Die soziale Medizin und soziale Hygiene (1914)

Textdaten
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Autor: Theodor Rumpf
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Titel: Die soziale Medizin und soziale Hygiene
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band, Zehntes Buch, S. 259–288
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[1403]
Die soziale Medizin und soziale Hygiene
Von Geh. Medizinalrat Dr. Th. Rumpf, Ord. Hon.-Professor der Universität Bonn


Völlig neue Aufgaben.

Die soziale Gesetzgebung, welche der Anregung des großen Kaisers Wilhelm I. ihre Entstehung verdankt, aber erst im Jahre 1911 in der Reichsversicherungsordnung und dem Versicherungsgesetz für Angestellte einen vorläufigen Abschluß erhielt, stellte die Ärzte vor völlig neue Aufgaben. In die engen Beziehungen zwischen Kranken und Arzt trat der Staat mit seinen Anforderungen und Bestimmungen. Allerdings war das teilweise schon früher der Fall. Die alte Staatsarzneikunde hatte auch diese Anforderungen umfaßt. Aber seit Jahrzehnten hatte sich diese in die gerichtliche Medizin und die Hygiene als selbständige Fächer aufgelöst, und es blieben fast unberücksichtigt in Forschung und Unterricht einzelne Gebiete der Staatsarzneikunde übrig, welche die ärztliche Tätigkeit im allgemeinen Interesse betrafen. Dazu gehörten die Tätigkeit für Armenverwaltungen, staatliche Behörden, eine kleine Zahl von Krankenkassen, ferner die Aufgaben bei den früher noch mangelhaften Maßnahmen gegen ansteckende Krankheiten und bei Bekämpfung der Nahrungsmittelverfälschung. Durch die soziale Gesetzgebung, weiterhin durch die Gesetze zur Bekämpfung der Seuchen und ansteckenden Erkrankungen und alle anschließenden dem Allgemeinwohl gewidmeten Gesetze, Verordnungen und Bestrebungen erfuhren diese ärztlichen Aufgaben eine früher völlig ungeahnte Erweiterung, und es entstand in den letzten Jahrzehnten ein völlig neuer Zweig der Heilkunde, die soziale Medizin.

Vielfach wird in neuerer Zeit für einen Zweig der sozialen Medizin, die soziale Hygiene, eine Sonderstellung erstrebt. Beide miteinander verknüpfte und ineinander übergehende Gebiete betreffen die gesundheitlichen, rechtlichen und volkswirtschaftlichen Beziehungen, welche aus der ärztlichen Tätigkeit und wissenschaftlich-ärztlichen Forschung gegenüber dem Einzelnen als solchem oder in der Berufstätigkeit des Arztes für die Allgemeinheit erwachsen. Während man unter der sozialen Medizin im engeren Sinn vorwiegend die Beziehungen der praktischen ärztlichen Tätigkeit in der Behandlung des Einzelfalls zur Allgemeinheit versteht, beschäftigt sich die soziale Hygiene mehr mit den allgemein ärztlichen, wissenschaftlichen und Verwaltungsaufgaben, welche aus der Erkennung und Behandlung des einzelnen Krankheitsfalls oder einzelner Gruppen in Beziehung auf Arbeite und Lebensbedingungen für die Gemeinschaft des Volkes sich ergeben.

Diese beiden Zweige der Heilkunde haben sich erst unter der Regierung Kaiser Wilhelms II. entwickelt. Sie haben ihre Wurzeln in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, [1404] aber erst in den letzten beiden Jahrzehnten haben sie eine selbständige Entwicklung erfahren und eine große Bedeutung erlangt, welche leider von den medizinischen Fakultäten und unter deren Einfluß von dem Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten nicht genügend gewürdigt wird. Viele Schwierigkeiten und Schädigungen sind aus dieser Tatsache den Interessenten der sozialen Gesetzgebung und dem Allgemeinwohl erstanden, die erst mit der systematischen Ausbildung aller Ärzte auf diesem Gebiet schwinden werden.

Die Entwicklung der sozialen Medizin (im engeren Sinn).

Umgestaltung der ärztlichen Tätigkeit.

Ohne daß eine entsprechende Ausbildung der Ärzte auf dem Gebiet der sozialen Gesetzgebung mit ihren neuen Anforderungen statt gehabt hatte, traten die Gesetze in Kraft. Es ist naturgemäß, daß die völlige Umgestaltung der ärztlichen Tätigkeit, welche zwischen den hilfesuchenden Kranken und den Arzt die Mitwirkung der gesetzlichen Träger der Versicherung (Krankenkassenvorstand, Berufsgenossenschaften, Versicherungsanstalten) einschob, die Lebensinteressen des ärztlichen Standes eingehend berührte. Diese Tatsache machte sich um so stärker geltend, je mehr die Zahl der Klienten der sozialen Versicherung anstieg. Sie trat am intensivsten bei der Krankenversicherung in Erscheinung.

Hatten die Ärzte früher vielfach die kassenärztliche Tätigkeit im Nebenamt ausgeübt, so zeigte die Entwicklung, daß diese Tätigkeit vielfach zum Hauptamt wurde, und daß neben einer übermäßigen Inanspruchnahme einzelner Kassenärzte die Mehrzahl der jüngeren Ärzte keine Beschäftigung fand.

So entwickelte sich in Ärztekreisen, welchen diese Nachteile zuerst auffielen, eine gewisse Unzufriedenheit mit den Folgen der Krankenversicherung. Diese Unzufriedenheit wuchs durch manche Vorkommnisse bei den Kassen. Veranlaßt durch die große Zahl wenig beschäftigter Ärzte bemühten sich einzelne Kassenvorstände, die Ausgaben für ärztliche Behandlung möglichst herabzudrücken, bei anderen Kassenvorständen ergaben Gerichtsverhandlungen, daß sie Kassenarztstellen gegen Bezahlung abgaben, daß ein Zehntel des ärztlichen Honorars in die sozialdemokratische Parteikasse abgegeben werden mußte (Altona). Auch anderweitige Beeinflussung der Kassenärzte wurde versucht, so daß einzelne schwache Charakter unter den Ärzten der sozialdemokratischen Partei beitraten. Gerichtsverhandlungen ergaben außerdem, daß gut bezahlte Stellen an Kassen nicht wegen der Leistung für die Krankenkassen, sondern als Belohnung wegen agitatorischer Tätigkeit für Parteizwecke verliehen wurden. Auch Verschwendung und anderweitig ungesetzliche Verwendung von Kassengeldern kam nicht selten vor. Die Stellung der Kassen als Organe der Selbstverwaltung machte ein staatliches Eingreifen sehr schwer.

Leipziger Verband.

Die deutschen im Ärztevereinsbund vereinigten Ärzte versuchten zunächst durch Petitionen an die Behörden [1405] und gesetzgebenden Körperschaften Abhilfe zu schaffen; als aber ihre Petitionen keinen Erfolg hatten, schlossen sie sich zur Selbsthilfe im Leipziger Verband zusammen. Ihre Bestrebungen gingen dahin, daß die Kassenarztstellen nicht mehr nach Willkür des Vorstandes vergeben werden sollten, daß alle Ärzte, welche zur kassenärztlichen Tätigkeit bereit waren, zu dieser zugelassen werden sollten (beschränkte freie Arztwahl), und daß eine Vertragskommission der Ärzte die nötigen Kassenverträge abschließe. Gleichzeitig wurde eine angemessene Honorierung der kassenärztlichen Tätigkeit verlangt, die zum Teil weit unterhalb der gesetzlichen Honorierung für die Einzelleistung an Armenverbände stand. Diese Bestrebungen waren um so mehr gerechtfertigt als durch die Fortschritte in den diagnostischen Methoden und der Behandlung die Anforderungen an die Leistungen jedes gewissenhaften Arztes wesentlich größere geworden waren als in früherer Zeit. Innerhalb kurzer Zeit waren von etwa 33 000 deutschen Ärzten 25 000 im Leipziger Verband vereint.

Kampf mit den Kassenvorständen.

