Drei Bücher von der Kirche/III. Von der lutherischen Kirche

« II. Von den Kirchen Wilhelm Löhe
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III.
Von der lutherischen Kirche.




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1. Kirchlicher Charakter ihrer Reformation.


 In den letzten Zeiten vor der Reformation waren in der römischen Kirche so viele Neuigkeiten und Misbräuche aufgekommen, daß ein allgemeiner Unwille die einsichtsvolleren Menschen in allen Ländern Europas ergriff. Von verschiedenen Seiten her hatte man schon vor Luther einen Anlauf zur Reformation genommen, wie davon die Concilien von Costnitz und Basel allein schon hinreichendes Zeugnis ablegen können. Das Mislingen dieser Anläufe erregte die Sehnsucht nach Hilfe nur um so mehr, und diejenigen, welche alle Wohlthaten für nicht an der Zeit erkennen, wenn sie nicht durch ein „dringendes Bedürfnis“ gefordert sind, werden gewis in der vor Dr. Martin Luther hergehenden Zeit das dringendste Bedürfnis nach Reformation erkennen müßen.

 Da die Zeit erfüllet war, reichte der HErr die erkleckliche Hilfe. Er hatte verschafft, daß eben griechisches und ebräisches Sprachstudium einen neuen, zuvor unbekannten Aufschwung nehmen mußte. So war denn auch ein Zurückgehen auf die Erkenntnisquellen der Religion, auf das Alte und Neue Testament, ganz nahe gelegt. Je unbekannter diese Erkenntnisquellen geworden waren, desto überraschter war man über den Gegensatz, welcher sich zwischen diesen Quellen und dem damaligen Bestand der Lehre und Kirche fand. Ueberraschender, als nach einer Zeit so tiefen Schlafes, konnte die Klarheit des göttlichen Wortes nicht leicht hervortreten. Ja, nicht blos überraschend klar, sondern hinreißend war der Gegensatz der Schrift gegen die damalige Gestalt der Lehre und Kirche. Schriftmäßigkeit wurde das ernste dringende Erfordernis der Reformatoren.

|  Diese Schriftmäßigkeit aber wurde nun in einer doppelten Weise herzustellen gesucht. Von der einen Seite wurde alles für einen übeln Rest des Papsttums erkannt, was nicht ein Wort der h. Schrift für sich hatte. Mit unerbittlicher Schärfe that man alles ab, was nicht eine ausdrückliche Begründung in einem Schriftworte fand. – Von der andern Seite aber ließ man bei allem Ernste der Reformation alles stehen, was die Schrift nicht wider sich hatte, was irgend ohne Gefahr der reinen Lehre stehen bleiben konnte. Z. B. die Liturgie, die Bilder und sonstigen Zieraten der Kirchen und heiligen Orte etc. wurden, je nachdem man der ersten oder zweiten Richtung folgte, ganz verschieden behandelt.
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 Die letztere Richtung erkannte, daß die Kirche seit der Apostel Tagen, das hieß 1500 Jahre, nicht umsonst gelebt habe. Man erkannte eine Entwickelung und Auslegung der apostolischen Lehre durch die Geschichte, man verstand, daß das Eine Wort in der Zeiten Fortgang eine immer reichere Fülle offenbarte. Man achtete die Geschichte der Kirche und hatte ein Auge für die Gemeinschaft mit dem Altertume. Nicht losgetrennt von vorigen Jahrhunderten wollte man etwas Neues und möglichst Selbständiges anbahnen, im Gegentheil war man bemüht, am Faden der h. Schrift die Fortsetzung der uralten apostolischen Kirche zu finden und die Neuigkeiten abzuthun. Wie man alte, werthvolle Bilder und Bauwerke vom Schnörkel und der Unzier späterer Zeiten befreit, so wollte man das Alte, nur ohne Fälschung. Nicht eben wie es zur Zeit der Apostel gewesen war, wollte man alles und jedes haben, sondern nur unsträflich vor dem Angesichte der Apostel und Propheten wollte man die geschichtliche Entwickelung der Kirche sehen. Man erkannte ein Walten des h. Geistes in der Geschichte; aber man erkannte nichts für ein Walten des h. Geistes in der Geschichte, was dem klaren Worte widersprach. Einheit der Schrift und Geschichte, Gemeinschaft mit der Schrift vor Allem und mit der reinen Kirche aller Jahrhunderte und Lande, ächte Katholicität zeichnete die letztere Richtung, die Richtung Dr. M. Luthers aus. Man vergleiche nur Luthers Benehmen gegenüber Carlstadt u. a. dgl., man lese nur die | symbolischen Schriften und gebe darauf acht, so wird man ohne Zweifel diese harmonische Auffaßung der Schrift und Geschichte, diese Überzeugung von einer niemals ausgestorbenen, reinen Kirche, diesen Haß gegen das Neue, diese Schonung des Alten, dieses Vergleichen des Alten mit dem Uralten, diesen Nachweis des Uralten im Alten finden.

 Hätten die deutschen Reformatoren nicht dieses Bewußtsein, eine Fortsetzung der uralten und alten reinen Kirche zu sein, in sich getragen; so würde es gar nicht begreiflich sein, warum sie immer, warum sie so lange auf ein allgemeines, freies, christliches Concilium sich beriefen. Sie hofften alle Welt zu überzeugen, daß sie nur Neuigkeiten und Misbräuche, nicht aber unsträfliches Herkommen des Altertums abzuthun begehrten. Ganz in diesem Sinne legten sie auch 1530 zu Augsburg ihr Bekenntnis ab. Mit der Leuchte des göttlichen Wortes in der Hand durchwanderten sie alle Jahrhunderte und Lande, freuten sich alles reinen, kirchlichen, schriftgemäßen Bekenntnisses und Lebens, erkannten darin Zeugnisse desselben Geistes, der sie durchdrang, und ließen sich nicht träumen, daß jemand ihnen einen Abfall von der uralten, Einen, katholischen Kirche im Ernste und ohne Widerspruch des eigenen Gewißens Schuld geben könnte. – Ja, so fest war ihre Ueberzeugung, Kinder der Apostel und Väter zu sein, so ruhig ihr Gewißen bei der erkannten Wahrheit, daß sie das Beharren ihrer Gegner in den römischen Unterscheidungslehren und Misbräuchen für weiter nichts, als für einen Abfall von der alten Lehre erkannten. Als man auf dem Concilium von Trident (1545–1563) feierlich die neuen römischen Lehren und Misbräuche sanctionirte, da behaupteten die Väter unsrer Kirche: nun erst habe man zum Eigentum der ganzen römischen Kirche gemacht, was zuvor an ihrem Angesicht oder an ihren Füßen nur wie zufälliger Schmutz hängen geblieben sei; nun erst sei Rom öffentlich abgefallen, und nun erst sei es recht offenbar geworden, daß die uralte und alte Kirche, von Babel und Rom gesondert, in der Gemeine der sogenannten Lutheraner existire. Gegenüber dieser abgefallenen Kirche nannten sich dann auch die Lutheraner katholisch und apostolisch.

|  Wer wollte sie tadeln? wer nicht ihr gutes Recht erkennen? Kühnlich behauptet, was Wahrheit ist! Die uralte reine Kirche des Abendlandes lebt da, wo die uralte, reine Lehre der uralten, reinen Kirche gepredigt wird. Alles ist unser, es sei Christus, oder Paulus, oder Petrus, es sei Linus oder Anacletus oder Clemens, es sei Cyprianus oder Augustinus. Die Zeugenwolke des Altertums ist herüber zu uns gekommen. Bei uns ist ihre Erkenntnis, ihre Weisheit, ihr Friede, ihre Freude, ihre Stärke, ihre Geduld, – und gelobt sei dafür der HErr!


2. Ihre Reformation ist theils vollendet, theils unvollendet.


 Sie ist vollendet in der Lehre, sie ist unvollendet in den Folgen der Lehre. In diesen kurzen Satz kann man wol die ganze Antwort auf unsere Frage zusammenfaßen.

 Die Lehre ist vollendet. Es ist keine Frage, daß namentlich nach dem Tode Martin Luthers viel Streit unter den Bekennern der reinen Lehre selbst sich erhoben hat, und daß diese im Streite manche Verschuldung auf sich luden und übles Beispiel gaben. Aber man vergeße nicht, daß gerade wie bei den Streitigkeiten der ersten Jahrhunderte unter dem Staube, welchen die Menschen im Streite machten, eine süße Frucht der Gerechtigkeit und des Friedens gewonnen wurde. Die reine, lichte, gerechte und doch milde Lehre der mit höchstem Unrecht verlästerten Concordienformel gieng aus diesem Streite hervor. Es ist traurig, wenn Historiker, die vor allen Dingen gerecht sein sollten, vor lauter ungerechtem Ekel an den kleinen Kleinlichkeiten, welcher sich unsre Streiter im Streite schuldig machten, unfähig werden, die Streitpunkte und den Streit selber kennen zu lernen, – wenn Leute, wie z. B. Kohlrausch in seiner vielgelesenen deutschen Geschichte, gegen die Römischen gerechter sich erweisen, als gegen die Theologen der eigenen oder doch verwandteren Kirche, welchen auch diejenigen, denen ihre Art widerwärtig ist, Dank schuldig sind! Wahrlich, die Zeit von Luthers Tode bis zur Abfaßung der Concordienformel und des Concordienbuches | verdiente einmal einen wohlwollenden Geschichtschreiber und NB. einen Mann von Fach, einen Theologen, weil es doch für andere so schwer ist, den HErrn in seinem Vollendungsgang zur reinen Lehre zu verstehen und Ihm zu folgen.

