erstreckt, noch auf lange hinaus oder für immer unbeweisbar bleiben kann. In denjenigen Fällen wird das Gesetz nicht gelten, in denen eine alte Form in ihrem Larvenzustand irgend einer speciellen Lebensweise angepaßt wurde und denselben Larvenzustand einer ganzen Gruppe von Nachkommen überlieferte; denn diese werden in ihrem Larvenzustand dann keiner noch älteren Form im erwachsenen Zustande gleichen.

So scheinen sich mir die leitenden Thatsachen in der Embryologie, welche an Wichtigkeit keinen anderen nachstehen, aus dem Princip zu erklären: daß Modificationen in der langen Reihe von Nachkommen eines frühen Urerzeugers nicht in einem sehr frühen Lebensalter eines jeden derselben erschienen und in einem entsprechenden Alter vererbt worden sind. Die Embryologie gewinnt sehr an Interesse, wenn wir uns so den Embryo als ein mehr oder weniger verblichenes Bild der gemeinsamen Stammform, entweder in ihrer erwachsenen oder Larvenform, aller Glieder derselben großen Thierclasse vorstellen.


Rudimentäre, atrophirte und abortive Organe.

Organe oder Theile in diesem eigenthümlichen Zustande, die den offenbaren Stempel der Nutzlosigkeit tragen, sind in der Natur äußerst gewöhnlich oder selbst allgemein. Es dürfte unmöglich sein, eins der höheren Thiere namhaft zu machen, bei welchen nicht irgend ein Theil sich in einem rudimentären Zustande findet. Bei den Säugethieren besitzen z. B. die Männchen immer rudimentäre Zitzen; bei Schlangen ist der eine Lungenflügel rudimentär; bei Vögeln kann man den Afterflügel getrost als einen verkümmerten Finger ansehen und bei einigen Arten ist der ganze Flügel in so weit rudimentär, daß er nicht zum Fliegen benutzt werden kann. Was kann wohl merkwürdiger sein als die Anwesenheit von Zähnen bei Walembryonen, die im erwachsenen Zustande nicht einen Zahn im ganzen Kopfe haben, und das Dasein von Schneidezähnen im Oberkiefer unserer Kälber vor der Geburt, welche aber niemals das Zahnfleisch durchbrechen?

Rudimentäre Organe lassen ihren Ursprung und ihre Bedeutung auf verschiedene Weise deutlich erkennen. So gibt es Käfer, welche zu nahe verwandten Arten oder selbst zu einer und derselben identischen [536] Art gehören, welche entweder vollkommene Flügel von voller Größe oder bloß äußerst kleine häutige Rudimente, die nicht selten unter den Flügeldecken fest miteinander verwachsen, besitzen; und in diesen Fällen ist es unmöglich zu zweifeln, daß diese Rudimente die Flügel vertreten. Rudimentäre Organe behalten zuweilen noch die Möglichkeit ihrer Functionirung; dies scheint bei den Brustdrüsen männlicher Säugethiere gelegentlich der Fall zu sein, von welchen man weiß, daß sie zuweilen sich wohl entwickelt und Milch abgesondert haben. So haben ferner die Weibchen der Gattung Bos gewöhnlich vier entwickelte und zwei rudimentäre Zitzen am Euter; aber bei unserer zahmen Kuh entwickeln sich zuweilen auch die zwei letzten und geben Milch. Bei Pflanzen sind zuweilen bei Individuen einer und der nämlichen Species die Kronenblätter bald nur als Rudimente und bald in ganz ausgebildetem Zustande vorhanden. Bei gewissen diöcischen Pflanzen fand Kölreuter, daß sich nach der Kreuzung einer Art, bei welcher die männlichen Blüthen ein rudimentäres Pistill hatten, mit einer hermaphroditen Species, deren Blüthen natürlich ein entwickeltes Pistill besitzen, das Rudiment in den Bastardnachkommen oft bedeutend vergrößert habe; und dies beweist deutlich, daß die rudimentären und vollkommenen Pistille der Natur nach wesentlich gleich sind. Ein Thier kann verschiedene Theile im vollkommenen Zustande besitzen, und doch können sie in einem gewissen Sinne rudimentär sein, da sie nutzlos sind. So hat die Larve des gewöhnlichen Wassersalamander oder Triton, wie G. H. Lewes bemerkt, „Kiemen und verbringt ihr Leben unter Wasser, aber die Salamandra atra, welche hoch oben im Gebirge lebt, bringt vollständig ausgebildete Junge hervor. Dies Thier lebt niemals im Wasser. Oeffnen wir indeß ein trächtiges Weibchen, so finden wir innerhalb desselben Larven mit ausgezeichneten gefiederten Kiemen; und bringt man diese in Wasser, so schwimmen sie ebenso herum wie die Larven des Wassersalamanders. Offenbar hat diese auf Wasserleben eingerichtete Organisation keine Beziehung zum künftigen Leben des Thieres, ebenso wenig ist sie eine Anpassung an einen embryonalen Zustand; sie hat allein Bezug auf vorelterliche Anpassungen, sie wiederholt eine Entwickelungsphase der Urerzeuger.“