Gegen diese Bestrebungen erhoben die Kassenvorstände teilweise einen Sturm der Entrüstung. Sie fürchteten, daß eine wesentliche Erhöhung der Kassenausgaben durch höhere Ausgaben für Ärzte und Arzneimittel stattfinden werde, daß die alten patriarchalischen Beziehungen des Kassenvorstandes zum Kassenarzt aufhören würden, da die vom Vorstand unabhängigen Ärzte kein intensives Interesse an der Kasse haben könnten, und so die Krankheitssimulation und die ungerechtfertigte Ausnutzung der Kassen stark zunehmen werde. Alle diese Befürchtungen haben sich bei den vom Leipziger Verband vorgeschlagenen Kontrolleinrichtungen teilweise als falsch, teilweise als stark übertrieben herausgestellt, wie es die Ärzte von Anfang an behauptet hatten, und wie es der Rendant der großen Magdeburger Ortskrankentasse Müller an einem großen Zahlenmaterial bewiesen hat. Einzelne Kassenvorstände glaubten allerdings aus der Zusammenstellung ihrer Einnahmen und Ausgaben beweisen zu können, daß eine völlig unerschwingbare Erhöhung der Arzt- und Arzneikosten infolge der freien Arztwahl erfolge, andere verschmähten die Einrichtung der ärztlich empfohlenen Kontrolleinrichtungen, um die Unmöglichkeit des Systems der freien Arztwahl demonstrieren zu können. Allerdings kann die Erhöhung der Kassenausgaben nicht bestritten werden. Aber ein größerer Teil dieser fällt nicht der Versorgung mit ärztlicher Hilfe im alten Sinne zur Last. Einzelne Kassen haben eine Erhöhung des Krankengeldes und eine Ausdehnung der Krankenpflege eintreten lassen, andere haben Rekonvaleszentenhäuser errichtet, deren Betrieb pro Kopf und Tag etwa die doppelten Kosten eines Krankenhausaufenthaltes erfordert, viele Kassen lassen, was nur auf das wärmste begrüßt werden kann, ihren Klienten zahnärztliche Hilfe zuteil werden. Die Kosten für Zahnärzte machten bei der Krankenkasse für kaufmännisches und Bureaupersonal in Düsseldorf im Jahre 1912 18% des ärztlichen Honorars aus, unter welches dieselben, wie der Kassenvorstand auch betont, gerechnet werden. Die vielfach eingeführte ärztliche Hilfe für Familienangehörige der Kassenmitglieder hat die Ausgaben für ärztliche Leistungen um mehr als 60% ansteigen lassen (Bonn). Auch die Kosten für Heildiener, Masseure, Hebammen werden unter den Ausgaben [1406] für ärztliche Hilfe geführt, wodurch ein klarer Überblick erschwert wird. Weiterhin werden die Kosten der Kasse auch dadurch erhöht, daß die Ansprüche der Kassenmitglieder gewachsen sind.

Aber auch unter Berücksichtigung dieser Momente muß betont werden, daß nicht alle Ärzte den Interessen der Kasse genügend Rechnung tragen und einzelne, besonders jüngere, in Unkenntnis der Krankenkasseneinrichtungen in der Verordnung von Medikamenten und Stärkungsmitteln für ihre Patienten über das zulässige Maß hinausgingen. Je mehr aber die Vorstände der Krankenkassen und die Vertragskommissionen zu gemeinschaftlicher Arbeit und unter Würdigung der verschiedenen Interessen zusammenarbeiten, um so günstiger gestalten sich die Verhältnisse. Es ist zu hoffen, daß die gesetzlichen Bestimmungen der RVO. über die Beziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen einen gangbaren Weg zum Ausgleich der Gegensätze ermöglichen.

Von besonderer Wichtigkeit ist aber, daß die Krankenkassen auch Mittel zur Krankheitsverhütung aufwenden können. Hier bietet sich den Kassenvorständen und Ärzten ein neues Feld erfolgreichen Zusammenarbeitens.

Auch die Unfallversicherung brachte den Ärzten teils durch Ausgestaltung des Heilverfahrens, teils durch die erforderlichen Begutachtungen Verletzter viele neue Aufgaben. Insbesondere die Frage nach den ursächlichen Beziehungen zwischen Erkrankungen und Unfällen, die Frage der Vortäuschung entschädigungspflichtiger Verletzungen, beschäftigte und beschäftigt die Ärzte und Volkswirte noch heute in hervorragendem Maße. In der Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung stellte die Beurteilung der reichsgesetzlichen Invalidität, sowie der Zweckmäßigkeit des Heilverfahrens nicht minder schwierige Anforderungen an das ärztliche Wissen. Das gleiche gilt bei ärztlicher Inanspruchnahme durch die Oberversicherungsämter und das Reichsversicherungsamt. Ähnliche Aufgaben wird auch das Versicherungsgesetz für Angestellte den Ärzten bringen.

Die Gestaltung der ärztlichen Pflichten und Rechte.

Hygienische Bestrebungen.

Der durch eine Prüfung approbierte Arzt hat zunächst den Charakter einer dem Staat zu Diensten verpflichteten Medizinalperson, indem ihm die Feststellung, Anzeige und Prophylaxe gemeingefährlicher und ansteckender Krankheiten in Verbindung mit den Medizinalbehörden, und bei dem Fehlen anderer Verpflichteten die Anzeige von Geburten obliegt. Außerdem übt er eine gewinnbringende Beschäftigung aus. Die eigentümliche Stellung des Arztes, welche ihm die Einsicht in die Lebens- und Krankheitsverhältnisse der einzelnen wie ganzer Klassen der Bevölkerung gestattet, welche ihm die Schädigungen auf vielen Gebieten des Lebens zuerst vor Augen führt, bringt es mit sich, daß von seiten einzelner Ärzte wie ganzer Verbände zuerst Bestrebungen zur Verbesserung unserer hygienischen Verhältnisse ausgingen. Der deutsche Ärztevereinsbund hat eine große Zahl der Gesetze angeregt, welche zum Segen für unser Vaterland geworden sind. Eine große Zahl von Vereinen zur Besserung der hygienischen [1407] Verhältnisse ist durch Anregung und Mitwirkung hervorragender Ärzte ins Leben gerufen. Zu nennen sind vor allem der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege, der deutsche Verein für Schulgesundheitspflege, der deutsche Verein zur Bekämpfung des Kurpfuschertums, der niederrheinische Verein für öffentliche Gesundheitspflege und ähnliche Vereine in den verschiedensten Provinzen und Bundesstaaten. Unter der Regierung Wilhelms II. sind besonders der Verein für Volkshygiene, die Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, zum Säuglingsschutz, gegen den Mißbrauch alkoholischer Getränke, der deutsche Samariterbund in Tätigkeit getreten. Eine Zentralstelle für Wohlfahrtseinrichtungen ist 1891 von einzelnen Vereinen, welche auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege tätig sind, unter Beteiligung preußischer Ministerien gegründet worden. Sie wurde 1906 auf Antrag des Grafen Douglas als Zentralstelle für Volkswohlfahrt mit öffentlich rechtlichem Charakter umgestaltet. Auch die später zu besprechende Tuberkulosebekämpfung, die Bestrebungen für Mutterberatung, zum Säuglingsschutz, zur Versorgung der Kinder mit guter Milch haben von Ärzten und ärztlichen Erfahrungen zum großen Teil ihre Anregung erhalten und sind unter ihrer wesentlichen Mitwirkung ein Segen für viele geworden. Ebenso verdienen die Bestrebungen für Epileptische, Krüppel, für Ausbildung von Krankenpflegern und Krankenpflegerinnen dankbare Anerkennung.

Ärztekammern.

Durch Gesetz vom 25. Mai 1887 betreffend die Errichtung einer ärztlichen Standesvertretung waren im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege und des ärztlichen Standes in allen deutschen Staaten – vom Staate als beratende Korporation anerkannte – Ärztekammern in jeder Provinz errichtet werden. Auch diese haben sich bemüht, die verschiedensten Fragen der Hygiene und weiterhin der ärztlichen Interessen zu fördern. So haben die Ausführung des Reichsseuchengesetzes und die Desinfektionsmaßnahmen, der Unterricht der Krankenpfleger und Pflegerinnen, die Gutachten für Organe der Versicherungsmedizin, die Wöchnerinnenpflege und das Hebammenwesen, die Bekämpfung des Alkoholismus die Ärztekammer neben anderen spezielleren Gegenständen beschäftigt.

Ein Ärztekammerausschuß, als Zentralinstanz aus Mitgliedern der Kammern bestehend, vermittelt die Beziehungen dieser untereinander und zum Minister der Medizinalangelegenheiten.

Ehrengerichte.

Die Schwierigkeiten, welche dem ärztlichen Beruf aus der Aufhebung des Kurpfuschereiverbots, aus der Entwicklung der sozialen Gesetzgebung und aus der Umgestaltung der alten Lebensbedingungen erwachsen waren, hatten außerdem schon lange das Bestreben erweckt, die ärztliche Tätigkeit durch die Schaffung von Ehrengerichten unter gewisse rechtliche Normen zu stellen. Diesen Wünschen wurde durch Gesetz vom 25. November 1899 Rechnung getragen.