 Wohl thut heut zu Tage mancher Theologe, als wäre noch wunders viel für die heilige Lehre zu thun und zu erforschen, als könnte die dogmatische Forschung noch viele Palmen und Siege in Emporbringung nicht oder nicht recht erkannter Sätze erringen. Wir könnens aber erwarten. Ja, wir können getrost unser Haupt ins Grab legen, ohne etwas zu versäumen. Man weiß leider meist nicht einmal gründlich, was die Alten überliefert haben, und vermißt sich doch, in selbständiger Forschung neues gewinnen zu wollen. Das ist eben der Jammer, daß man, da doch sonst so viel zur Bestätigung der vollkommenen Lehre zu lernen wäre, immer noch etwas herbeibringen will, was neu wäre und ergänzte. Daß wir immer und immer wieder unsre Kirche auch in der Dogmatik zur Schule machen, theoretisiren, mit dem Rothwälsch der gelehrten, fremden Sprache ringen, wißenschäfteln, und so kindisch hochmütig thun, wenn wir auch einmal der alten Wahrheit – oder beßer oft, dem alten Irrtum – einen neuen Schuh oder ein neues Kleid geschnitten und genäht haben; das hat unsrer Kirche geschadet und schadet ihr noch. Die Kirche ist eine Trägerin gewisser göttlicher Erkenntnis, eine Bewahrerin unsterblicher Wahrheit. Ihre Kinder mögen nur erst durch Kenntnis und Erkenntnis dessen, was von Alters her da ist, reifen und zu Männern werden. Es ist nicht zu fürchten, daß deshalb die Wißenschaft ersterbe. Sie ist nicht davon bedingt, daß man immer aufs neue beginne. Sie hat genug zu thun, auch wenn die Lehre und das Bekenntnis für fertig erkannt wird. Hier ist nichts zu reformiren. In dem Stück ist die Reformation vollendet.

 Wol aber gilt es, der gewonnenen reinen, reichen Lehre die volle Anwendung nach allen Seiten hin zu geben. Noch ist keine Zeit gewesen, in welcher man sich seines Reichtums völlig bewußt geworden wäre, – da man sich ernstlich besonnen hätte, was alles man mit demselben zum Heile der Welt und Kirche anfangen könne. Aus der | reinen Lehre entspringt das richtige Urtheil über alles Irdische und Zufällige. Da fange man an zu prüfen, zu suchen und zu finden. Man sei nicht zu engherzig im Festhalten gewisser seit der Reformation bestehenden Formen und Aeußerlichkeiten. Manche Thesis ist ohne Antithesis, manche Antithesis ohne Thesis geblieben. Mancher Misbrauch ist sammt dem frommen Gebrauch dahingeworfen worden. Manches ist blos aus Polemik weggeworfen worden, und man hat nicht beachtet, daß nach überflüßig gewordener Polemik das Weggeworfene wieder aufgenommen werden dürfte. Von der Stellung der Kirche zum Staate, von Kirchenverfaßung und Kirchenordnung gar nicht zu sprechen. Mit Einem Worte: Man gebe doch der Kirche ihrer Lehre Folgen! Ist sie die reine, warum denn nicht die Eine! Ist sie apostolisch, warum denn nicht katholisch! Ist sie die einfältige und demütige, warum soll ihr nicht zukommen, was in aller Welt schön, herrlich und erhaben ist? – Man rühre sich! Man führe aus Landen herbei, was ihr frommt. Man führe sie aus in die Lande, damit sie nütze und fromme! Man baue und erbaue sie auf den festen Gründen ihrer Lehre, und vergeße nicht, daß, wer ihr hilft, der stellt ihr Licht auf den Leuchter, daß es die Nationen sehen und sich freuen über die freie Freistadt aller Elenden, über die, die umsonst empfangen hat und umsonst gibt, was selig macht!
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 Man könnte vielleicht auch sagen: die Reformation der Lehre ist geschehen; aber die Kirche erfreut sich des Reichtums ihrer reinen Lehre nicht, wie sie soll, und fühlt nicht die Bedeutung, die sie dadurch hat. Noch ist ihr immer, als sei sie nur geduldet, als lebe sie von der Menschen Gnade. Sie weiß nicht, daß sie einen Freiheitsbrief von Gott hat, Seiner Gnade und ihres Glaubens frank und frei zu leben, und mit ihrem Reichtum alle Welt glücklich zu machen. Sie erkennt nicht, daß sie, nachdem sie die reine Kirche geworden, vor andern eine Erbin aller göttlichen Verheißungen ist. Sie ist sich selbst zu sehr blos Dogma, zu wenig Person, zu wenig sich ihrer selbst, ihrer Gnade, ihrer Würde, ihrer Kräfte bewußt. In kirchlichem Bewußtsein, Leben und Werk ist sie noch lange nicht wieder, was die reine Kirche der ersten Jahrhunderte war! Hier gibt es noch zu reformiren! Und hier reformire uns der | HErr und Sein Geist! „Wenn Er uns demütigt, macht Er uns groß!“ Er führe uns in unwandelbare Demut, aber auch zum Genuße alles dessen, was der reinen Kirche gebührt!


3. Sie ist die einigende Mitte der Confessionen.


 Eine unbefangene und unparteiische Vergleichung der lutherischen Lehre mit den Lehren der andern Kirchen, namentlich mit den Lehren der römischen und reformirten Particularkirche ergibt, daß sie in allen Unterscheidungslehren zwischen beiden die gerechte Mitte hält, daß sie die Mitte der Confessionen ist. In keiner einzigen Lehre vertheidigt sie ein Extrem, sondern überall bietet ihre Lehre die allein mögliche Vereinigung und Union der in den verschiedenen Particularkirchen sich ausprägenden extremen Gegensätze. Und zwar ist gerade in dem letzten symbolischen Buche, in der Concordienformel das zur Vollendung gekommen. Man nehme die Lehre vom h. Mahle, so wird man finden, daß beim Abendmahl des Römers das himmlische Gut das Element, beim Abendmahl des Reformirten das Element das himmlische Gut verdrängt, daß aber im Abendmahl der wahren Kirche beides in schönster Vereinigung erscheint, wie es Christus eingesetzt hat. Man nehme die Lehre vom freien Willen und der Notwendigkeit, so wird man finden, daß der Prädestinatianer dem Willen des Menschen, der Pelagianer dem Rathschluß des Allerhöchsten zu nahe tritt; dagegen lehrt die Concordienformel, fern von vernünftelnder Consequenz und Einseitigkeit, wie der Rathschluß des Allerhöchsten und der Wille des Menschen ohne Prädestinatianismus und Pelagianismus zusammengehen. Und wie in diesen beiden Unterscheidungslehren, so in allen; überall trennen die andern Confessionen, wo die unsrige die schöne Verbindung und Versöhnung dessen zeigt, was in den Gegensätzen Wahres liegt. Nirgends hat unsre Lehre einzelne Worte der Schrift auf die Spitze getrieben, sondern überall ist ihr durch Vergleich der scheinbar widerstrebenden Sprüche die Wahrheit Gottes in schöner Form und Begränzung zugekommen. Gleichwie sie gegenüber dem Altertum nicht | buchstäbelnd alles wegwarf, was nicht eben im oberflächlichsten Betrachten sich als schriftmäßig erwies; so hat sie auch nie für einseitige Auffaßung von Schriftworten sich bestimmt, sondern ihr Streben nach Harmonie der einzelnen Lehren, nach möglichster Vollendung der Erkenntnis ist von Gottes Gnade mit einer allerseits genügenden Faßung der einzelnen Lehren gekrönt worden.
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 In einer Zeit, wo Union das dritte Wort ist, haben sichs deshalb die Kinder der wahren Kirche recht deutlich zu machen, daß ihre Kirche vermöge der Lehre, welche sie bekennt, die Union der Gegensätze sei und daß es der große Beruf der reinen Kirche sei, diese wahre Union zu lehren und immer aufs neue den Kirchen des Gegensatzes gegenüber zu halten, nachzuweisen, daß, was alle wollen, recht verstanden sich in der Lehre unsrer Kirche vereine und durch das Leben dieser Lehre ins Leben gesetzt werde. Weit entfernt, Union auf dem unglücklichen Wege des Uebersehens und Nichtachtens unläugbarer Unterschiede erst äußerlich hinzustellen und dann kindisch zu hoffen, daß sich irgendwo die innere Einigung schon dazu finden werde; weit entfernt, durch menschliche Mittel eine Union erzwingen zu wollen, welche nur durch Einigung der Geister, durch den Geist der Wahrheit zu Wege gebracht werden soll; betet die rechte Kirche ohne Unterlaß um Vereinigung aller Seelen zur Einen reinen Lehre, hofft auch, daß alle Schafe des guten Hirten Seine Stimme in der Predigt der reinen Lehre hören und zur Einen Heerde sich versammeln werden, erkennt aber ihren Beruf zu klar und ist sich ihres Kleinods, des reinen Bekenntnisses und der reinen Lehre zu bewußt, als daß sie irgend jemand Hoffnung machen könnte, durch Aenderung oder Umformung ihres Bekenntnisses die Vereinigung mit ihr zu erleichtern. Sie, die Wächterin der reinen Lehre, kann von der erkannten Wahrheit, von der rechten Mitte aller göttlichen Gedanken, von der Arzenei der Welt, nichts aufgeben, ohne dem Gott, der sie so hoch betraut, untreu und eine Uebertreterin ihres Berufes zu werden. Sie kann auf die Stunde ihrer Verherrlichung warten, scheut sich aber, menschliche Unionsgedanken ins Werk zu mischen. Sie weiß, daß ein Ismael geboren wurde, ein Spötter, als Sarah ungeduldig wurde; | daß man hernach, als Isaac geboren wurde, mit dem Spötter nur Mühe hatte und ihn aus dem Hause weisen mußte.