Ein zweierlei Verrichtungen dienendes Organ kann für die eine und sogar die wichtigere derselben rudimentär werden oder ganz fehlschlagen und in voller Wirksamkeit für die andere bleiben. So ist [537] die Bestimmung des Pistills die, den Pollenschläuchen zu gestatten, die in dem Ovarium an seiner Basis enthaltenen Eichen zu erreichen. Das Pistill besteht aus der vom Griffel getragenen Narbe; bei einigen Compositen jedoch haben die männlichen Blüthchen, welche natürlich nicht befruchtet werden können, ein Pistill in rudimentärem Zustande, indem es keine Narbe besitzt; und doch bleibt es sonst wohl entwickelt und wie in andern Compositen mit Haaren überzogen, um den Pollen von den umgebenden und vereinigten Antheren abzustreifen. So kann auch ein Organ für seine eigentliche Bestimmung rudimentär werden und für einen anderen Zweck benutzt werden; so scheint in gewissen Fischen die Schwimmblase für ihre eigentliche Verrichtung, den Fisch im Wasser flottirend zu erhalten, beinahe rudimentär zu werden, indem sie in ein Athmungsorgan oder eine Lunge überzugehen beginnt. Es könnten noch viele andere ähnliche Beispiele angeführt werden.

Noch so wenig entwickelte, aber doch brauchbare Organe sollten nicht rudimentär genannt werden, wenn wir nicht Grund zur Vermuthung haben, daß sie früher höher entwickelt waren; sie können für „werdende“ Organe gelten und im Fortgange zu weiterer Entwickelung. Dagegen sind rudimentäre Organe entweder vollständig nutzlos: wie Zähne, welche niemals das Zahnfleisch durchbrechen, oder beinahe nutzlos, wie die Flügel des Straußes, die nur als Segel dienen. Da Organe in diesem Zustande früher, wo sie noch weniger entwickelt wären, von noch geringerem Nutzen gewesen wären als jetzt, so können sie auch früher nicht durch Variation und natürliche Zuchtwahl gebildet worden sein, welche bloß durch Erhaltung nützlicher Abänderungen wirkt. Sie weisen nur auf einen früheren Zustand ihres Besitzers hin und sind theilweise nur durch Vererbung erhalten worden. Es ist indessen schwer zu erkennen, welche Organe rudimentäre und welche „werdende“ sind; denn wir können nur nach Analogie urtheilen, ob ein Theil weiterer Entwickelung fähig ist, in welchem Falle allein er ein werdender genannt zu werden verdient. Organe in diesem Zustande werden immer selten sein; denn es werden Geschöpfe mit werdenden Organen gewöhnlich durch ihre Nachkommen mit Organen in vollkommenerem und entwickelterem Zustande ersetzt worden und folglich schon vor langer Zeit ausgestorben sein. Der Flügelstummel des Pinguins ist als Ruder von großem Nutzen und mag daher den beginnenden Vogelflügel vorstellen; nicht als ob [538] ich glaubte, daß er es wirklich sei, denn wahrscheinlich ist er ein reducirtes und für eine neue Bestimmung hergerichtetes Organ. Der Flügel des Apteryx andererseits ist völlig nutzlos und wirklich rudimentär. Die einfachen fadenförmigen Gliedmaßen des Lepidosiren betrachtet Owen als „die Anfänge von Organen, welche bei höheren Wirbelthieren eine vollständige functionelle Entwickelung erreichen;“ nach der neuerdings von Dr. Günther vertheidigten Ansicht sind sie aber wahrscheinlich Überreste, die aus dem beständigen Achsentheile der Flosse bestehen, deren seitliche Strahlen oder Aeste abortirt sind. Die Milchdrüsen der Ornithorhynchus können vielleicht, mit denen der Kuh verglichen, als werdende bezeichnet werden. Die Eierzügel gewisser Cirripeden, welche nur wenig entwickelt sind und nicht mehr zur Befestigung der Eier dienen, sind werdende Kiemen.