Die wesentlichste Bestimmung (§ 3) dieses Gesetzes lautet: Der Arzt ist verpflichtet, seine Berufstätigkeit gewissenhaft auszuüben und durch sein Verhalten in Ausübung des [1408] Berufes, sowie außerhalb desselben sich der Achtung würdig zu zeigen, die sein Beruf erfordert. Ein Arzt, welcher die ihm obliegenden Pflichten verletzt, hat die ehrengerichtliche Bestrafung verwirkt.

Als weiteren Grundsatz stellt das Gesetz mit Recht auf, daß politische, religiöse und wissenschaftliche Ansichten oder Bestrebungen eines Arztes als solche niemals den Gegenstand eines ehrengerichtlichen Verfahrens bilden können. Die Gesetzgebung hat es den Entscheidungen der ärztlichen Ehrengerichte und der Appellinstanz, dem Ehrengerichtshof, überlassen, die Normen für das ärztliche Verhalten innerhalb und außerhalb des Berufes festzustellen. Die wichtigste, von beiden Gerichten stets betonte Pflicht des Arztes, ist die ärztliche Hilfeleistung in Fällen dringender Lebensgefahr, mag diese durch eine plötzliche schwere Erkrankung, oder durch die plötzliche Verschlimmerung einer bereits bestehenden Krankheit herbeigeführt sein, nicht zu versagen. Allerdings kann der Arzt nach geleisteter erstmaliger Hilfe eine Weiterbehandlung ablehnen, er muß dieses aber sofort bei dem ersten Besuch erklären, falls er sich vor unliebsamen Folgen schützen will. Mit diesen ehrengerichtlichen Entscheidungen ist die frühere im alten preußischen Strafrecht (§ 200) festgelegte ärztliche Pflicht zur Hilfeleistung (auch ohne Unglücksfälle und gemeine Gefahr) wieder rechtskräftig geworden.

Weiterhin darf ein Arzt einen seiner Obhut anvertrauten Kranken nicht im Stiche lassen, will er sich nicht einer gewissenlosen Handlung schuldig machen. Er muß seinen Beruf auch unter Hintansetzung der eigenen Person ausüben, was übrigens bei jeder ansteckenden Erkrankung seitens des Arztes geschieht.

Auch bezüglich der ärztlichen Untersuchungen und Begutachtungen sind ehrengerichtliche Entscheidungen ergangen, welche die sorgfältige Untersuchung und die Begutachtung in wissenschaftlich schlüssiger Weise für unerlässig erklären. Sodann hat das standeswürdige Verhalten im Verkehr der Ärzte untereinander und mit Patienten durch Entscheidung in einzelnen Fällen eine Erläuterung erfahren.

Durch diese Gesetzgebung sind manche Einwände gegen die ärztlichen Bestrebungen der neueren Zeit hinfällig. Wir dürfen hoffen, daß der Zusammenschluß der Ärzte, Hand in Hand mit der Gesetzgebung, welche das ärztliche Berufsleben betrifft, zu einer Hebung der ärztlichen Tätigkeit und zu einer Einengung unerfreulicher Zeiterscheinungen führen wird.

Gesteigerte Anforderungen an die Leistungen.

Allerdings sind die Anforderungen an die ärztlichen Leistungen wesentlich gestiegen. Die Fortschritte auf dem Gebiet der Erkennung der Krankheiten sind ebenso wie diejenigen der Behandlung in den letzten Jahrzehnten außerordentlich große gewesen. Ich erinnere nur an die mikroskopische und chemische Untersuchung des Blutes, des Urins, an die Bedeutung der elektrischen Untersuchung, der Röntgenuntersuchung, der Radium-, der Mesothorium-Behandlung.

Alle diese Methoden sind auch dem Nichtmediziner bekannt, und es ist naturgemäß, daß jeder Kranke, ob hoch oder niedrig, mit allen Hilfsmitteln untersucht und behandelt sein will. Alle diese Methoden stellen aber große Ansprüche an den Arzt, Reisen zu Kongressen, Teilnahme an ärztlichen Fortbildungskursen und die Anschaffung vielfach [1409] teurer Apparate, deren dauernde Benutzung häufig Gesundheit und Leben der Ärzte ebenso bedroht, wie die Behandlung übertragbarer Erkrankungen. Mit diesen Anforderungen hat die Entlohnung der ärztlichen Tätigkeit nicht Schritt gehalten. Mögen auch einzelne Ärzte durch besondere Fähigkeiten außerordentliche Einnahmen haben, die durchschnittlichen Einnahmen des praktischen Arztes entsprechen trotz voller Beschäftigung nicht den Aufwendungen für die Ausbildung und die geforderten Leistungen. Einmal ist die ärztliche Gebührenordnung gegenüber den Anforderungen einer neuen Zeit und dem gesunkenen Kaufwert des Geldes zurückgeblieben; enthält sie doch nicht einmal Sätze für die verschiedenartige Anwendung von Röntgenstrahlen; dazu kommt aber weiterhin, daß selbst die Minimalsätze der Gebührenordnung vielfach den Krankenkassen und einzelnen Organen der sozialen Versicherung zu hoch erscheinen. Auch das Kurpfuschertum, das sich infolge mangelnder Gesetze zu einem Krebsschaden ausgewachsen hat, beeinträchtigt die praktische ärztliche Tätigkeit in hohem Maße. Daneben stellt es auch eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Gesamtheit der Bevölkerung dar.

Schwierigkeiten durch die Gesetzgebung.

Eine weitere Schwierigkeit ist dem ärztlichen Stand infolge der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches und des Strafgesetzbuchs erwachsen. In ersterem kam vor allem die Haftpflicht des Arztes in Frage. Ich hebe aus dieser nur einzelne Fälle heraus, in welchen widerstreitende Interessen des Einzelindividuums und des Allgemeinwohls in Frage kommen. Wie hat sich der Arzt Fällen gegenüber zu verhalten, in welchen ein tuberkulös oder syphilitisch Infizierter nur durch einen gewissen Zwang abgehalten werden kann, eine Übertragung der Krankheit auf seine Mitmenschen herbeizuführen? Beide Erkrankungen gehören nicht zu den anzeigepflichtigen. Inwieweit ist der Arzt haftpflichtig oder strafbar, wenn infolge seines Eingreifens der Träger der Krankheit in seinem Vermögen geschädigt wird? Einstweilen haben die richterlichen Entscheidungen mit dem Begriff der Notwehr, welche eine strafbare Handlung ausschließt, einzelne derartige Fälle erledigt.

Eine weitere Schwierigkeit ist durch eine Entscheidung des Reichsgerichts entstanden. Dieses hat entschieden, daß die §§ 223, 223 a und 224 (körperliche Mißhandlung ), auch auf den Arzt Anwendung finden, wenn eine Operation ohne Einwilligung des Patienten vorgenommen ist. Da es sich bei dieser Auslegung im Fall der Verurteilung um drohende Gefängnisstrafe handelt und die Bestrafung auch Ansprüche nach dem bürgerlichen Gesetzbuch zur Folge hat, so ist diese Entscheidung von schwerwiegender Bedeutung. Ärztliche Rücksichtnahme auf den Seelenzustand eines Kranken haben gelegentlich dazu geführt, die Schwere des Leidens und die bevorstehende notwendige Operation zu verheimlichen. Dabei kam auch wohl der Wunsch in Betracht, durch Vermeidung seelischer Aufregungen den Verlauf des Falls günstiger zu gestalten. Wenn auch gewiß dem Menschen die Verfügung über seinen Körper nicht entzogen werden darf, so kann es doch Fälle geben, in welchen die aus dem Strafgesetzbuch sich ergebenden Richtlinien für das Verhalten des Arztes eine augenblickliche Grausamkeit gegen einen Kranken darstellen.

[1410] Für derartige Fälle sind Modifikationen des Strafgesetzbuchs im Hinblick auf ärztliche, dem Heilzweck dienende Operationen oder eine andere Interpretation des bestehenden Rechts dringend erwünscht.

Die Entwicklung der sozialen Hygiene.

Der Ausbau der sozialen Hygiene ist im wesentlichen unter der Regierung Kaiser Wilhelms II. erfolgt, wenn auch wichtige Anfänge schon früher vorhanden waren. Durch das Gesetz vom 8. April 1874 war die segensreiche Schutzpockenimpfung in ausgedehnterer Weise eingeführt worden, die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. Juni 1869 mit einer Anzahl folgender Novellen enthielt schon einzelne Verordnungen zum Schutz der Arbeiter; vor allem muß dem Gesetz über den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen vom 14. Mai 1879 und 29. Juni 1887 ein Einfluß auf die Gesundheitspflege zugeschrieben werden.