 Es ist ein ungerechtes Mittel zur Union, wenn man die unveränderte augsburgische Confession zum Sammelpunkte aller Kinder Gottes machen will. Die Geschichte der Concordienformel hat es deutlich gezeigt, daß die allerdings vortreffliche Confession nicht alle Fragen löst. Es konnte nicht bei der augsburgischen Confession bleiben, und könnte auch heut zu Tage nicht dabei bleiben. Ungestraft ließe sich die Historie auch heutiges Tages nicht verhöhnen. All der Kampf und zwar auf eine viel widerwärtigere und ekelhaftere Weise würde wiederkehren und Gott würde dann doch nur wieder zur Concordienformel führen, nachdem wir theures Lehr- und Strafgeld bezahlt hätten. Was marktet man denn, wo nichts zu markten ist? Was schämt man sich denn eines Bekenntnisses, das gar keinen Mangel hat, als daß diese Tage noch nicht wieder reif für sein Verständnis geworden sind? Was ist denn falsch? Und wo ist denn zu weit gegangen? Und welches Wort hielte denn nicht das rechte Maß? Die ihre Gedanken nicht völlig unter den Gehorsam des Glaubens beugen wollen, die gerne auch eine Weitschaft, zu disputiren und irrzufahren, haben und gewähren, die auch dem irrenden, unreifen Sinn einen Raum vergönnen möchten, – die finden zu viel bestimmt und bekannt und das Wort der Concordienformel beleidigt ihren weiten Sinn. Was geht aber uns die Forderung unreifer Sinnen an? Die Stimme der Geschichte spricht lauter. Die menschliche Frage muß eine genügende Antwort haben, ehe sich der Geist in Kraft erkannter Wahrheit zum Werk der Kirche anschickt. Die Kirche muß völlige Wahrheit besitzen, ehe sie sich in den Liebesgedanken ihres himmlischen Berufes finden kann! Darum nur nichts aufgegeben, was man so sauer gewonnen und was Gott den oft Widerstrebenden gegönnt hat! Und nur nicht willkürlich geschaltet mit dem, was ER vertraute und von uns fordern wird!

 Ein eben so ungerechtes Mittel zur Union ist es, wenn man den Gegnern oder sich irgend eine Hoffnung macht, es möchte sich vielleicht eine Faßung der Glaubensartikel vermöge wißenschaftlicher Bemühung | finden laßen, welche beiden oder allen Theilen genügte! Ists Unverstand, ists unehrliches Schmeicheln, ists Selbstbetrug natürlicher Gutmüthigkeit, oder was ists, so etwas hoffen zu laßen? Was solls denn für eine Faßung sein, in welcher sich Gegensätze vereinten, Erz und Thon gemengt würden? Was von der Wahrheit will man denn verschweigen, um den Gegner zufriedener zu machen? Oder was vom Irrtum will man denn ohne Beleidigung der Wahrheit sagen? Und was für eine Kunst will man denn erfinden, unedle Steine, wie edle, edle, wie unedle zu faßen? Meint ihr immer noch ein tertium zu erfinden, quod non datur? Merkt ihr nicht, daß die reine Lehre selbst das tertium ist, um das sichs handelt? – – Ja doch! das ist der Vorzug der neuen Zeit in Deutschland, daß man eine schöne Form der Sprache gewonnen hat. Gut! Gebt der Wahrheit eine schöne Sprache – wir meinen nicht die Contrebande der Weltweisheit, die ihr ja, da sie „Wolfisch“ hieß, so sehr verachtetet, also doch unter anderm Namen auch nicht dulden werdet! Gebt der Wahrheit die schönste Sprache, sie verdient es, das ist an euch! Aber bildet euch nicht ein, daß der Inhalt dessen, was zu sagen ist, ein anderer sein werde, als vor zweihundert Jahren. Ich brenne vor Verlangen, die alte Wahrheit im neuen Gewande zu schauen; aber nur sie, nur sie! Und wenn sies ist, wird sie im neuen Gewande den alten Gegnern nicht gefallen.
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 Die reine Kirche behalte, was sie hat. Sie nehme es ferner mit jedem Irrtum genau. Sie spreche nein, ein einfaches, ruhiges, ernstes, festes, leidenschaftloses Nein zu allem, was nicht wahr ist. Sie bleibe sich gleich in diesem Zeugnis von Anfang bis zum Ende. Sie spreche aber auch ja, ein einfaches, ruhiges, fröhliches Ja, zu allem, was wahr ist, es finde sich, wo und auf welcher Seite es will. Sie bekenne ihre Untreue und Sünde gegen das untadeliche, hehre Bekenntnis, das sie vor aller Welt zu tragen hat, – sie bekenne ihre Sünde, und beschönige keine fremde Sünde. Sie verfahre im Sinne der Wahrheit immer concedendo, wo sies kann, und negando, wo es nicht anders ist. Sie vergebe der Wahrheit keinen Tüttel. Das wird verdrießen, die nicht lauteren Herzens sind; aber wenn sie auch anfiengen, zu streiten | und zu verdammen, weil die Kirche bei der Wahrheit bleibt, nicht verdammt, aber auch nicht selig spricht die Kinder des Irrtums; so wird sie dennoch sich des Spruchs getrösten können: „Ich halte Frieden, aber wenn ich rede, so fahen sie Krieg an!“ Auch im Streite bleibe sie sich selbst gleich: wider allen Einspruch bleibe dieselbe Eine Wahrheit, dasselbe Eine Bekenntnis, – und die Mühseligkeit, aller Lüge zu widersprechen, von der Welt, auch von der in der Kirche gehaßt zu werden, schrecke die nicht, zu welchen der HErr gesagt hat: „Siehe, Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende!“ – schrecke nicht die kleine Heerde, zu welcher Er auch gesagt hat: „Fürchte dich nicht, du kleine Heerde, denn es ist euers Vaters Wille, euch das Reich zu bescheiden!“

 Dies treue, geduldige, unerschrockene Zeugnis benützt denn der HErr, welcher die Herzen der Menschen in seiner Gewalt hat, zur Union. Denn Er unirt, das ist kein Zweifel, und zwar auf Grund der Wahrheit und durch die Wahrheit. Es sind durch des HErrn Gnade der Wahrheit bereits viele auf gegnerischer Seite zugeführt, und daß sich eine streng reformirte Partei immer deutlicher herausbildet, ist nur Beweis, daß es mit dem menschlichen Uniren und mit Verachtung der Lehrgegensätze nichts ist, aber keineswegs, daß der HErr nicht viele erlöste Seelen zu seiner Wahrheit sammeln werde. Das ist vergebliche Hoffnung, daß alle auf den schmalen Weg kommen werden; aber wer bescheidentlich hofft, der hofft dennoch Großes, nämlich eine Mehrung der Kirche unter allen Umständen und einen Sieg der Wahrheit über die Lüge. Trügen die Zeichen nicht, so steht eine Periode des mächtigeren Aufschwungs, der Union und Vereinigung vieler zum Einen Glauben bevor. Irren wir nicht, so wendet der HErr selbst das mislungene Werk der Union der Kirche zu Ruhm und Segen, so hat ER vor, zu zeigen, was Union und Uniren in Seinem Sinne sei.