Rudimentäre Organe variiren sehr gern in ihrer Entwickelungsstufe sowohl als in anderen Beziehungen in Individuen einer nämlichen Art. Außerdem ist der Grad, bis zu welchem das Organ rudimentär geworden, in nahe verwandten Arten zuweilen sehr verschieden. Für diesen letzten Fall liefert der Zustand der Flügel bei einigen zu der nämlichen Familie gehörigen weiblichen Nachtschmetterlingen ein gutes Beispiel. Rudimentäre Organe können gänzlich fehlschlagen oder abortiren, und daher rührt es dann, daß wir bei gewissen Thieren oder Pflanzen nicht einmal eine Spur mehr von einem Organe finden, welches wir nach Analogie dort zu erwarten berechtigt sind und nur zuweilen noch in monströsen Individuen der Species hervortreten sehen. So ist bei den meisten Scrophularinen das fünfte Staubgefäß völlig abortirt; doch können wir schließen, daß ein fünfter Staubfaden früher existirte; denn in vielen Arten der Familie findet sich ein Rudiment eines solchen und dies Rudiment kommt zuweilen vollständig entwickelt zum Vorschein, wie es beim gemeinen Löwenmaul zu sehen ist. Wenn man die Homologien eines Theiles in den verschiedenen Gliedern einer Classe verfolgt, so ist nichts gewöhnlicher oder, um die Beziehungen der Theile zu einander ordentlich zu verstehen, nützlicher, als die Entdeckung von Rudimenten. R. Owen hat dies ganz gut in Zeichnungen der Beinknochen des Pferdes, des Ochsens und des Nashorns dargestellt.

Es ist eine wichtige Thatsache, daß rudimentäre Organe, wie die Zähne im Oberkiefer der Wale und Wiederkäuer, oft im Embryo zu entdecken sind und nachher völlig verschwinden. Auch ist es, glaube [539] ich, eine allgemeine Regel, daß ein rudimentäres Organ den angrenzenden Theilen gegenüber im Embryo größer als im Erwachsenen erscheint, so daß das Organ im Embryo minder rudimentär ist und oft kaum als irgendwie rudimentär bezeichnet werden kann. Daher sagt man oft von einem rudimentären Organ, es sei auf seiner embryonalen Entwickelungsstufe auch im Erwachsenen stehen geblieben.

Ich habe jetzt die leitenden Thatsachen in Bezug auf rudimentäre Organe aufgeführt. Bei weiterem Nachdenken darüber muß jeder von Erstaunen betroffen werden; denn dieselbe Urtheilskraft, welche uns so deutlich erkennen läßt, wie vortrefflich die meisten Theile und Organe gewissen Bestimmungen angepaßt sind, lehrt uns auch mit gleicher Deutlichkeit, daß diese rudimentären und atrophirten Organe unvollkommen und nutzlos sind. In den naturgeschichtlichen Werken liest man gewöhnlich, daß die rudimentären Organe nur der „Symmetrie wegen“ oder „um das Schema der Natur zu ergänzen“ vorhanden sind; dies scheint mir aber keine Erklärung, sondern nur eine Umschreibung der Thatsache zu sein. Auch ist es nicht consequent durchzuführen: so hat die Boa constrictor Rudimente der Hintergliedmaßen und des Beckens, und wenn man nun sagt, daß diese Knochen erhalten worden sind, „um das natürliche Schema zu vervollständigen“, warum, wie Prof. Weismann frägt, sind sie nicht bei andern Schlangen erhalten worden, welche nicht einmal eine Spur dieser Knochen besitzen? Was würde man von einem Astronomen denken, welcher behaupten wollte, weil Planeten in elliptischen Bahnen laufen, so nehmen Satelliten denselben Lauf um die Planeten nur der Symmetrie wegen? Ein ausgezeichneter Physiolog sucht das Vorkommen rudimentärer Organe durch die Annahme zu erklären, daß sie dazu dienen, überschüssige oder dem Systeme schädliche Materie auszuscheiden. Aber kann man denn annehmen, daß das kleine nur aus Zellgewebe bestehende Wärzchen, welches in männlichen Blüthen oft die Stelle des Pistills vertritt, dies zu bewirken vermöge? Kann man annehmen, daß die Bildung rudimentärer Zähne, die später wieder resorbirt werden, dem in raschem Wachsen begriffenen Kalbsembryo durch Ausscheidung der ihm so werthvollen phosphorsauren Kalkerde von irgend welchem Nutzen sein könne? Wenn ein Mensch durch Amputation einen Finger verliert, so kommt an den Stummeln zuweilen ein unvollkommener Nagel wieder zum Vorschein. Man könnte nun gerade so gut glauben, daß dieses Rudiment nur um [540] Hornmaterie auszuscheiden wieder erscheine, wie daß die Nagelstummel an den Ruderfüßen des Manati dazu bestimmt wären.