Bekämpfung übertragbarer Krankheiten.

Aber erst eine systematische Zusammenfassung aller Aufgaben in den letzten Jahrzehnten, insbesondere auch die Bekämpfung der übertragbaren Erkrankungen, die energischen Maßnahmen zum Schutz der Arbeiter in gesundheitsgefährlichen Betrieben haben der sozialen Hygiene praktische Erfolge errungen, die zu hoffen niemand gewagt hatte. Diese Fortschritte veranschaulicht am besten eine Zusammenstellung der Sterbefälle auf 1000 Einwohner, in den verschiedensten Zeitabschnitten. Während bis zum Jahre 1880 die Sterblichkeit in Deutschland zwischen 25 und 30‰ pro Jahr schwankte, setzte in den folgenden zehn Jahren ein langsamer Rückgang auf 21,9‰, in den Jahren 1901–1909 ein solcher auf 18,6‰ ein. Diese Abnahme ist langsam fortschreitend erfolgt; im Jahre 1910 betrug sie nur 17,1‰ auf 1000 Einwohner und befindet sich noch im Sinken. Sie hat an einzelnen Orten schon 15 pro Mille erreicht. Dementsprechend läßt sich auch heute schon eine Verlängerung des durchschnittlichen menschlichen Lebens feststellen. Es betrug die mittlere Lebensdauer in den Jahren 1871–1880 für Männer 35,58 Jahre, für Frauen 38,45 Jahre; in den Jahren 1881–1890 für Männer 37,17 Jahre, für Frauen 40,25 Jahre; in den Jahren 1891–1900 für Männer 40,6 Jahre, für Frauen 43,9 Jahre. Auch im letzten Jahrzehnt ist eine weitere Zunahme zu verzeichnen.

Wir betrachten, wie oben erwähnt, als soziale Hygiene alle die Ergebnisse und Aufgaben, welche sich für die Gemeinschaft des Volkes oder einzelner Gruppen aus der Erkennung und Behandlung einzelner Gesundheitsstörungen oder gehäufter Fälle dieser ergeben. Von diesem Gesichtspunkte aus kommen vor allem die Schädigung durch unzweckmäßige Ernährung, Verfälschung von Nahrungs- und Genußmittel, einschließlich schlechten Wassers, die Gefahren für die Gesundheit, durch die Berufstätigkeit und weiterhin durch ansteckende Krankheiten in Betracht. Zu der Bekämpfung dieser Schädigungen kommen diejenigen, welche den Säuglingen und Kindern, der Schuljugend und den jugendlichen Arbeitern drohen.

[1411]

Die Maßnahmen zur zweckmäßigen Ernährung und zum Schutz der Gesundheit in gewerblicher Tätigkeit.

Die normale Ernährung des Menschen hat durch ärztliche Studien in verschiedener Richtung eine Förderung in den letzten Jahrzehnten erfahren. Eine Schwierigkeit beruht auch heute auf der ungenügenden Produktion Deutschlands an Schlachtvieh, so daß der Fleischkonsum vielfach nicht diejenige Höhe hat, welche für eine gesunde Volksernährung notwendig ist. Große Fortschritte haben dagegen die Bestrebungen gemacht, in Volksküchen zu einem billigen Preis eine gute Nahrung zu verabreichen und durch besondere Milchküchen für Säuglinge und Kinder zu sorgen. Weiterhin ist in den letzten beiden Jahrzehnten die besondere Aufmerksamkeit der Ernährung und den Krankheiten der Schuljugend zugewandt worden. Schularztstellen zur Untersuchung der Kinder zwecks allgemeiner und spezieller hygienischer Maßnahmen sind in vielen Städten eingerichtet worden. Auch Schulschwestern zur Hilfe für den Arzt und zur Vermittlung mit den Eltern sind in einzelnen Städten eingestellt worden. Die Zahnpflege der Jugend und die Ernährung haben Berücksichtigung erfahren, und außerdem sind vielfach Erholungsheime auf dem Land, an den Seen und in waldreicher Gegend geschaffen worden. Baden und Spiele im Freien haben eine völlig andere Pflege erfahren, als es früher der Fall war.

Die Gesetzgebung gegen die Verfälschung von Nahrungsmitteln hat durch Ergänzungen vom 3. Juni 1900 und vom 7. April 1909 wesentliche Verbesserungen erfahren. Auch die Verunreinigung des Trinkwassers, sowie von Wasserläufen und Wasserbehältern, welche dem menschlichen Gebrauche dienen, ist in der Gesetzgebung berücksichtigt worden.

Schutz in gewerblichen Betrieben.

Die Gefahren, welche Fabrik- und Gewerbebetriebe durch ihre Einrichtungen, Maschinen, den entstehenden Staub und schädliche Gase den Arbeitern bringen, haben in der Gewerbeordnung eine sorgfältige Berücksichtigung erfahren. Für Arbeiter unter 18 Jahren sind besondere Bestimmungen mit Rücksicht auf Gesundheit und Sittlichkeit getroffen worden. Soweit es der Betrieb gestattet, sollen die Geschlechter getrennt werden. Kinder unter dreizehn Jahren dürfen in Fabriken nicht beschäftigt werden und bei Kindern unter 14 Jahren darf die Beschäftigungszeit sechs Stunden täglich nicht überschreiten. Für Arbeiterinnen[WS 1] sind besondere Bestimmungen auch bezüglich Schlusses der Arbeitszeit an Vorabenden von Sonn- und Festtagen in der Gewerbeordnung enthalten. Die Durchführung der Gesetze wird durch Anordnungen über das Verhalten der Arbeiter im Betrieb, über die Bestimmungen zum Schutz von Leben und Gesundheit, welche öffentlich ausgehängt werden, erleichtert. Allerdings bedingt die Ausdehnung aller dieser Bestimmungen auf die nur zeitweise beschäftigten Saisonarbeiter eine beträchtliche Einschränkung der Erwerbsverhältnisse.

Ganz spezielle Gesetze und Verordnungen betreffen die Betriebe, in welchen giftige Substanzen und gesundheitschädliche Substanzen verarbeitet werden. Dahin [1412] gehören die Bleifarben- und Bleizuckerfabriken, die Herstellung von Alkalichromaten, Zinkhütten, Zink- und Bleierzbergwerke, Quecksilber-Spiegelbeleganstalten, Glashütten, Fabriken elektrischer Akkumulatoren, die Betriebe zur Herstellung von Thomasschlackenmehl, Anilin-, Nitro- und Aminoverbindungen.

Die Zulassung jugendlicher Arbeiter zu Beschäftigungen dieser Art ist abhängig von einem Zeugnis, das ein von der höheren Verwaltungsbehörde ermächtigter Arzt ausstellen muß. Für viele Betriebe, dazu gehört auch die Tabakbearbeitung, ist die Entfernung des entstehenden Staubes und etwaiger Dünste neben ausreichendem Licht, Luftraum und Luftwechsel die erste Aufgabe. Für die Metallschleifereien und die Bearbeitung des Sandsteins ist die Arbeit unter Wasserzufluß ein wichtiges Schutzmittel. Für Kunstwollfabriken, Lumpensortierereien, Roßhaarspinnereien ist die möglichst maschinelle Bearbeitung und die Entfernung des Staubs durch Exhaustoren empfohlen worden. Dasselbe gilt für die Tabakbearbeitung, Spinnereien und Webereien. Während in früherer Zeit Spinner und Weber und besonders die Weber der Hausindustrie in hohem Maße an Tuberkulose starben, hat die Einführung des mechanischen Betriebs in großen luftigen Sälen mit den Einrichtungen moderner Hygiene den erfreulichen Erfolg zu verzeichnen, daß die Schwindsuchtssterblichkeit in dieser Industrie ganz beträchtlich zurückgegangen ist.

In Betrieben mit giftigem Staub ist das Tragen von Arbeitsanzügen und Mützen angeordnet, bei hautreizenden und schädigenden Stoffen Einfetten oder Benutzung wasserdichter Handschuhe oder entsprechenden Schuhzeugs, bei Gefahr elektrischer Kraftübertragung die Benutzung von Gummihandschuhen und Gummischuhen. Vielfach ist es notwendig, die Arbeiter Respiratoren tragen zu lassen, um die Atmungsorgane zu schützen. Es kommt das vor allem bei der Bearbeitung der verschiedenen Bleiverbindungen in Betracht. Bei der Verarbeitung von Phosphorverbindungen ist das Abführen der Dämpfe und die Einrichtung eines großen Luftraumes gesetzlich angeordnet. Die gleiche Verordnung besteht für Betriebe, in welchen Quecksilber verarbeitet wird. Für diese ist auch eine gewisse kühle Temperatur vorgeschrieben. Ebenso haben die Verarbeitung von Arsenik, Antimon, Schwefelkohlenstoff, Nitrobenzol Veranlassung zu gesundheitspolizeilichen Gesetzen und Vorschriften gegeben.

