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Classe in den verwickeltsten und strahlenförmig auseinanderlaufenden Verwandtschaftslinien miteinander verkettet sind. Wir werden wahrscheinlich niemals das verwickelte Verwandtschaftsgewebe zwischen den Gliedern irgend einer Classe entwirren; wenn wir jedoch einen einzelnen Gegenstand in’s Auge fassen und nicht nach irgend einem unbekannten Schöpfungsplane ausschauen, so dürfen wir hoffen, sichere aber langsame Fortschritte zu machen.

Professor Häckel hat in seiner ‚Generellen Morphologie’ und in mehreren anderen Werken neuerdings sein grosses Wissen und Geschick darauf verwandt, das, was er Phylogenie oder die Descendenzlinien aller organischen Wesen nennt, zu ermitteln. Beim Verfolgen der einzelnen Reihen verläßt er sich hauptsächlich auf embryologische Charactere, zieht aber ebenso gut homologe und rudimentäre Organe wie auch die Perioden, in welchen, wie man annimmt, die verschiedenen Lebensformen in unseren geologischen Formationen nacheinander aufgetreten sind, zu Hülfe. Er hat damit kühn einen ersten Anfang gemacht und zeigt uns, wie die Classification künftig zu behandeln sein wird.


Morphologie.

Wir haben gesehen, daß die Glieder einer und derselben Classe, unabhängig von ihrer Lebensweise, einander im allgemeinen Plane ihrer Organisation gleichen. Diese Übereinstimmung wird oft mit dem Ausdrucke „Einheit des Typus“ bezeichnet; oder man sagt, die einzelnen Theile und Organe der verschiedenen Species einer Classe seien einander homolog. Der ganze Gegenstand wird unter dem Namen Morphologie begriffen. Dies ist einer der interessantesten Theile der Naturgeschichte und kann deren wahre Seele genannt werden. Was kann es Sonderbareres geben, als daß die Greifhand des Menschen, der Grabfuß des Maulwurfs, das Rennbein des Pferdes, die Ruderflosse der Seeschildkröte und der Flügel der Fledermaus sämmtlich nach demselben Modell gebaut sind und gleiche Knochen in der nämlichen gegenseitigen Lage enthalten. Wie merkwürdig ist es, um ein untergeordnetes, wenn auch auffallendes Beispiel zu geben, daß der Hinterfuß des Känguruhs, welcher für das Springen über die offenen Ebenen, der des kletternden, blattfressenden Koala, der gleicherweise zum Ergreifen der Zweige gut angepaßt ist, der des auf der Erde lebenden, Insecten und Wurzeln fressenden Bandicoots und der einiger andern

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 516. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/526&oldid=- (Version vom 31.7.2018)