 Daß der HErr das Bekenntnis seiner Getreuen zur Union vieler Herzen und Berufung der Getrennten zu Einer h. Schaar benützt, hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gezeigt. Als unsre schlesischen Brüder anfiengen, Zeugnis abzulegen, da geschahs unter dem unwilligen Aufschreien vieler, die jetzt dasselbe Zeugnis ablegen. Nichts Schrofferes, | nichts Maß- und Haltloseres, nichts Leidenschaftlicheres gab es damals, als einen schlesischen Lutheraner; ein solcher hatte nicht Fehler, wie alle Menschen, sondern mehr als andere, – und die wahren und erlogenen Fehler wendete man zum hinkenden Beweis an, daß es nichts sein müße mit der schlesischen Bewegung. Nichts desto weniger brachte das laute Zeugnis der Schlesier viele andere zur Besinnung, und daß heute bereits vom Norden bis in den tiefen Süden Deutschlands eine einige, nur durch Bekenntnis, aber um des Bekenntnisses willen und durch das Bekenntnis in allen Stücken einige Schaar steht und treulich zeugt, wer weiß, ob das alles nicht doch ein Wehen ist, welches in Schlesien aufbrach? Es wird an jenem großen Tage alle Auferstandenen verwundern, an wie verachteten, unscheinbaren Orten die Anfangs- und Ausgangspunkte, die Ursachen und Anläße zu Gottes großen Werken gefunden werden!

 Darum lebe das Zeugnis der h. Kirche, durch welches der HErr seine Heerde unirt! Der Eifer des HErrn wirds thun! Sein Weg wird hoch über den Siechbetten gehen, auf welche Unionsfieber und Liebesphantasieen die Träumer und Seher des Tages hingestreckt hat. Oder meinst du, es müße gehen, wie die Kranken fabeln? Es geht nicht so, du wirst es erkennen! Aber Seine Heerde wird vereinigt werden zu der Wahrheit, und es wird dann gleichviel sein, ob diese Heerde „lutherisch“ gescholten oder anerkannt war als das, was sie ist, als das Salz der Erde, als das Feuer auf dem Berge, als die priesterliche Schaar, welche die Lade trägt und des Tempels hütet, als die wahre, reine Kirche unter vielen!


4. Sie soll sein ein Segen der Heiden.


 Das größte Kleinod der lutherischen Kirche ist die reine Lehre, die aus dem reinen Bekenntnis fließt. Vermöge dieser reinen Lehre ist sie gewesen und ist sie noch der Mittelpunkt und Heerd des lichten Kreißes, welcher Christenheit genannt wird. An ihrem Zeugnis hat sich seit drei Jahrhunderten die Lehre aller Confessionen und ihr Leben irgendwie | geklärt, und es ist keine Frage, daß sie einen Einfluß auf alle ihre Neiderinnen gehabt hat und hat. Selbst die ihr widerstreben, sind an ihrem Lichte beßer worden. Das kann bewiesen werden, ob mans auch verhöhne und verlache; und es äußern, ist nicht Hochmut, sondern Anerkennung fremder Genesung. Dieses reinigende, klärende Zeugnis in Mitte der Confessionen ist der Hauptberuf der Kirche Gottes, die man lutherisch nennt.
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 Das schließt aber nicht aus, daß sie, so viel ihr immer möglich ist, die Fackel reiner Wahrheit zu allen Völkern trage. – Wir wißen, daß alle andern Confessionen, welche den Heiden predigen, denselben die Möglichkeit mitbringen selig zu werden. Wir haben deshalb ein Wohlgefallen an den Missionen aller Confessionen, so sehr wir ihrer Lehre Mängel und die Fehler ihrer Praxis bedauern. Wir beten auch für alle Missionen und für alle Heiden. Wir beten für alle Missionen, nicht daß ihnen ihre Parteizwecke gelingen, aber daß die Wahrheiten, die sie hinausbringen, zur Seligkeit der Heiden gesegnet seien. Wir verfolgen mit Wohlwollen und innigem Verlangen die Erfolge aller Missionen und freuen uns alles Guten, das andere durch die Lehren thun, welche sie aus unsrer Fülle genommen haben. Aber dabei bleibts nicht! Wir bitten den HErrn um Vergebung der Sünde, daß wir zu wenig gethan haben zum Heile der Heiden. Wir erkennen, daß es anders werden muß, – und nachdem wir durch unser Vermögen lange genug andere ermächtigt haben, unreinere Lehren zu predigen, gehen wir nun selbst hinaus und predigen das reine Wort des Lebens allen Völkern. Sind wir annoch eine kleine Heerde, so vermag uns der HErr dennoch Schaaren von Evangelisten zu geben, welche auf der Heiden Straßen treten und ihnen das Zeugnis der allgemeinen Gnade Gottes in Christo JEsu bringen. Und mehrt der HErr unsre Schaaren in den alten Landen der Christenheit, stärkt Er uns; so wird das Feuer unsrer vereinten Liebe auch unter den Heiden sich desto mächtiger und kräftiger erweisen. Wir bitten den HErrn, unsre Hände zu füllen zum Heil der Heiden, und ER wirds thun! Die unter den protestantischen Gemeinden, die für Heiden sorgten, nicht die letzten waren, mögen | eines Tages die reichsten für alle werden und in stillem Frieden, aber mit großen Kräften das Liebeswerk vollenden, welches Gott zum Heile der Heiden verordnet hat! Wir werden niemals die Wohlthat anderer Confessionen unter den Heiden stören und vernichten, aber wir werden an unserm Theile thun, was immer möglich, damit die reinste Lehre in ihrer seligmachenden Kraft sich erweise und bewähre! Wir werden, fest in dem und treu in dem, was wir sollen, auch unter den Heiden, wie in der Heimat, die Wahrheiten andrer Confessionen segnen, sie auch durch unsere Zustimmung emporzubringen suchen, aber wir werden nie und nirgends einen Irrtum loben oder fördern, im Gegentheil wir werden, so weit es nur immer möglich ist, in rechter Weise dem Irrtum die Wahrheit und der falschen Lehre die reine zu substituiren suchen.
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 Die Kirche Gottes wird sich ihrerseits der Verweltlichung der Missionen entgegenstellen und keinen Theil an ihr haben. Weit entfernt, zu läugnen, daß die weltlichen Berührungen der Christen mit den Heiden der Mission förderlich sein können, wird sie sich doch niemals zur Dienerin eines Staates in dem Werke der freiesten Liebe machen laßen. Sie wird in keiner Weise unterjochen helfen; sie wird nicht nehmen, sondern geben, nichts suchen als das Heil der Völker. Sie wird reich machen, indem sie arm ist. Sie wird ihr Werk thun und christlichen Staaten es überlaßen, das ihrige zu thun. Sie wird den Eingang unter die Völker nicht erzwingen wollen, sie wird sich nicht unter die Heiden stehlen, sie wird den Weg der Einfalt gehen, wird da eintreten, wo die Thüre offen steht, und den HErrn bitten, daß Er die Thüren aller Lande öffne. Sie wird den Macedonier haben, der zu Paulo spricht in der Nacht: „Komm herüber und hilf uns!“ Sie wird allzeit einen Liebesberuf nicht allein, sondern auch einen äußeren Beruf haben und ein gut Gewißen gegen alle Menschen. Wo überall sie eintritt, wird sie die Gnade der Weisheit haben, wie sie reich sein wird an allerlei Gnaden. Sie wird die Heiden nicht behandeln, wie die Confessionen; sie wird ihnen Milch geben, und nicht starke Speise, aber reine Milch. Sie wird nicht schelten und zanken, aber auch nicht liebeln, statt zu lieben. Sie wird weder baptistisch, noch römisch der | Sakramente walten. Sie wird auch in den Missionen ihren Vorzug der h. Mitte bewahren und des Hohnes der Extreme keinen Schaden haben.

 Mit Einem Worte! der HErr wird in der letzten Stunde der Welt sie zum Segen setzen und durch sie berufen, sammeln, erleuchten, heiligen und bei JEsu Christo erhalten im rechten, einigen Glauben! Sie wird sich zu Ihm und Er wird sich zu Ihr bekennen – und der Welt durch sie den großen Gedanken der Erlösung nicht allein, sondern auch den gleich großen der Einen, heiligen Kirche, der Gemeinschaft der Heiligen, den großen Gedanken heiligster Menschenliebe, offenbaren!

 ER wird mehr thun, als wir sagen und annoch sagen dürfen und annoch sagen können! ER wird seine Kirche verklären – und ihr eine heilige Mission verleihen! ER thue es, auf daß man Ihn preise zu Jerusalem und in Zion sein Lob erhöhe!


5. Maß ihrer Mittel und Reichtum ihrer Werke innerhalb ihrer Gränzen


 Die lutherische Kirche weiß, daß der HErr Seinen heiligen Geist nur vermöge Seines Wortes und Sacramentes mittheilt, darum erkennt sie auch keine andern Mittel der Wirksamkeit, als Wort und Sacrament. Ihre Erkenntnis lehrt sie, daß der Mensch im Werke seiner Seligkeit nichts vermag, als sein Ohr der göttlichen Wahrheit zu leihen, wie man es irgend einem andern Worte auch verleiht; darum sucht sie die Menschen vor allen Dingen zum Hören und Beachten des Wortes zu vermahnen, zu bewegen. Sie weiß, daß der geistliche Mensch nicht immer vermag, Gottes Wort zu hören und zu betrachten; viel weniger traut sie dem Kinde dieser Welt zu, daß es viele und lange Gelegenheiten, das Wort zu hören, ertrage. Sie weiß aus ihrer Erkenntnis des Menschen, daß man der Wahrheit, wenn sie sich gerne, jedoch mit gemeßener Sparsamkeit vertheilt, den Schrein des Herzens lieber öffnet, als wenn sie ohne Ende ihre Stimme hören läßt. Sie versteht es daher, dem Volke ihre Mittel zur Gnüge, aber nicht im Uebermaße | mitzutheilen. Sie hält es für keinen Schimpf und deutet es auch nicht gerne schimpflich, wenn jemand sagt: „dieser Pastor hält es für genug, wenn er gepredigt, catechisirt, die Sakramente verwaltet, Beichte gehalten und Kranke getröstet hat!“ Sie weiß, daß auch die treuesten Pastoren darin nicht genug thun. Sie hält nicht viel von Vermehrung der Amtsmittel, wohl aber vom rechten Gebrauche der in der Schrift befohlenen und von Alters her anerkannten. Es ist bei vielen eine neue Weisheit, daß man nicht meistergeschäftig, sondern der wenigen, edlen Mittel Meister sein solle; aber die Kirche hat es nie anders genommen. – Mit Einem Worte: Sie wirkt viel durch wenige Mittel!