Eine der wichtigsten Maßnahmen ist die Anordnung, daß die Arbeiter in den Arbeitsräumen keine Speisen und Getränke nehmen, nicht rauchen, schnupfen und Tabak kauen dürfen. Nach Aufhören der Arbeit sollen sie die Arbeitskleider ablegen eine gründliche Waschung, am besten ein Bad, nehmen, Finger, Nägel, Mund, Zähne, Naseneingang sorgfältig reinigen und dann eine andere Kleidung anlegen. Es ist erfreulich an der Hand der Statistik zu verfolgen, wie sehr sich die gewerblichen Vergiftungen vermindert haben. Am deutlichsten dokumentieren sich die Erfolge in den Spiegelfabriken von Fürth und Nürnberg; aber in allen Betrieben, in welchen die Arbeiter die Vorschriften befolgen, ist eine wesentliche Besserung gegen früher nicht zu verkennen. Die Schwierigkeit beruht nur in der konsequenten Durchführung der Arbeitsordnungen.

[1413]

Die Bekämpfung der übertragbaren Erkrankungen (außer Tuberkulose und Syphilis).

Eine rationelle Bekämpfung der übertragbaren Erkrankungen wurde erst durch die Entdeckung der Mikroparasiten und die Wege ihrer Verbreitung ermöglicht. Die erste große Entdeckung bahnbrechender Art war diejenige des Tuberkelbazillus durch Robert Koch im Jahre 1882, nachdem schon vorher Pasteur und Robert Koch die beim Milzbrand gefundenen Stäbchen als wachstumsfähige Gebilde und Ursache der Seuche erkannt hatten.

Choleraerreger.

Unter den Volksseuchen, welche von Zeit zu Zeit verheerend in Deutschland einbrachen, war die Cholera schon lange ein eifriger Gegenstand der Forschung gewesen. Die Versuche, den Erreger derselben zu entdecken waren erfolglos geblieben. Die neuen Untersuchungsmethoden Kochs ließen ein besseres Resultat erwarten. Als daher im Jahre 1883 ein neuer Seuchenzug der Cholera begann, ordnete Kaiser Wilhelm I. die Entsendung einer Kommission zum Studium der Erkrankung an. Die Leitung dieser Expedition wurde Robert Koch übertragen, dem die Ärzte Dr. Gaffky und Dr. Fischer beigegeben wurden. Die Kommission begann ihre Studien in Ägypten und setzte dieselben, als dort die Seuche erlosch, in Indien dem Heimatlande der Cholera fort. Es gelang Robert Koch durch mühsame und ausgedehnte Untersuchungen als Erreger der Cholera einen spezifischen Bazillus von gekrümmter Form (Kommabazillus) nachzuweisen, der die Erkrankung durch Eintritt in den Magen-Darmkanal des Menschen hervorruft. Die schon früher gemachten Erfahrungen über die Verbreitung der Cholera wiesen auch auf die Wege hin, auf welchen die Mikroorganismen in den menschlichen Körper gelangen.

Andere Bazillen.

Der Entdeckung des Choleraerregers folgte in den nächsten Jahren der Nachweis anderer spezifischer Mikroparasiten bei verschiedenen Infektionskrankheiten, teilweise auch der Nachweis, daß schon früher beobachtete Bazillen als die Ursache der Erkrankung anzusehen seien. So zeigten die Untersuchungen von Hansen, Neißer, Arning, daß als Erreger der Lepra ein bestimmtes dem Tuberkelbazillus ähnliches Stäbchen zu beschuldigen ist. Löffler konnte 1890 den Nachweis führen, daß die 1884 von ihm zuerst beschriebenen Stäbchen als Ursache der Diphtherie zu betrachten sind, eine Entdeckung, die durch anschließende Arbeiten von Ehrlich sowie Behring sehr wichtige Folgen für die Therapie gehabt hat. Schon früher hatte Eberth bei dem Unterleibstyphus eigentümliche Stäbchen beobachtet; durch weitere Untersuchungen, insbesondere von Gaffky, wurde erwiesen, daß diese Bazillen als Ursache des Unterleibstyphus zu betrachten sind. Weiterhin wurden andere Mikroorganismen gefunden, welche typhusähnliche Krankheiten hervorrufen. 1894 entdeckten Kitasato und Yersin gleichzeitig den Pestbazillus, Löffler und Schütz fanden 1882 den Rotzbazillus, Koch und Kartulis hatten für die tropische Dysenterie Amöben als Ursache beschuldigt; in der Folge wiesen [1414] Shiga und Kruse 1898 nach, daß für die meisten Formen unserer einheimischen Ruhr ein wohl charakterisiertes Stäbchen von geringer Resistenz als Ursache der Krankheit zu betrachten ist, Pfeiffer entdeckte den Erreger der Influenza. Als Ursache der Genickstarre wurde von Weichselbaum im Jahre 1887 ein Diplokokkus erkannt, der auch in dem Rachen von Gesunden vielfach konstatiert wurde. In einer kurzen Spanne Zeit war eine wichtige Entdeckung der anderen gefolgt, nachdem in den vorhergehenden Jahrzehnten nur die Ätiologie des Rückfallfiebers und der Malaria geklärt war. Aber auch zur genaueren Kenntnis dieser Erkrankungen trugen Kochs und seiner Schüler Arbeiten und Anregungen wesentlich bei. Dagegen sind die Erreger von Tollwut, Masern, Scharlach und Pocken bisher nicht mit Sicherheit bekannt.

Die neuen Funde ließen die Möglichkeit einer rationelleren Bekämpfung der übertragbaren Erkrankungen erhoffen, als sie seither möglich war. Auf diesen Erwartungen aufbauend entstand das Reichsgesetz betreffend die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten, das am 30. Juni 1900 Gesetzeskraft erlangte.

Dieses bestimmt, daß jede Erkrankung und jeder Todesfall an Aussatz (Lepra), Cholera (asiatischer), Fleckfieber (Flecktyphus), Gelbfieber, Pest (orientalischer Beulenpest), Pocken, sowie jeder Fall, welcher den Verdacht dieser Krankheiten erweckt, unverzüglich der zuständigen Polizeibehörde anzuzeigen ist. Diese Anzeigepflicht ist durch Bekanntmachung des Reichskanzlers auch auf den Milzbrand ausgedehnt worden.

Nach den meisten landesrechtlichen Gesetzen sind außerdem jede Erkrankung und jeder Todesfall an Diphtherie, Genickstarre, Kindbettfieber, Körnerkrankheit, Rückfallfieber, übertragbarer Ruhr, Typhus, Scharlach, Rotz, Tollwut, Fleisch-, Fisch- und Wurstvergiftung sowie Trichinose möglichst umgehend nach erlangter Kenntnis anzuzeigen. In einzelnen Bundesstaaten sind auch Fälle von Masern, Röteln, Mumps, Keuchhusten, Beri-Beri und Skorbut sowie Todesfälle von Kehlkopf- und Lungentuberkulose anzeigepflichtig.

Die Cholera. – Hamburg 1892.

Die erste Seuche, welche den Regierungen Veranlassung gab, energischere Maßnahmen zu ergreifen und ihre Wirksamkeit zu erproben, war die Cholera, welche 1892 vermutlich von Havre in Hamburg eingeschleppt wurde und dort fast explosionsartig zum Ausbruch kam. Als Herd der Infektion war die Elbe zu betrachten, deren Wasser infolge des trockenen Sommers mit Ebbe und Flut in dem Elbbecken hin und her wogte und direkt, nach Klärung in einigen Bassins, in die Wasserleitung Hamburgs übergeführt wurde. Die erste wichtige Tatsache, welche die Studien in der Hamburger Epidemie lehrten, war die Bestätigung der Entdeckung von Robert Koch. In jedem Fall typischer Cholera asiatica wurden die Komabazillen gefunden; aber noch eine weitere Beobachtung wurde gemacht. Nicht allein bei Cholerakranken, sondern auch bei Menschen, welche keine Erscheinungen von Cholera darboten, aber mit Kranken in Berührung gekommen waren, ließen sich längere Zeit Cholerabazillen im Stuhlgang nachweisen. Diese Beobachtung war geeignet, viele seither merkwürdige Fälle von Choleraverschleppung zu erklären. Die gleiche Beobachtung wurde in der Folge [1415] auch bei anderen Krankheiten ohne Krankheitserscheinungen, so bei Diphtherie und bei Typhus abdominalis gemacht und hat an die Bekämpfung der Krankheitsübertragung neue Anforderungen gestellt. Sodann zeigte sich, daß die nach Auftreten der Epidemie getroffenen Maßnahmen gegen die Übertragung der Krankheit ihre Wirkung nicht versagten.

