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weniger Beine, oder umgekehrt die mit mehr Beinen versehenen weniger Mundtheile? Endlich, warum sind die Kelch- und Kronenblätter, die Staubgefässe und Staubwege einer Blüthe, trotz ihrer Bestimmung zu so gänzlich verschiedenen Zwecken, alle nach demselben Muster gebildet?

Nach der Theorie der natürlichen Zuchtwahl können wir alle diese Fragen beantworten. Wir brauchen hier nicht zu betrachten, wie der Körper mancher Thiere zuerst in einer Reihe von Segmenten, oder in eine rechte und linke Seite mit einander entsprechenden Organen getheilt wurde; denn derartige Fragen liegen beinahe jenseits unserer Untersuchung. Wahrscheinlich sind indessen einige reihenförmig sich wiederholende Gebilde das Resultat einer Zellenvermehrung durch Theilung, welche die Vermehrung der aus solchen Zellen sich entwickelnden Theile mit sich bringt. Es muß für unsern Zweck genügen, im Sinne zu behalten, daß eine unbegrenzte Wiederholung desselben Theiles oder Organes, wie Owen bemerkt hat, das gemeinsame Attribut aller gering oder wenig modificirten Formen ist; daher besaß wahrscheinlich die unbekannte Stammform aller Wirbelthiere viele Wirbel, die unbekannte Stammform aller Gliederthiere viele Körpersegmente und die unbekannte Stammform der Blüthenpflanzen viele in einer oder mehreren Spiralen geordnete Blätter. Wir haben auch früher gesehen, daß Theile, die sich oft wiederholen, sehr geneigt sind, nicht bloß in Zahl, sondern auch in der Form zu variiren. Folglich werden solche Theile, da sie bereits in beträchtlicher Anzahl vorhanden und sehr variabel sind, natürlich ein zur Anpassung an die verschiedenartigsten Zwecke geeignetes Material darbieten; und doch werden sie allgemein in Folge der Kraft der Vererbung deutliche Züge ihrer ursprünglichen oder fundamentalen Ähnlichkeit bewahren. Sie werden diese Ähnlichkeit um so mehr beibehalten, als die Abänderungen, welche die Grundlage für die spätere Modification durch natürliche Zuchtwahl darbieten, von Anfang an ähnlich zu sein streben werden, da die Theile auf einer frühern Wachsthumsstufe gleich und nahezu denselben Bedingungen ausgesetzt sind. Derartige Theile werden, mögen sie mehr oder weniger modificirt sein, Reihenhomologa darstellen, wenn nicht ihr gemeinsamer Ursprung vollständig verdunkelt ist.

In der großen Classe der Mollusken lassen sich zwar Homologien zwischen Theilen verschiedener Species, aber nur wenige Reihenhomologien

Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1876, Seite 520. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinEntstehung1876.djvu/530&oldid=- (Version vom 31.7.2018)