 Wer die Pastoralanweisungen eines Baxter und noch mehr eines Gottfr. Arnold betrachtet und gegenüber die Pastoralbücher unsrer Väter, dem scheint es im Anfang, als wären in den letzteren der Pastoralmittel und Pflichten zu wenige angegeben, als hätten Baxter und Arnold höhere Begriffe von einem Pastor, als z. B. Balduin und seines Gleichen. Aber ein Erfahrener findet es anders. Genug und übergenug ist geschehen, wenn einer gethan hat, was zur Ausübung der altherkömmlichen Amtspflichten gehört! Ueberflüßig und hindernd hingegen ist die πολυπραγμοσύνη der Neueren! Non multa, sed multum heißt es auch hier. Die Armut unsrer Väter ist reicher, als der Reichtum ihrer Gegner. Durch Abwechslung der Einsamkeit und Oeffentlichkeit, der Stille und des lauten Auftretens, durch Anhalten an dem Wort und Sakrament, durch stilles, aber volles Maß, durch Bescheidenheit und Beständigkeit erreicht die lutherische Kirche ihre Ziele.

 Sie befaßt sich darum auch nicht mit den neuen, obschon hochgerühmten Mitteln zur Beförderung guter Werke. Sie begehrt gute Werke weder Vereins-, noch fabrikmäßig zu betreiben. Sie erkennt, daß Werke, in den Formen moderner Vereine getrieben, leicht andere Werke verdrängen, die Harmonie des mancherlei Guten stören, die Menschen einseitig und unmäßig machen. Sie fürchtet, daß Vereine, die sich aus der Kirche hervorheben, als läge es nun sonderlich an ihnen, Vereine der Maßlosigkeit und Unmäßigkeit werden möchten, selbst wenn sie „Mäßigkeit“ im Schilde führten. Sie ergreift nicht die Schibboleths menschlicher | Extravaganz und Werkerei; sie ermuntert aber durch ihr heiliges Amt zur Ausübung alles Guten, und daß ein jeglicher je nach seiner Gabe und nach seinen Verhältnissen thue, was Gott gefällt. – Sie strebt nach Einheit und Vereinigung aller guten Werke in ihrer Mitte. Sie erkennt heute noch die Armenpflege für Kirchensache, wie sies zu Zeiten der Apostel that; heute noch die Schule für eine Vorschule und Kirche der Jüngeren, heute noch für ihr Reich, wie sie es früher that; heute noch sind die Kranken, die Pilgrime, die Waisen ihre Pfleglinge, wie je und je; heute noch sorgt sie für Brot und Erquickung und Aufenthalt ihrer Diener; heute noch, daß die heil. Orte dem Zwecke dienen. Ihre Bischöfe oder Pfarrer vereinigen die Gemeinen zu allem Guten und pflegen in ihnen alles Gute nach der Machtvollkommenheit ihres göttlichen Amtes; sie geben jedem guten Werk je nach Ort und Zeit das wortgetreue Maß; sie leiten und weiden die Gemeinden zu allem Guten! – Die Kirche im Ganzen, die Gemeinden im Einzelnen umfaßen alle guten Werke, – und was geschieht, geschieht in Einigkeit der Heerden mit den Hirten. Im Gehorsam gegen das Wort, ohne Geschwätz der Vereine und Hochmut der Vereinten, in heiliger Stille, mit mächtiger Kraft übt man alles, wozu der HErr Vermögen und Gnade darreicht. – So hat die Kirche mancherlei Geschäfte, wenn auch die Mittel, durch welche sie alles wirkt und zu allem Guten ermuntert, immer einerlei sind: das Wort, das Sakrament, das heil. Amt der Hirten.

 Wenig Mittel – viele gute Werke! Das ist der Kirche Art.


6. Ihre Predigt.


 Unter den Mitteln, welche die Kirche zum Heile der Seelen gebraucht, steht die Predigt oben an. Sie ist das Mittel, die da ferne stehen, herbeizurufen, und die Herbeigerufenen und Herbeigekommenen in Beruf und Erwählung festzumachen. Bei der Predigt legt es die Kirche nicht eben darauf an, das heil. Wort durch menschliche Kunst zu unterstützen; sondern die Hauptsache ist, seine Kraft und Wirkung nicht | zu hindern und dem Worte keine Art und Weise des Wirkens aufzudrängen, welche sich für dasselbe nicht eignet. Der Prediger verkündet das Heil in Christo JEsu mit dem Bewußtsein, daß nicht seine Zuthat, sondern der edle Inhalt des Wortes die Seelen von der Welt sondern und Gotte nahbringen müße. Zwar ist es natürlich, daß der Prediger glaubt und darum redet, und es ist ein häßlicher Widerspruch, zu predigen und selbst nicht zu glauben; aber ein rechter Prediger will nicht durch Darlegung seines Glaubens und Erfahrens die Wahrheit empfehlen; er würde damit nur sich empfehlen; vielmehr sucht er sein Volk dahin zu bringen, daß es mit jenen Samaritern sagen könne: „Wir glauben hinfort nicht mehr um deiner Rede willen, sondern wir haben selbst erkannt und geglaubt, daß dieser ist Christus, des lebendigen Gottes Sohn.“ Ein aufrichtiger Prediger tritt deshalb zwar nicht absichtlich zurück, aber er tritt auch nicht absichtlich vor, sondern er kommt mit dem Wort und das Wort mit ihm; er ist ein einfältiger treuer Zeuge des Wortes, und das Wort zeugt für ihn; er und das Wort erscheinen wie Eins. All sein Predigen ist auf heiliger Ruhe basirt. Auch wenn er straft und ihn der Eifer um Gottes Haus frißt, ists nicht der Zorn der unruhigen Welt, sondern der Zorn des unverletzbaren, friedenreichen Gottes, welcher in ihm erwacht. Nicht er ist es hauptsächlich, der da redet, sondern der HErr in ihm und durch ihn und seine Amtsführung ist des HErrn würdig. Alleweg ist es das Maß männlicher Reife, welches den kirchlichen Prediger auszeichnet.
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 Im großen Vertrauen auf das göttliche Wort verschmäht er deshalb jeglichen Methodismus. Er hat eine Methode, die der fach- und wortgemäßen Einfalt; aber gerade diese ist keines Methodismus fähig. Er will weder durch menschliche Beredsamkeit, noch durch Gefühlserregungen, noch durch das unreinere Mittel aufgereizter Nerven dem HErrn JEsu Freunde gewinnen. Nicht die Unruhe der Erweckung ist es, worauf er ausgeht, sondern der Umschwung göttlicher Gedanken. Gleichwie die Berufung zur Erleuchtung fortschreitet und jeder Fortschritt im innern Leben durch einen Fortschritt der Erkenntnis bedingt wird; so sucht er auch vor allen Dingen die heiligen Gedanken des göttlichen | Wortes recht bekannt, dem Gedächtnis, der Anschauung, dem Wohlgefallen, dem innersten Wesen seiner Zuhörer recht nahe zu bringen. Auch er verwirft die Gefühle der Menschen nicht, aber er erregt sie durch stilles Vorhalten des himmlischen Lichtes, oder vielmehr, er läßt dieß Licht leuchten und weiß dann gewis, daß mit dem Strahle auch Wärme ausgeht. Seine Schlagworte sind nicht „erwecken“ u. dgl., sondern jene Worte der Schrift, welche auf das allmähliche, stille Zunehmen des göttlichen Senfkorns deuten. Sein Dringen und Nöthigen ist nicht das Dringen und Nöthigen menschlicher Ungeduld, sondern das geduldige Ausharren bei dem Worte. Er wartet gerne und weiß, daß die köstlichen Früchte nicht über Nacht wachsen, und wartet auf alle seine Schafe, denn er weiß, daß der HErr Seine Stunden, Sein Eilen, aber auch Sein Verweilen hat.

 Der Prediger der Kirche ist also kein Freund der „neuen Maßregeln“, mit den Methodisten zu reden, sondern er bleibt bei den alten Maßregeln des geduldigen, treuen Anhaltens am Wort und an der reinen Lehre.