Wurden doch im Eppendorfer Krankenhaus viele tausend Cholerakranke Wochen hindurch verpflegt, ohne daß eine Ansteckung von Ärzten oder Wartepersonal erfolgte. Erst als nach längerer Dauer der Seuche die Furcht vor Ansteckung und der Gehorsam gegen die Verordnungen nachließen, kamen vereinzelte Übertragungen vor, deren Entstehung sich dann nachweisen ließ. Durch die Maßnahmen des Reichs gelang es weiterhin eine größere Ausbreitung der Seuche in Deutschland zu verhindern. Der gleiche Erfolg wurde im Jahre 1905 erzielt als in Rußland längs der preußischen Grenze die Cholera sich ausbreitete. Es ist das große Verdienst von Kirchner in diesem und den folgenden Jahren durch die verschiedensten Maßnahmen, insbesondere auch durch Stromüberwachung der Weichselgebiete von Schillo an der russischen Grenze bis zur Mündung der Weichsel bei Neufahrwasser, sowie der anderen gefährdeten Flußgebiete jeden einzelnen Fall isoliert und so die Weiterverbreitung verhindert zu haben.

Bakteriologische Laboratorien.

Die erste Aufgabe besteht naturgemäß in der sicheren Erkennung der Cholera. Diese ist keineswegs so einfach, als man nach der ersten Entdeckung Robert Kochs geglaubt hat. Das gleiche gilt allerdings für alle Seuchenerreger. Ohne besondere Hilfsmittel und Laboratorien ist es dem praktischen Arzt nicht möglich eine sichere bakteriologische Diagnose zu stellen. Zur Erfüllung dieser Aufgaben wurden zuerst alle größeren Krankenanstalten mit entsprechenden bakteriologischen Laboratorien ausgestattet. Aber in dieser fanden nur die im Krankenhause aufgenommenen Fälle ihre Untersuchung. Die gleiche Einrichtung wurde von der Militärverwaltung durch Einrichtung von bakteriologischen Untersuchungsstellen in den Garnisonlazaretten getroffen. Für die Krankheitsfälle in der Praxis des Arztes mußten aber weitere Einrichtungen getroffen werden. Das Institut für Infektionskrankheiten in Berlin, welches für R. Koch geschaffen war, trat zwar bei größeren und gefahrdrohenden Epidemien wie Cholera und Pest ein, war aber naturgemäß den Riesenaufgaben nicht gewachsen, welche die ganze Monarchie stellte. Es wurden deshalb teils in größeren Städten, teils an den Universitäten in Verbindung mit den hygienischen Instituten, teils in besonders gefährdeten Gebieten Medizinaluntersuchungsämter und bakteriologische Untersuchungsstellen für bestimmte Aufgaben eingerichtet. Besondere Apparate zur Aufnahme des verdächtigen Untersuchungsmaterials (nach der Angabe von Ministerialdirektor Kirchner angefertigt) werden in jeder Apotheke an die Ärzte abgegeben. Auf diese Weise ist die sichere Feststellung einer bakteriologischen Diagnose jedem Arzt ermöglicht. Er muß nur das für die Diagnose der Krankheit erforderliche Untersuchungsmaterial in richtiger Weise entnehmen und an das betreffende Institut einsenden. Das Untersuchungsergebnis wird dem betreffenden Arzt und nötigenfalls auch dem beamteten Arzt mitgeteilt.

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Schutzmaßregeln.

Unter den Schutzmaßregeln gegen die Verbreitung einer ansteckenden Krankheit steht an erster Stelle die gesetzlich mögliche Absonderung der ansteckungsfähigen Person, weiterhin die gesundheitspolizeiliche Überwachung des Vertriebs von Gegenständen, welche geeignet sind, die Krankheit zu übertragen, die Überwachung der in der Schiffahrt und der Flößerei und in Transportbetrieben tätigen Personen, die Sorge für einwandfreies Trink- und Badewasser, resp. das Verbot der Benutzung verdächtigen Wassers, die Räumung und Desinfektion von Wohnungen, die Vertilgung von Ratten und Mäusen, welche Träger der Krankheitserreger sein können, die Kontrolle der Seeschiffer sowie der einwandernden Personen. Zu diesen allgemeinen Maßnahmen kommen noch diejenigen für die einzelnen Erkrankungen hinzu.

In der Hamburger Choleraepidemie erwies sich die Verabreichung von einwandfreiem Trinkwasser an die Bevölkerung als die wichtigste Aufgabe. Da das Leitungswasser verseucht und die Sandfiltrationsanlage noch nicht fertiggestellt war, wurde gekochtes und abgekühltes Wasser an den verschiedensten Stellen der Stadt an die Bevölkerung abgegeben, ebenso Wasser aus artesischen Brunnen. Im Herbst 1893 war die Wasserversorgungsanlage durch Sandfiltration fertiggestellt, aber durch einen unglücklichen Zufall brach unreines Elbwasser in die neue unter der Elbe geführte Wasserleitung für einige Tage ein, und 48–72 Stunden später traten wieder die ersten Cholerafälle, 14 Tage später Typhusfälle auf, ein Beweis, welche Bedeutung für beide Erkrankungen dem Wasser zukommt. Doch blieben die Cholerafälle vereinzelt, ebenso wie die 1905 und 1906 von Rußland und der Weichsel eingeschleppten Fälle.

Die Pest ist bisher nur vereinzelt in Deutschland eingeschleppt worden; die einzelnen Fälle und die Verdächtigen wurden sofort isoliert, die Schiffe und alles was verdächtig war, wurde desinfiziert, die Ratten der Schiffe, welche vielfach Träger der Pestbazillen sind, wurden möglichst vergiftet. Den sorgfältigen und energischen Maßnahmen dürfte es zuzuschreiben sein, daß wir bisher von einer Seuche verschont blieben.

Gegen das Gelbfieber gelten vor allem Vorschriften, welche die Behandlung verdächtiger Seeschiffe betreffen, Desinfektion der Räume mit möglichster Abtötung der Stechmücken. Die Pocken haben noch 1871–1872 in einer großen Epidemie geherrscht; in Preußen allein starben in dieser Zeit 149148 Personen an Pocken. Seit der konsequenteren Durchführung der Jennerschen Kuhpockenimpfung kommen meist nur vereinzelte Fälle vor. Aber diese zeigen, wie leicht und wie schwer ungeschützte Personen erkranken können. Es ist gegenüber der Pockengefahr unbegreiflich, daß es noch immer Gegner der Impfung gibt. Ein Arzt dieser Art, in Frankfurt, welcher einen Pockenfall nicht anzeigte, hat nicht nur die Erkrankung auf andere übertragen, sondern ist auch selbst an den Pocken erkrankt − hoffentlich von seinem Wahn nunmehr bekehrt. Jedenfalls haben die häufigen und unschädlichen Impfungen aller, welche im Eppendorfer Krankenhaus mit Pocken in Berührung kommen, dazu geführt, daß im Krankenhaus selbst Übertragungen nicht vorgekommen sind. Einmal hat ein Straßenarbeiter durch verbotene Berührung von Watte in einem Verbrennungsraume des Pockenpavillons die Krankheit [1417] auf sein Kind übertragen. Wohnungen und Häuser, in denen Pockenkranke sind, müssen kenntlich gemacht werden, Kinder aus solchen Häusern dürfen die Schule nicht besuchen.

Der Aussatz (Lepra) welcher im Mittelalter und in der Folge durch strengste Absperrmaßregeln mit glänzendem Erfolg bekämpft wurde, hat erst in den letzten Jahrzehnten durch Krankheitsherde in Asien, Afrika, Norwegen, Südamerika und Ostpreußen die Aufmerksamkeit wieder auf sich gelenkt. Die Zeit, welche von der Ansteckung bis zum Auftreten deutlicher Krankheitserscheinungen vergeht, ist eine sehr lange und dadurch die Bekämpfung erschwert. Die strenge Absonderung der Kranken, welche die Vorbeugung erfordert, erscheint grausam, wenn man bedenkt, daß die Krankheitserscheinungen Jahrelang nur in Knotenbildung der Haut und der Knochen bestehen können und die Störungen des Befindens nur gering sind. Einzelne Einschleppungen erfolgen leicht vom Ausland in die deutschen Hafenstädte.