Nach meiner Annahme einer Fortpflanzung mit Abänderung erklärt sich die Entstehung rudimentärer Organe vergleichsweise einfach und wir können in ziemlich weitem Grade die ihre unvollkommene Entwickelung regelnden Gesetze einsehen. Wir kennen eine Menge Beispiele von rudimentären Organen bei unseren Culturerzeugnissen, wie den Schwanzstummel in ungeschwänzten Rassen, den Ohrstummel in ohrlosen Rassen bei Schafen, das Wiedererscheinen kleiner nur in der Haut hängender Hörner bei ungehörnten Rinderrassen und besonders nach Youatt, bei jungen Thieren derselben, und den Zustand der ganzen Blüthe im Blumenkohl. Oft sehen wir auch Stummel verschiedener Art bei Misgeburten. Aber ich bezweifle, daß einer von diesen Fällen geeignet ist, die Bildung rudimentärer Organe in der Natur weiter zu beleuchten, als daß er uns zeigt, daß Stummel entstehen können; denn wägt man die Beweise gegen einander ab, so erfolgt deutlich ein Ausschlag nach der Seite der Annahme hin, daß Arten im Naturzustande keinen großen und plötzlichen Veränderungen unterliegen. Aus dem Studium unserer Culturerzeugnisse lernen wir aber, daß der Nichtgebrauch der Theile zu einer Reduction ihrer Größe führt, und daß dieses Resultat vererbt wird.

Allem Anscheine nach hat hauptsächlich Nichtgebrauch die Organe rudimentär gemacht. Zuerst wird er in langsamen Schritten zu einer immer vollständigeren Reduction eines Theiles führen, bis er endlich rudimentär wird, so bei den Augen in dunklen Höhlen lebender Thiere, und bei den Flügeln oceanische Inseln bewohnender Vögel, welche selten durch Raubthiere zum Fliegen gezwungen werden und daher dieses Vermögen zuletzt gänzlich einbüßen. Ebenso kann ein unter gewissen Umständen nützliches Organ unter anderen Umständen sogar nachtheilig werden, wie die Flügel der auf kleinen und exponirten Inseln lebenden Insecten. In diesem Falle wird natürliche Zuchtwahl fortwährend dazu beigetragen haben, das Organ langsam zu reduciren, bis es unschädlich und rudimentär wird.

Eine jede Änderung im Bau und in den Verrichtungen, welche in unmerkbaren Abstufungen eintreten kann, liegt im Wirkungsbereiche der natürlichen Zuchtwahl; daher ein Organ, welches in Folge geänderter Lebensweise nutzlos oder nachtheilig für eine Bestimmung wird, abgeändert und für andere Verrichtungen verwendet werden [541] kann. Oder ein Organ wird nur noch für eine von seinen früheren Verrichtungen beibehalten. Ein ursprünglich durch natürliche Zuchtwahl gebildetes, aber nutzlos gewordenes Körperglied mag veränderlich sein, weil seine Abänderungen nicht mehr durch natürliche Zuchtwahl aufgehalten werden können. Alles dies stimmt ganz wohl mit dem überein, was wir im Naturzustande sehen. In welchem Lebensabschnitte überdies auch ein Organ durch Nichtbenützung oder Züchtung reducirt werden mag (und dies wird gewöhnlich erst der Fall sein, wenn das Thier zu seiner vollen Reife und Thatkraft gelangt ist): so wird das Princip der Vererbung in sich entsprechenden Altern dieses Organ in reducirtem Zustande stets im nämlichen reifen Alter wieder erscheinen zu lassen streben und es mithin nur selten im Embryo afficiren. So erklärt sich mithin die beträchtlichere Größe rudimentärer Organe im Embryo im Verhältnis zu den benachbarten Theilen und deren relativ geringere Größe im Erwachsenen. Wenn z. B. die Zehe eines erwachsenen Thieres viele Generationen lang in Folge irgend einer Änderung der Lebensweise immer weniger und weniger benutzt wurde, oder wenn ein Organ oder eine Drüse immer weniger und weniger functionell thätig war, so können wir schließen, daß der Theil bei den erwachsenen Nachkommen dieses Thieres an Größe reducirt sein wird, aber seinen ursprünglichen Entwickelungsmodus im Embryo nahezu beibehalten wird.