 Derselbe Geist ruhiger, sicherer, vorsichts- und zuversichtsvoller Weisheit regiert ihn bei der Wahl seiner Texte. Er freut sich der altherkömmlichen Pericopen und würde, auch wenn er dürfte, nicht gerne anstatt ihrer freie Texte oder fortlaufende Stücke der h. Schrift seinen Vorträgen in den Hauptgottesdiensten zu Grunde legen. Er behält wohl am liebsten die Evangelien für den Hauptgottesdienst, läßt die Episteln an ihrer Stelle in der Ordnung des Gottesdienstes und wird nicht müde, über die Evangelien zu predigen. Gleichwie sie das Volk am liebsten hört, so werden sie auch ihm immer voller und reicher, je öfter er darüber spricht. Er lernt, je länger er sie behandelt, die große Predigerweisheit, dem Unbekannten Eingang durch das Bekannte zu verschaffen und alle Lehren der Kirche an den allbekannten Texten zu zeigen. Wer alljährlich mit dem Texte wechselt, taugt nicht zum Prediger des Volkes, ja, man darf wohl sagen, der Kirche. Das immer Andere und Neue ohne Anschluß an die bekannten Texte geht allen und überall schwerer ein, leicht und gerne aber nimmt jeder | neue Gedanken an, wenn sie als frischerkannte Fülle alter Wahrheit erscheinen. Man mache nur vorurtheilsfrei Erfahrung. – Die Episteln erwählte man sich von Alters her zu den Früh- oder Nachmittagsgottesdiensten der Sonntage. Auch bei ihnen ist es wiederum der Anschluß ans Bekannte und Eine, was der Prediger sucht: die Episteln stimmen mit den Evangelien, die Apostel mit Christo – Ein Glaube ist überall zu finden, Eine Heilsordnung, Eine Heiligung. – Für die Wochenkirchen schlägt Luther fortlaufende Erklärung der h. Schrift vor. Aber auch sie wählt ein verständiger Prediger nicht dazu, daß er, was doch nicht gelingt und nicht möglich ist, die Schrift vollständig und im Zusammenhang der Worte erkläre. Er begehrt nicht jede Conjunction und Präposition, jedes Nomen, jedes Verbum aufs genauste zu erklären; sondern überall sind es die klaren Stellen, die er herausnimmt und durch welche er das der Gemeinde Bekannte stärken und in neuem Lichte zeigen kann. Seine Weißagung ist immer dem Glauben ähnlich, und er gibt immer seinem Volke das, was es am bereits empfangenen Lichte, am Lichte seines Catechismus und der Evangelien, verstehen kann. Nicht zunächst Erklärung der Dunkelheiten, sondern Bestätigung und Bewährung im Klaren ist es, was er will und beabsichtigt. – Das ist der Weg der Einfalt, dem jede Gabe ersprieslich ist, der für jede Gabe gangbar ist, der nicht so gelehrt und bibelweise aussieht, als manch anderer Weg, der sich aber erweist und bewährt. Er ist klar gezeigt in der Verschiedenheit der Bibelauslegung Dr. M. Luthers auf der einen und Calvins auf der andern Seite. Diesem ist Bibelkenntnis und Erkenntnis des Schriftverstandes nächstes Ziel, jener sucht überall die Regula fidei, die klare Lehre der Schrift neu zu bestätigen. Daher ist Calvin so genau (wie es allerdings für Theologen ersprieslich sein kann!), Luther aber verfährt eklektisch, großartig seelsorgerisch, immer gegürtet und an Beinen gestiefelt, zu treiben das Evangelium des Friedens und den Einen Glauben; und das ist nöthig den schwankenden Gemüthern beides der Laien und der Verständigen.


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7. Ihr Catechismus.


 Der kleine Catechismus Luthers ist ein Bekenntnis der Kirche und zwar unter allen Bekenntnissen dasjenige, welches dem Volke am angenehmsten und geläufigsten ist. Es ist eine Sache, welche niemand läugnet, daß kein Catechismus der Welt gebetet werden kann, als der. Aber es ist weniger bekannt, als wahr, daß er ein wahrhaftiges Wunder genannt werden kann in Anbetracht der außerordentlichen Fülle und des großen Reichtums an Erkenntnis, welche hier in so wenigen Worten ausgesprochen ist. Denn der versteht ihn nicht, gewis nicht, welcher ihn der Armut und Dürftigkeit zeiht. Justus Jonas meinte: „er koste wohl nur 6 Pfennige, aber er sei nicht mit 6000 Welten zu bezahlen.“ Das sagte er von seinem Reichtum und von seiner Fülle. – Jedoch, wir wollen das Lob des kleinen Catechismus auf ein anderes mal versparen, und hier nur von der kirchlichen Behandlung dieses Catechismus, dieses herrlichen Gnadenmittels Gottes, reden. Zweierlei ist es, was wir hier zu bemerken haben.

 1. Manche behandeln den Catechismus wie einen Standpunkt, von welchem man ausgehen und um ihn her die ganze Peripherie der h. Lehre ziehen müße. Sie erklären den Catechismus dermaßen, daß sie ihn mit der Menge ihrer Erklärung und Zuthat bedecken, unsichtbar machen, tödten. Es thut ihnen wohl, bei Gelegenheit ihres Catechismusunterrichts ihr dogmatisches Collegium zu repetieren, wozu sie etwa sonst keine Zeit oder Lust haben. Sie halten ein langes, dogmatisches Soliloquium vor den Ohren der armen Kinder, die dann gar wenig davontragen. Jeder Pfarrer, jeder Schullehrer erklärt so den Catechismus, gewinnt für sich vielleicht ein weniges, aber was hat die Kirche davon? Wenn noch Tausende von Catechismuserklärungen gedruckt werden, daß es eine ganze Sindflut wird; so wird doch Luthers ipsissimum verbum die Arche auf der Flut bleiben, die etliche erhält, während die Sindflut selbst tödtet.

 Man soll vielmehr den Catechismus zum Zweck des Unterrichts | machen. Er ist ein reiner Widerschein des göttlichen Worts, eine Laienbibel und eine Lust der Theologen. Er ist selbst die Peripherie, welche der Lehrer in Mitte seiner Schüler zeigen, einprägen, verstehen lernen soll. Den Wortverstand des kleinen Catechismus haben, ist keine Kleinigkeit. Man las sonst auf den Universitäten Collegia drüber, sonst d. i. in Zeiten, wo man mehr als jetzt allgemeines Wißen vom Glauben fand. Dagegen kann man überzeugt sein, daß heut zu Tage unter Hunderten von Pfarrern, geschweige von Schullehrern, nur einzelne zu finden sind, die den Wortverstand des Catechismus so verstehen, daß sie den Gedankenreichtum desselben vorlegen können, – und keinen unter allen wird man finden, der sich scheuen dürfte, unter die Zahl der einfältigen Pfarrherren zu treten, für die er gemacht ist. – Kurz! der kleine Catechismus ist ein Maß, das für alle gerecht ist, für Groß und Klein. Drum soll man nicht zuthun, nicht abthun; sondern schön bei seinen Worten bleiben und vor allen Dingen das Volk wieder zu der Höhe der Erkenntnis emporbringen, daß es weiß, was im Catechismus steht und was es an ihm hat. – Der Lehrer, der den Wortverstand und Wortgehalt dieses Catechismus seinen Kindern einprägt, hat ihnen mehr gegeben, als heut zu Tage die meisten Lehrer ihren Confirmanden geben. Und wer den Lehrern zu dieser Kunst der Einfalt verhälfe, daß sie das wieder könnten, der hätte ihnen einen großen Dienst geleistet und durch sie der Kirche. Denn das Volk hätte dann wieder ein reines Maß, woran es alles meßen und richtig beurtheilen könnte, damit es nicht sich wägen und wiegen ließe von jeglichem Wind der Lehre, Schalkheit der Menschen und Täuscherei, sondern die große Gnade, das köstliche Ding erlangte, daß sein Herz fest würde in Gottes Wort.

 Dahin zielt ein kirchlicher Lehrer – und freut sich, am kleinen Catechismus für sich ein Maß im Lehren, für andere ein Maß zum Lernen gefunden zu haben!