Der Unterleibstyphus gehört heute zu den am meisten verbreiteten ansteckenden Krankheiten. Er wird durch die Ausscheidungen typhuskranker Menschen verbreitet und gelangt teils durch direkte Unreinlichkeit auf Gebrauchsgegenstände, Nahrungs- und Genußmittel, teils indirekt vor allem in das Wasser und die Milch. Zwei Punkte sind für die Übertragung besonders gefährlich, einmal der Umstand, daß von der Ansteckung an 14–21 Tage bis zum Ausbruch stärkerer Krankheitserscheinungen vergehen, zweitens die Tatsache, daß viele Menschen, welche den Typhus überstanden haben, Herde von Typhusbazillen im Körper zurückbehalten und dauernd Typhusbazillen ausscheiden, ohne Krankheitserscheinungen zu zeigen. Man bezeichnet derartige Personen als Typhusbazillenträger. Sehr häufig ist infiziertes Wasser die Ursache für Typhusepidemien größerer und geringerer Ausdehnung. Unsere Truppen in Südwestafrika und in China haben ganz außerordentlich darunter gelitten.

Absonderung der Kranken. Einwandsfreie Nahrungsmittel.

Die wesentlichste Aufgabe der Hygiene ist natürlich die rechtzeitige Absonderung der Kranken und Sorge für einwandsfreie Nahrungs- und Genußmittel. Durch Kochen der letzteren läßt sich eine Sicherung gegen Übertragung erzielen, wenn auch die Hände und die Gefäße völlig rein sind. Aber die größte Schwierigkeit besteht darin, einwandfreies Trinkwasser zu beschaffen. Im Frieden ist in dieser Beziehung durch Schaffung von einwandfreien Wasserleitungen viel geschehen, für den Krieg sind Versuche gemacht worden Trinkwasser durch chemische Zusätze zu sterilisieren, Versuche die nicht ohne Aussicht auf Erfolg sind. Außerdem sind Merkblätter für die Bevölkerung und Ratschläge an Ärzte im Reichsgesundheitsamt ausgearbeitet worden, welche die Desinfektion der Ausleerungen, der Bettwäsche berücksichtigen. Außerordentlich reiche Mittel sind von seiten des Staates zur Bekämpfung dieser Krankheit besonders in verseuchten Teilen des Reiches verwendet worden. Die Untersuchungsstationen in der Rheinprovinz, in Elsaß-Lothringen, in der Pfalz dienen in der Hauptsache diesem Zweck. Ein Erfolg aller dieser Bestrebungen ist auch nicht zu verkennen. Die Erkrankungsziffer an Typhus ist von 11,0 auf 10 000 [1418] Einwohner im Jahre 1904 auf 4,8 : 10 000 im Jahre 1911 zurückgegangen, die Sterblichkeit ist von 2,4 :10 000 im Fahre 1889 auf 0,49 im Jahre 1909 gesunken.

Große Schwierigkeiten bietet naturgemäß die Behandlung der Bazillenträger. Eine dauernde Absonderung dieser ist unmöglich. Man muß sich also darauf beschränken, sie und ihre Umgebung auf die bestehende Gefahr aufmerksam zu machen und peinlichste Reinlichkeit von ihnen zu verlangen. Leider kommt es vor, daß eine bazillentragende Köchin ein Haus nach dem andern mit Typhus infiziert.

Durch Nahrungsmittel werden noch andere Keime leicht verschleppt, welche typhusähnliche Krankheitsbilder hervorrufen, sowie solche welche auch als Fisch-, Fleisch-, Wurst- und Austernvergiftung gelegentlich bezeichnet werden. Gegen derartige Erkrankungen läßt sich nur dadurch ein Schutz gewinnen, daß alle Nahrungsmittel nur in gekochtem Zustand genommen werden. Eine Krankheit, welche ebenfalls durch Infektion des Magen-Darmkanals hervorgerufen wird, ist die übertragbare Ruhr (Dysenterie), welche nicht allein in Friedenszeiten, sondern auch im Kriege unter den Truppen häufig zu wüten pflegt. Nur die strengste Absonderung der ersten Kranken und allgemein hygienische Vorsichtsmaßregeln vermögen gegen diese Seuche zu nützen.

Diphtheriebazillus. Behringsches Heilmittel.

Eine der gefährlichsten Seuchen, besonders des kindlichen Alters, die Diphtherie hat durch die Entdeckung des Diphtheriebazillus und des Behringschen Heilmittels in den letzten Jahrzehnten die Aufmerksamkeit weiter Kreise erregt. Als Schutzmittel gegen die Übertragung kommt an erster Stelle die strenge Absonderung der Kranken in Betracht; vielleicht auch die von Behring jüngst empfohlene Schutzimpfung. Aber hier besteht eine ähnliche Schwierigkeit wie beim Unterleibstyphus. Es gibt eine Anzahl von Menschen, besonders von Kindern, welche Diphtheriebazillen im Rachen beherbergen ohne krank zu sein. Gelegentlich können diese Träger natürlich erkranken. Es hat sich deshalb die Notwendigkeit ergeben, bei Ausbruch mehrerer Fälle von Diphtherie in Schulen, Pensionaten, Internaten, Fabriken alle Personen bakteriologisch zu untersuchen, welche mit den Erkrankten in Berührung gekommen sind, oder zusammen gelebt haben. Auf diese Weise sind vielfach Bazillenträger entdeckt und ist durch entsprechende Behandlung das Weiterschreiten der Ansteckung unterbrochen worden.

Gegen Masern erfordert die Hygiene nur dann Maßnahmen, wenn sie in bösartiger Form und epidemisch oder in Luftkurorten und Seebädern auftreten. Es kann dann ebenso die Absonderung, Schulschließung, wie bei Epidemien von Scharlach in Betracht kommen. Bei letzterer Erkrankung müssen die Geschwister vom Schulbesuch ferngehalten werden.

Die übertragbare Genickstarre, früher eine seltenere Erkrankung, hat besonders seit 1905 viele Opfer gefordert. Auch ihre Bekämpfung leidet dadurch, daß viele Menschen die Erreger der Krankheit in den Rachenorganen beherbergen ohne Krankheitserscheinungen darzubieten. Es ist deshalb ein Mitwirken aller Ärzte dringend erwünscht, um [1419] rechtzeitig die Träger der Bazillen zu entdecken, zu isolieren und zu behandeln. Dann kommen all die Maßnahmen der Desinfektion, der Sorge gegen die Weiterverbreitung der Seuche in Betracht, welche schon Erwähnung gefunden haben.

In jüngster Zeit ist auch die Poliomyelitis (die spinale Kinderlähmung) als eine übertragbare Erkrankung erkannt worden, wenn wir auch den Erreger derselben nicht kennen. Die Bekämpfung der Krankheit ist einstweilen durch Unkenntnis des Weges der Übertragung sehr erschwert. Doch dürfte die Absonderung der Erkrankten und die Fernhaltung ihrer schulpflichtigen Geschwister vom Schulbesuch zweckmäßig sein, ebenso die Desinfektion der Ausscheidungen und Entleerungen (Erbrochenes, Nasenschleim, Harn, Stuhlentleerungen, Bettwäsche).

Das Kindbettfieber ist eine Erkrankung gegen welche als Schutzmaßregeln Verkehrsbeschränkungen der Hebammen, Wochenbettpflegerinnen und des sonstigen Pflegepersonals immer energischer in Betracht gekommen sind. Auch gemeinverständliche Belehrungen für Schwangere sind erlassen worden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß der bessere Unterricht, die größere Reinlichkeit und die Untersagung der Tätigkeit der Hebammen usw. bei Auftreten der Krankheit bei einer Pflegebefohlenen die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle ganz wesentlich herabgesetzt hat.

Auch die Körnerkrankheit (Granulose oder Trachom) welche Ende des vorigen Jahrhunderts in den östlichen Provinzen eine große Ausdehnung annahm, ist durch systematische Bekämpfung (Untersuchung der Schulen, der Militärpflichtigen, Feststellung und zwangsweise Behandlung aller Erkrankungsfälle) im Rückgang begriffen.

Krankheiten von Tieren auf Menschen übertragen.

