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ich, eine allgemeine Regel, daß ein rudimentäres Organ den angrenzenden Theilen gegenüber im Embryo größer als im Erwachsenen erscheint, so daß das Organ im Embryo minder rudimentär ist und oft kaum als irgendwie rudimentär bezeichnet werden kann. Daher sagt man oft von einem rudimentären Organ, es sei auf seiner embryonalen Entwickelungsstufe auch im Erwachsenen stehen geblieben.

Ich habe jetzt die leitenden Thatsachen in Bezug auf rudimentäre Organe aufgeführt. Bei weiterem Nachdenken darüber muß jeder von Erstaunen betroffen werden; denn dieselbe Urtheilskraft, welche uns so deutlich erkennen läßt, wie vortrefflich die meisten Theile und Organe gewissen Bestimmungen angepaßt sind, lehrt uns auch mit gleicher Deutlichkeit, daß diese rudimentären und atrophirten Organe unvollkommen und nutzlos sind. In den naturgeschichtlichen Werken liest man gewöhnlich, daß die rudimentären Organe nur der „Symmetrie wegen“ oder „um das Schema der Natur zu ergänzen“ vorhanden sind; dies scheint mir aber keine Erklärung, sondern nur eine Umschreibung der Thatsache zu sein. Auch ist es nicht consequent durchzuführen: so hat die Boa constrictor Rudimente der Hintergliedmaßen und des Beckens, und wenn man nun sagt, daß diese Knochen erhalten worden sind, „um das natürliche Schema zu vervollständigen“, warum, wie Prof. Weismann frägt, sind sie nicht bei andern Schlangen erhalten worden, welche nicht einmal eine Spur dieser Knochen besitzen? Was würde man von einem Astronomen denken, welcher behaupten wollte, weil Planeten in elliptischen Bahnen laufen, so nehmen Satelliten denselben Lauf um die Planeten nur der Symmetrie wegen? Ein ausgezeichneter Physiolog sucht das Vorkommen rudimentärer Organe durch die Annahme zu erklären, daß sie dazu dienen, überschüssige oder dem Systeme schädliche Materie auszuscheiden. Aber kann man denn annehmen, daß das kleine nur aus Zellgewebe bestehende Wärzchen, welches in männlichen Blüthen oft die Stelle des Pistills vertritt, dies zu bewirken vermöge? Kann man annehmen, daß die Bildung rudimentärer Zähne, die später wieder resorbirt werden, dem in raschem Wachsen begriffenen Kalbsembryo durch Ausscheidung der ihm so werthvollen phosphorsauren Kalkerde von irgend welchem Nutzen sein könne? Wenn ein Mensch durch Amputation einen Finger verliert, so kommt an den Stummeln zuweilen ein unvollkommener Nagel wieder zum Vorschein. Man könnte nun gerade so gut glauben, daß dieses Rudiment nur um

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/549&oldid=- (Version vom 31.7.2018)