 2. Wie viele kennen den kleinen Catechismus, aber nicht seine Vorrede, welche zusammen mit der Einleitung zum großen Catechismus eine unübertreffliche, einfältige, wahrhaft kirchliche Methode des Catechismusunterrichts | an die Hand gibt. Und wie mancher kennt hinwiederum beide Vorreden, ohne bemerkt zu haben, daß der Catechismus nicht blos für Kirche und Schule, sondern auch für das Haus geschrieben ist. Haus, Schule und Kirche werden Eine Kirche durch den lieben Catechismus. Warum läßt man denn den wichtigen Factor des Hauses weg? Der Catechismus wird darum so elend gelernt und geleiert, klingt deshalb so hölzern und schaal, weil man ihn nicht fürs Haus, nicht fürs tägliche Leben, nicht als eine Lebensweisheit, sondern als eine Kinder- und Schulaufgabe behandelt. Gleichwie ein Feldgeschrei auf die Lippen aller gehört, welche zu einem Heerlager vereinigt sind; so gehört der Catechismus als ein geistliches Feldgeschrei auf alle Lippen. Der Hausvater, die Kinder, das Gesinde sollen ihn treiben, beten, lernen, schätzen; so wird er zum Oelkrüglein der Sarepterin werden, dem das Oel nicht fehlt. Ja, wenn der Catechismus erst wieder zum Hausbuch wird, dann wird man inne werden, was für Stärkung der Kirche insgemein für alle ihre Werke daraus zugeht. Er ist eine norma normata, eine göttlich-menschliche regula fidei – göttlich im Text, menschlich im treuen „Was ist das?“ – ein Symbolum, ein Feldgeschrei, welches, aus der Tiefe der Seele gesprochen, die Bollwerke des Satans niederwerfen kann! – Er soll empfohlen, in seinem göttlichen Grunde, seiner norma normans nachgewiesen, immer aufs neue an Gottes Wort gehalten, in der Predigt angeführt, gepriesen werden, auf daß er die Einheit der Kirche stärken helfe und Groß und Klein, Gelehrt und Ungelehrt etwas haben, worin sie einig sind und sich im Wirrwarr der Zeit einig wißen!




 Es lautet so leicht und gering, und liegt doch so viel daran!


8. Ihre Seelsorge.


 Unsre Zeit, eine Zeit der Einseitigkeiten und Experimente, hat ihre Hoffnung schon auf mancherlei gestellt. Sie hoffte immer, der | schmale Weg solle nun bald breit werden, und dazu sollte ihr bald die Predigt, bald die Schule, bald die Seelsorge helfen. Ohne die Seelsorge, hieß es zuletzt, wird nichts ausgerichtet. Und da giengs denn in ein Laufen und Rennen und Seelsorgen hinein, daß man wohl sah, es müße bald, in ganz kurzer Frist die Erfahrung geliefert sein, daß auch damit der Weg nicht breit werde. Man vergaß, daß Predigt und Sacrament und Katechese, ja auch die Liturgie in Wahrheit und auf recht großartige Weise für die Seelen sorgen, und daß die Seelsorge der Einzelnen von dem guten Willen der Einzelnen, d. i. von der Frucht der Predigt, des Sacraments, der Katechese abhänge. – Dazu hatte man vergeßen, daß die Privatseelsorge eine große Tugend, Weisheit und Gabe voraussetze, daß nicht jeder, der sich Seelsorge vornimmt, auch gleich zu ihr geschickt sei. Durch Laufen, Rennen und Reden wird der Mangel an Weisheit nicht ersetzt, nicht der Mangel an Gabe und Tugend. Es wurden daher viele Fehler gemacht und der Zweck zum Theil durch Schuld der Seelsorger verfehlt.
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 Vor allem aber übersah man das Centrum der Seelsorge, den Beichtstuhl. Seitdem man die Privatbeichte und die mit ihr verbundene Exploration, sammt der Privatabsolution nicht mehr übt, findet der Pfarrer nicht blos keinen feierlichen, stillen, abgeschiedenen, unverdächtigen Ort mehr für die Seelsorge, sondern auch keine unnahbare, heilige Stellung zum Beichtkind. Eben dadurch geht dem Seelsorger, wie dem rathsuchenden Beichtkind, die rechte Stimmung ab; keines kann sich dem andern mehr hingeben; einer lächelt fast den andern verlegen an, wenn sies versuchen, der eine, Gottes Wort für Eine Person zu theilen, der andere, ein Wort des Pfarrers als Gottes Wort für Eine Seele anzunehmen. Man erfährt, welch ein wichtiges Ding es ist, eine von Alters her fest stehende Anstalt, ein allgemein geachtetes Institut der Seelsorge zu haben. Man hat buchstäbelnd dem Institut die göttliche Begründung zu rauben versucht und nun geht auch den willigen Seelen der Zweifel an der Göttlichkeit gespenstig nach. Es hat nie eine größere Versündigung an der Seelsorge gegeben, als da man ungerechte Gewißensbedenken mancher, mit | ihren Pflichten und Rechten, mit der Art und Weise der Absolution nicht vertrauter Beichtväter zur Ursache machte, dem Seelsorger die Exploration, dem Beichtkinde die Wohlthat der Privatbeichte und Absolution zu nehmen. Alle andern Wege der Privatseelsorge erweisen sich als nur ungenügende, oft gar nicht ausführbare Surrogate der Privatbeichte. Hausbesuche und Citationen etc. – es entbehrt alles mit einander der Vortheile des Beichtstuhls. Darüber wäre viel zu sagen!

 Nicht die päpstliche Ohrenbeichte sammt dem, was an ihr hängt, aber die Privatbeichte, die Exploration, die Vermahnung, die Privatabsolution wird gebieterisch gefordert, wenn man recht für die Seelen sorgen soll. Nur durch ihre Zurückführung an die noch leere Stätte gewinnt die Seelsorge Halt und kirchliches Ansehen, – und alle Inconvenienzen, welche in Betracht und Erwägung kommen, laßen sich in demselben Maße, wie bei jeder andern Anstalt dieser Welt, vermeiden, wenn man nur nicht träge, noch ungeduldig ist. – Es wird die Wiedereinführung so schwer nicht sein, als man sichs denkt. Die Beispiele liegen vor, daß es wohl geht. Freilich aber wird man sich vornherein gerne und willig in die Mühen einer neuen Gewöhnung fügen müßen! Je mehr aber die Gewöhnung vorwärts schreitet, desto mehr zeigt sich in dieser Sache der Segen.

 Indes ist die Privatbeichte eine halbe Maßregel, wenn nicht zugleich der Bindeschlüßel dem überlaßen bleibt, der den Löseschlüßel führt. Verweigerung der Absolution und des h. Abendmahles muß in der Hand des einzelnen Pfarrers liegen. Es muß auf festen Bestimmungen ruhen, wem die Absolution und das Sacrament zu verweigern ist und in welcher Weise zu verfahren sei. Die Verweigerung selber aber im einzelnen Fall muß dem Pfarrer zustehen, obschon so, daß er der Kirche für sein Thun verantwortlich bleibt. Ein frommer Pfarrer weiß auch in diesem Stück Strenge und Güte zu vereinen; ein gottloser wird leicht ans Licht kommen. Was hilfts, daß man den Pfarrer auch für ganz ungezweifelte Fälle von dem Superintendenten etc. abhängig macht? Es kommt ja doch dann wieder auf des Pfarrers Bericht und resp. wie zuvor, auf sein Gewißen an. Dazu geht heut zu Tage alles auch | in dergleichen Dingen den papierenen, langweiligen, formalen Weg, der so trüglich ist. Mit vollstem Rechte wehrt sich schon A. H. Francke gegen Consistorialformalien in eigentlich geistlichen Dingen, und er hat doppelt Recht, wenn die Consistorien nichts sind, als judicia ecclesiastica magistratus territorialis. – Da helfe Gott der Kirche zur rechten Praxis! Die Absolution wird theuer, wenn es auch eine Excommunication gibt. Der Trost wird geschätzt, wenn er nicht in allen Fällen gegeben wird. Dagegen wird das ganze Institut der Beichte verlacht, wenn man zuvor weiß, daß jeder getröstet, jeder absolvirt wird. Es ist doch so einfach, so gar einfach, daß man nicht begreifen kann, welch andere Gründe, als weltliche und sündliche, die Kirche zurückhalten, alle ihre Rechte und Pflichten zu üben. Denn sie übt die Pflicht der Seelsorge gewis nicht, wenn sie nicht das Recht des Bindeschlüßels gebraucht. Leise Seelsorge taugt nicht, es ist auch ihre Liebe anzuzweifeln. Seelsorge ohne Erziehung und Zucht ist ein Unding. Der Väter Sanftmut wirkt nur, wenn sie im rechten Fall auch streng sind, gleichwie die Strenge nur bei einem Manne, der sanft zu sein vermag zum Heil der Seinen, den rechten Eindruck macht.

 Wißen wir das, so wollen wirs auch üben, damit die Kinder der Kirche sich freuen und mehren! Denn das Geschrei der Feinde ist ohne Belang.


