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kann. Oder ein Organ wird nur noch für eine von seinen früheren Verrichtungen beibehalten. Ein ursprünglich durch natürliche Zuchtwahl gebildetes, aber nutzlos gewordenes Körperglied mag veränderlich sein, weil seine Abänderungen nicht mehr durch natürliche Zuchtwahl aufgehalten werden können. Alles dies stimmt ganz wohl mit dem überein, was wir im Naturzustande sehen. In welchem Lebensabschnitte überdies auch ein Organ durch Nichtbenützung oder Züchtung reducirt werden mag (und dies wird gewöhnlich erst der Fall sein, wenn das Thier zu seiner vollen Reife und Thatkraft gelangt ist): so wird das Princip der Vererbung in sich entsprechenden Altern dieses Organ in reducirtem Zustande stets im nämlichen reifen Alter wieder erscheinen zu lassen streben und es mithin nur selten im Embryo afficiren. So erklärt sich mithin die beträchtlichere Größe rudimentärer Organe im Embryo im Verhältnis zu den benachbarten Theilen und deren relativ geringere Größe im Erwachsenen. Wenn z. B. die Zehe eines erwachsenen Thieres viele Generationen lang in Folge irgend einer Änderung der Lebensweise immer weniger und weniger benutzt wurde, oder wenn ein Organ oder eine Drüse immer weniger und weniger functionell thätig war, so können wir schließen, daß der Theil bei den erwachsenen Nachkommen dieses Thieres an Größe reducirt sein wird, aber seinen ursprünglichen Entwickelungsmodus im Embryo nahezu beibehalten wird.

Es bleibt indeß noch eine Schwierigkeit übrig. Wenn ein Organ nicht mehr benutzt wird und in Folge dessen bedeutend reducirt worden ist, wie kann es nun immer weiter reducirt werden, bis endlich nur eine Spur von ihm übrig bleibt; und wie kann es endlich völlig fehlschlagen? Es ist kaum möglich, daß Nichtgebrauch noch irgend eine weitere Wirkung äußern kann, nachdem das Organ einmal functionslos gemacht worden war. Hier ist noch irgend eine weitere Erklärung nothwendig, welche ich nicht geben kann. Wenn es z. B. bewiesen werden könnte, daß jeder Theil der Organisation in einem höheren Grade nach einer Größenverminderung hin als nach einer Größenzunahme zu variiren strebe, dann würden wir zu verstehen im Stande sein, auf welche Weise ein nutzlos gewordenes Organ unabhängig von den Wirkungen des Nichtgebrauchs rudimentär gemacht und schließlich vollständig unterdrückt würde; denn die nach einer Größenabnahme hinwirkenden Abänderungen würden nicht mehr durch natürliche Zuchtwahl aufgehalten werden. Das in einem

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 541. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/551&oldid=- (Version vom 31.7.2018)