Es bleibt indeß noch eine Schwierigkeit übrig. Wenn ein Organ nicht mehr benutzt wird und in Folge dessen bedeutend reducirt worden ist, wie kann es nun immer weiter reducirt werden, bis endlich nur eine Spur von ihm übrig bleibt; und wie kann es endlich völlig fehlschlagen? Es ist kaum möglich, daß Nichtgebrauch noch irgend eine weitere Wirkung äußern kann, nachdem das Organ einmal functionslos gemacht worden war. Hier ist noch irgend eine weitere Erklärung nothwendig, welche ich nicht geben kann. Wenn es z. B. bewiesen werden könnte, daß jeder Theil der Organisation in einem höheren Grade nach einer Größenverminderung hin als nach einer Größenzunahme zu variiren strebe, dann würden wir zu verstehen im Stande sein, auf welche Weise ein nutzlos gewordenes Organ unabhängig von den Wirkungen des Nichtgebrauchs rudimentär gemacht und schließlich vollständig unterdrückt würde; denn die nach einer Größenabnahme hinwirkenden Abänderungen würden nicht mehr durch natürliche Zuchtwahl aufgehalten werden. Das in einem [542] früheren Capitel erläuterte Princip der Ökonomie, wonach die zur Bildung eines dem Besitzer nicht mehr nützlichen Theiles verwendeten Bildungsstoffe so weit als möglich erspart werden, kommt vielleicht beim Rudimentärwerden eines nutzlosen Theils mit ins Spiel. Dies Princip wird aber beinahe nothwendig auf die früheren Stadien des Reductionsprocesses beschränkt sein; denn wir können nicht annehmen, daß z. B. eine äußerst kleine Papille, welche in einer männlichen Blüthe das Pistill der weiblichen Blüthe repräsentirt und bloß aus Zellgewebe besteht, noch weiter reducirt oder absorbirt werden könne, um Nahrung zu ersparen.

Da endlich rudimentäre Organe, durch was für Stufen sie auch auf ihren jetzigen nutzlosen Zustand herabgebracht worden sein mögen, die Geschichte eines früheren Zustandes der Dinge erzählen und nur durch das Vererbungsvermögen beibehalten worden sind, so wird es aus dem Gesichtspunkte einer genealogischen Classification begreiflich, wie es komme, daß Systematiker beim Einordnen der Organismen an ihre richtigen Stellen im natürlichen Systeme die rudimentären Organe für ihren Zweck zuweilen ebenso nützlich oder selbst nützlicher befunden haben, als die Theile von hoher physiologischer Wichtigkeit. Rudimentäre Organe kann man mit den Buchstaben eines Wortes vergleichen, welche beim Buchstabiren desselben noch beibehalten, aber nicht mit ausgesprochen werden und bei Nachforschungen über dessen Ursprung als vortreffliche Führer dienen. Nach der Annahme einer Descendenz mit Abänderung können wir schließen, daß das Vorkommen von Organen in einem verkümmerten, unvollkommenen und nutzlosen Zustande und deren gänzliches Fehlschlagen, statt wie bei der gewöhnlichen Theorie der Schöpfung große Schwierigkeiten zu bereiten, vielmehr nach den hier erörterten Gesichtspunkten vorauszusehen war.


Zusammenfassung.