9. Ihre Liturgie.


 Die Kirche ist nicht blos eine lernende, sondern auch eine betende. Sie betet nicht blos in ihren einzelnen Gliedern in den Kammern, sondern zusammen in Haufen in ihren Versammlungshäusern. Sie betet sprechend, sie betet singend an. Und der HErr wohnt unter ihren Lobgesängen mit Seinen Sacramenten. Ihr Nahen zu Ihm, Sein Nahen zu ihr, – die hh. Formen ihres Nahens, Seines Kommens nennen wir die Liturgie. – Diese Formen sind frei, wenige Stücke sind gebotene Sache. Aber trotz der Freiheit hat sich die Kirche von Anfang her für gewisse Formen mit Wohlgefallen erklärt. Eine heilige | Manchfaltigkeit des Singens und Betens hat sich gebildet und ein lieblicher Gedankengang des Nahens und Fernens von dem HErrn HErrn hat sich beliebt gemacht. Wie die Sterne um die Sonne, so wandelt die Gemeine in Gottesdiensten voll Lieblichkeit und Würde um ihren HErrn. In heiliger, kindlicher Unschuld, die auch nur ein kindliches, unschuldiges Herz recht versteht, bewegt sich die Schaar erlöster, geheiligter Gotteskinder feiernd um den allgemeinen Vater und um das Lamm, und der Geist des HErrn HErrn führt ihren Reigen. Es ist nicht auszusagen, welch eine Seelenlust und welche Himmelswonne für diejenigen, die so etwas genießen können, in der Theilnahme an der Liturgie liegt; auch spricht sie, von frommen Herzen gefeiert, den minder Frommen mächtig an, und keine lieblichere Gestalt, keine lockendere Freundlichkeit beweist das reine Bekenntnis, als wenn es anbetend und lobsingend vernommen wird.
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 Das hat man zur Zeit der Reformation wohl erkannt. Man hat deshalb die überlieferten, uralten, schönen Formen mit nichten abgethan, sondern nur von Sünde und Unzier gereinigt. Es gibt eine große Schaar von lutherischen Liturgien, welche Manchfaltigkeit und Einfalt vereinen. Dazu werde der herrlichen Menge schöner, unnachahmlicher Lieder gedacht, welche seit 300 Jahren Gott zu Ehr und Preis gesungen wurden. Unsre Kirche hat einen großen liturgischen Reichtum in ihren Vorrathskammern und es fehlt nur, daß sie ihn recht gebrauche. – Aber freilich, das wars, woran es ihr in den Tagen ihrer tiefen Schmach, die nun eben untergehen, gebrach. Ihre Kinder verloren mit dem Glauben Gebet und Lied, Schmuck und Zier der Gottesdienste, und nun ist es der Mutter nicht leichte Arbeit, die alten Kinder zu dem alten Glauben, die jungen Kinder zum Bekenntnis der Vorväter, alle zusammen zu jener Unschuld und dem kindlichen Wesen zurückzubringen, das sich singend und betend vor Gott freuen kann. Es muß auch hier erst wieder eine Gewöhnung eintreten und was unnatürlich geworden ist, muß natürlich werden durch Gebrauch. Darum scheue man sich doch nicht, den Anfang zu machen! Wer seine Lust schauen | will an den Gottesdiensten des HErrn, der eile, auf daß er erquickt werde, ehe er hinfährt aus der Zeit. Zwar ist die Liturgie eine Frucht des inwendigen Lebens, aber gleich einer süßen Frucht des guten Baumes kann sie auch zur Speise dienen, die nach mehr verlangend macht. Man scheue sich nicht, die Liturgie zu lehren! Sie wird gelehrt, wie der Catechismus; sie kann Lippenwerk sein, wie dieser, aber sie muß es nicht! Man kann vorsehn, daß sie’s nicht wird, und ungelehrige Seelen zieht man nicht herbei.

 Man hüte sich jedoch, die liturgische Freiheit zur Erzeugung neuer Liturgien zu misbrauchen. Man gebrauche sie viel lieber, am Alten erst Verstand und Geschmack der Sache zu lernen, ehe man sich für fähig hält, Neues und Beßeres zu geben. Wer das Alte nicht erprobt hat, kann nichts Neues geben. Es ist ein Jammer, wenn jeder sich so seine eigenen Gedanken über Lied und Liturgie macht, ohne je der Sache gründlich auf den Boden gesehen zu haben. Man lerne doch erst in der Stille und thue nicht, als ob sichs von selbst verstünde, daß man alles verstehe! – Hat man erst am Alten gelernt, so kann man den Gewinn der neuen Zeit (Sprache und Sprachform) zum Besten der Liturgie anwenden.

 Dabei protestire man aber feierlich gegen das opus operatum und die Ueberschätzung des Aeußern. Die Kirche bleibt, was sie ist, auch ohne Liturgie. Sie bleibt Königin auch im Bettlergewande. Es ist beßer, daß alles dahin falle und nur die reine Lehre ungefährdet bleibe, als daß man im Schmuck und in der Zier herrlicher Gottesdienste wandele, denen Licht und Leben mangelt, weil die Lehre unrein geworden ist. – Jedoch es werde nur der Protest oft und feierlich eingelegt, so wird man nicht nöthig haben, die Kirche im Bettlergewande gehen zu laßen! Vielmehr werden sich dann ihre Gebete, ihre Lieder, ihre h. Ordnung, die hh. Gedanken ihrer Liturgie dem Volke auf unschuldige Weise einprägen und in Predigt und Catechese wie ein lebendiges Buch zu Beweis und Nachweis brauchen laßen. Der wahre Glaube wird nicht allein in der Predigt laut werden, sondern er wird durch Gebet eingebetet, durch Gesang eingesungen werden. Die Liturgie | wird alsdann der Kirche zu neuer Befestigung gegen ihre Feinde dienen. Sie wird eine h. Schutz- und Trutzwaffe in des HErrn Kriegen sein.


10. Ihre Hoffnung.


 Je mehr die Kirche sich selbst, ihre Grundfeste der h. Lehre, ihre Stellung unter den Confessionen und in der Welt, ihren Beruf erkennen und die ihr sich darbietenden Mittel gebrauchen wird, – ein desto größerer Segen wird ihrer Treue folgen. Unsre Kirche ist seit 300 Jahren durch alle Nöthen und Bedrängnisse gegangen, die man sich denken mag. Eine Zeit des hellen, glänzenden Hervortretens zum Heile der Welt hat sie noch nie gehabt, wenn man die Zeit der Reformation ausnehmen will. Nun lehren wir zwar, daß die Kirche nicht herrlich sein müße; aber wir lehren doch, daß sie herrlich sein könne. Warum soll nun nicht eine Zeit erscheinen, wo sie ihr Licht leuchten läßt, daß die Leute ihre Herrlichkeit und ihre guten Werke sehen und den Vater im Himmel preisen? Sie ist zwar nicht mit der unsichtbaren Kirche gleichbedeutend; auch unter ihrem Haufen gibt es Heuchler genug, die verloren gehen; auch bekennen sich nicht alle Kinder Gottes auf Erden zu ihr, manche werden in andern Confessionen durch Stücke ihres Reichtums satt zum ewigen Leben. Aber sie ist ja doch unter den Abtheilungen der allgemeinen sichtbaren Kirche die reinste, rein an Lehre und Bekenntnis, eine menschliche Parallele der göttlichen Parallele des h. Wortes, und wer ihr Wort und Bekenntnis in sich zum Leben kommen läßt, ist ohne Zweifel ein Kind Gottes, ein Erbe des Himmels, ein Miterbe JEsu Christi. Wenn nun einmal an den Orten, wo man sich äußerlich zu ihr bekennt, das Bekennen ein rechter, heiliger Ernst würde, wenn man wirklich ihres Bekenntnisses einig würde und eben damit die Fähigkeit bekäme, sie, ihren Beruf und ihr h. Ziel recht zu erkennen: warum sollte man dann nicht hoffen dürfen, im Morgenroth ihres Ehrentags zu stehen? Und wenn nun heut zu Tage, wie es doch offenbar ist, wieder viele in ihr einig geworden sind; wenn das Bekenntnis der Väter, wie doch jedermann hören kann, in allen lutherischen | Landen wieder laut erschallt; wenn sich viele über Land und Meer weg die Bruderhand reichen und ohne Verabredung einig sind, die h. Wahrheit der lutherischen Kirche aller Orten zu predigen und das Haupt nicht niederzulegen, es sei denn, daß man alle Kräfte Leibes und der Seele an die Ehre dieses Bekenntnisses gesetzt habe; was hinderts denn, zu glauben, daß wir im Morgenrothe ihres Ehrentages stehen? Der HErr ist unter uns! Spüren wirs etwa nicht? Laßt uns einig sein, Brüder, und unsre Einigkeit in der uralten Wahrheit und die Freude am HErrn sei unsre Stärke! Laßt uns die h. Kirche in Mitte der Confessionen würdiglich vertreten, in Lieb und Ernst! Laßt uns die Aufgabe unsrer Kirche in Betreff der Missionen erkennen und ihre Fackel in alle Lande tragen! Laßt uns einig sein! Laßt uns einig sein vor unserm Volke! Einerlei Wort und Lehre, einerlei Praxis der Lehrer, einerlei Lobgesang sei unter uns! Laßt uns eifern für die Einigkeit! Wir haben es Ursache. Einigkeit machte zwölf Apostel stark. Einigkeit macht auch uns stark. Unsre Einigkeit ist im allmächtigen Wort des Allmächtigen, welches alle Feinde niederlegt! Wir wollen einig sein – so werden wir schauen das Glück Jerusalems unser Leben lang. Wir werden des fröhliche Freude haben, die Welt aber wird erkennen, daß wir Seine Jünger sind. Denn es hat unsrer Kirche nie etwas gefehlt, um mit vollsten Händen Segen über die Welt auszustreuen, als die Einigkeit.
Ein Gott! Ein HErr! Ein Glaube! Eine Taufe!
Ein Ausgang, Ein Weg, Ein Eingang! Was
 wird uns fehlen?
 Gelobt sei Gott, der uns hilft!


Amen.





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