Ich habe in diesem Capitel zu zeigen gesucht, daß die Anordnung aller organischen Wesen aller Zeiten in einander untergeordneten Gruppen, – daß die Natur der Beziehungen, nach welchen alle lebenden und erloschenen Wesen durch zusammengesetzte, strahlenförmige und oft sehr mittelbar zusammenhängende Verwandtschaftslinien in einige wenige große Classen vereinigt werden, – daß die von den Naturforschern bei ihren Classificationen befolgten Regeln und sich [543] darbietenden Schwierigkeiten, – daß der auf die beständigen und andauernden Charactere gelegte Werth, gleichviel ob sie für die Lebensverrichtungen von großer oder, wie die der rudimentären Organe, von gar keiner Wichtigkeit sind, – daß der weite Unterschied im Werthe zwischen analogen oder Anpassungs- und wahren Verwandtschaftscharacteren: – daß alle diese und noch viele andere solcher regelmäßigen Erscheinungen sich naturgemäß aus der Annahme einer gemeinsamen Abstammung verwandter Formen und deren Modification durch Abänderung und natürliche Zuchtwahl in Begleitung von Erlöschung und von Divergenz des Characters herleiten lassen. Von diesem Standpunkte aus die Classification beurtheilend, muß man sich erinnern, daß das Element der Abstammung allgemein berücksichtigt wird, wenn man die beiden Geschlechter, Alterszustände, dimorphe Formen und die anerkannten Varietäten, wie verschieden von einander sie auch in ihrem Baue sein mögen, alle in eine Art zusammenordnet. Wenn wir nun die Anwendung dieses Elementes der Descendenz als die einzige mit Sicherheit erkannte Ursache von der Ähnlichkeit organischer Wesen unter einander etwas weiter ausdehnen, so wird uns die Bedeutung des natürlichen Systems klarer werden; es ist genealogisch in seiner Anordnung, worin die Grade der Verschiedenheiten, in welche die einzelnen Verzweigungen auseinander gelaufen sind, mit den Kunstausdrücken Varietäten, Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Classen bezeichnet werden.

Indem wir von derselben Annahme einer Fortpflanzung mit Abänderung ausgehen, werden uns alle großen Haupterscheinungen in der Morphologie erklärlich: sowohl das gemeinsame Modell, wornach die homologen Organe, zu welchem Zwecke sie auch immer bestimmt sein mögen, bei allen Arten einer Classe gebildet sind, als die Reihen- und seitlichen Homologien eines jeden Pflanzen- oder Thierindividuums.

Die großen leitenden Thatsachen in der Embryologie erklären sich aus dem Princip, daß successive geringe Abänderungen nicht nothwendig oder allgemein schon in einer sehr frühen Lebenszeit eintreten und sich in entsprechendem Alter weiter vererben. So die Ähnlichkeit der homologen Theile in einem Embryo, welche im reifen Alter in Form und Verrichtungen weit auseinander gehen, – und die Ähnlichkeit der homologen Theile oder Organe in verwandten, wenn auch sehr verschiedenen Arten, wenn sie auch in den erwachsenen Thieren den möglichst verschiedenen Zwecken dienen. Larven sind [544] active Embryonen, welche in einem bedeutenderen oder geringeren Grade in Bezug auf ihre Lebensweisen speciell modificirt worden sind und diese Modification zu entsprechenden Altersstufen vererbt haben. Nach diesen nämlichen Principien und in Betracht, daß, wenn Organe in Folge von Nichtgebrauch oder von Züchtung in Größe reducirt werden, dies gewöhnlich in derjenigen Lebensperiode geschieht, wo das Wesen für seine Bedürfnisse selbst zu sorgen hat, und in fernerem Betracht, wie streng das Walten des Erblichkeitsprincips ist, hätte das Vorkommen rudimentärer Organe selbst vorausgesehen werden können. Die Wichtigkeit embryonaler Charactere und rudimentärer Organe für die Classification wird aus der Ausnahme verständlich, daß eine natürliche Anordnung genealogisch sein muß.

Endlich scheinen mir die verschiedenen Classen von Thatsachen, welche in diesem Capitel in Betracht gezogen worden sind, so deutlich auszusprechen, daß die zahllosen Arten, Gattungen und Familien organischer Wesen, womit diese Welt bevölkert ist, allesammt und jedes wieder in seiner eigenen Classe oder Gruppe insbesondere, von gemeinsamen Eltern abstammen und im Laufe der Descendenz modificirt worden sind, daß ich dieser Anschauungsweise ohne Zögern folgen würde, selbst wenn ihr keine sonstigen Thatsachen und Argumente mehr zu Hilfe kämen.

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