Von den Erkrankungen, welche in der Regel nur bei Tieren vorkommen und von diesen auf den Menschen übertragen werden, ist an erster Stelle der Milzbrand zu nennen. Die Vorkehrungen bestehen in der möglichsten Unschädlichmachung von milzbrandhaltigen Tierteilen, in der Absonderung Erkrankter und entsprechender Desinfektion. Der große Handel Deutschlands mit Tierfellen wird kaum ein vollständiges Erlöschen des Milzbrandes hoffen lassen.

Der Rotz wird ebenfalls an erster Stelle durch Maßnahmen gegen die Tierseuche, Tötung rotzkranker Tiere, Vernichtung ansteckungsfähigen Materials bekämpft. Rotzkranke und krankheitsverdächtige Personen müssen streng abgesondert werden.

Die Tollwut (Lyssa) wird wesentlich aus den östlichen Grenzbezirken eingeschleppt und vor allem durch tollwütige Hunde verbreitet. In den Jahren 1906–1910 sind in Preußen allein 1075 Personen durch sicher tollwütige Hunde gebissen worden. Die Maßnahmen sind etwa die gleichen wie bei den oben genannten Seuchen. Doch sind zur Vornahme von Schutzimpfungen (nach dem Vorgehen von Pasteur) in den Jahren 1899 bis 1904 in Deutschland zwei Institute eingerichtet worden (in Berlin im Institut für Infektionskrankheiten, und in Breslau im hygienischen Institut), deren Resultate sehr erfreulich sind. Von den 1075 Personen sind nach Rapmund und Dietrich nur 17 also 1,58% an Tollwut erkrankt.

Die Trichinenkrankheit wird durch Untersuchung der geschlachteten Schweine [1420] bekämpft, weiterhin aber dadurch, daß die Menschen den Genuß des ungekochten Schweinefleisches vermeiden.

Die Wurmkrankheit hat besonders in den Bergwerken vielfache Maßnahmen ergreifen lassen: Ermittelung und Behandlung der Wurmbehafteten, Beseitigung des Kotes, Sorge für Aborte, tadelloses Trink- und Waschwasser, Belehrung der Bergleute und Ziegelarbeiter. Die Erfolge können als glänzend bezeichnet werden, da die Erkrankung ganz außerordentlich abgenommen hat.

Gegen das meist von Osten eingeschleppte Rückfallfieber haben sich die allgemein hygienischen Maßnahmen der Absonderung, Überwachung der Schiffahrt, Desinfektion von Wohnungen durchaus bewährt.

Das Wechselfieber (Malaria) hat in Deutschland durch Trockenlegen von Sümpfen, Vernichtung der Stechmücken, entsprechende Behandlung Erkrankter sehr abgenommen.

Von übertragbaren Erkrankungen und ihrer Bekämpfung bleiben noch zu besprechen die Tuberkulose und die Syphilis, welche aber ihrer großen Bedeutung gemäß in besonderen Kapiteln besprochen werden sollen.

Die Bekämpfung der Tuberkulose als Volkskrankheit.

Entdeckung des Tuberkuloseerregers.

Die systematische Bekämpfung der Tuberkulose konnte naturgemäß erst einsetzen, nachdem wir durch Robert Koch die Ursache der Tuberkulose und die Eintrittspforten in den menschlichen Körper kennen gelernt hatten. Wir wissen heute, daß die Tuberkulose in der Hauptsache vom Menschen aus übertragen wird, daß aber auch durch die Milch, seltener das Fleisch von tuberkulosekranken Kühen eine Übertragung besonders auf Kinder stattfinden kann. Weitere Untersuchungen haben gelehrt, daß bei einer verhältnismäßig großen Zahl von Menschen Tuberkelbazillenherde im Körper vorhanden sind, ohne daß diese zu schwerer fortschreitender Erkrankung führen. Über die Zahl der Infizierten besteht keine völlige Klarheit. Manche Autoren nehmen bis zu 90% infizierter Menschen an, ich selbst schätze sie wesentlich geringer. Immerhin zeigen diese Erfahrungen, daß der gesunde Mensch gewisse Schutzstoffe in seinem Körper besitzt, welche die Entwicklung der vererblichen Keime hemmen, während in manchen zu Tuberkulose disponierten Familien derartige Schutzstoffe vielleicht fehlen. Auch gewisse Berufsarten geben einen verhältnismäßig großen Schutz, während andere der Entwicklung fortschreitender Erkrankung geradezu förderlich sind.

Statistik der Tuberkulose.

Weiter hat eine eingehende Arbeit Sievekings auf Grund der sorgfältigen Hamburger Medizinalstatistik gelehrt, daß die Tuberkulose von 1830 an (in welcher Zeit sie über 6% betrug), einen gewissen fortschreitenden Rückgang erfuhr, zurückgeführt teils auf die mit größerem Wohlstande einhergehende verbesserte Ernährung, teils auf die Verbesserung der Wohnungsverhältnisse, [1421] welche dem Fall des Festungsgürtels und der Ausbreitung der Bevölkerung auf eine wesentlich größere Wohnungsfläche folgte. Ein besonders starker Rückgang fand aber in den Jahren 1890–1899 statt, in welchen die Tuberkulosesterblichkeit von 3% auf weniger als 2% fiel. Im Jahre 1911 betrug sie nur 1,152%. In Preußen starben von je 10  000 Lebenden im Jahre 1876 32 Personen, im Jahre 1909 nur 15,59. Dieser erfreuliche Rückgang der Tuberkulosesterblichkeit ist zweifellos den Fortschritten der Behandlung und den großen sozialhygienischen Maßnahmen zuzuschreiben, welche in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einsetzten. Die Erfahrungen von Brehmer und Dettweiler hatten gelehrt, daß viele Fälle von Tuberkulose unter entsprechender Behandlung heilbar sind; aber diese Behandlung war bis dahin nur einer Minderzahl zugängig. Ausgehend von diesen Erfahrungen und der durch Koch und seine Mitarbeiter geschaffenen Lehre von der Übertragung der Krankheit trat 1895 in Deutschland unter E. von Leyden, B. Fränkel, Pannwitz u. a. ein Zentralkommitee zur Bekämpfung der Tuberkulose zusammen, um alle geeigneten Maßnahmen im Gebiete des Reichs zu fördern. In der Folge bildeten sich noch viele Vereine mit ähnlichen Bestrebungen, teils in Deutschland, teils im Ausland und im Jahre 1902 wurde auch ein internationales Zentralbureau zur Bekämpfung der Tuberkulose mit dem Sitz in Berlin geschaffen.

Mittel zur Bekämpfung.

Alle Mittel zur Bekämpfung der so viele Menschen in blühendem Lebensalter hinraffenden Seuche wurden im Laufe der Zeit in den Sitzungen besprochen. Es kamen und kommen in Betracht:

1. die Besserung der Ernährungs- und Wohnungsverhältnisse einer großen Zahl von Menschen auch in ländlichen Bezirken, die in einzelnen Teilen Deutschlands besonders stark von der Tuberkulose heimgesucht sind.

2. Die Vernichtung des Auswurfs und der Abscheidunge tuberkulöser Menschen, sowie die Desinfektion von Leib-, Bettwäsche, Handtüchern, Kleidern Erkrankter und Gestorbener.

3. Die Vorkehrungen zum Schutz des Kindes gegen Tuberkulose durch Verabreichung einwandfreier Milch (v. Behring) und Maßnahmen gegen die Ansteckung in der Familie.

4. Vorkehrungen gegen Übertragung in der Schule durch schulärztliche Aufsicht.

5. Verbreitung des Verständnisses für die Tuberkulose durch aufklärende Vorträge, Volksschriften, Wandermuseen für Tuberkulose und Warnungen.

6. Bekämpfung der ausgebrochenen Krankheit durch Schaffung von einer großen Zahl Volksheilstätten für heilbare Fälle.

Außerdem erscheint es dringend erwünscht, daß 7. alle Erkrankungen an offener Tuberkulose anzeigepflichtig werden.

Welche Verbreitung die Tuberkulose teilweise hat, und wie verheerend sie in ländlichen Bezirken zu wirken vermag, haben die Beobachtungen im Kreise Hümmling gezeigt. Mangelhafte Wohn- und Schlafräume in Verbindung mit ungenügender Ernährung und einer anschließenden Gleichgültigkeit der Bevölkerung ließen eine Ausbreitung der [1422] Seuche Platz greifen, die nur durch energisches Eingreifen in alle Verhältnisse bekämpft werden kann.

Heilstättenbehandlung.

Im Vordergrund des Kampfes steht an erster Stelle die Heilstättenbehandlung. Es ist das Verdienst des damaligen Vorsitzenden der Landesversicherungsanstalt der Hansastädte, Gebhardt, daß er in dem Invalidengesetz eine Handhabe zeigte, Gelder zum Bau von Heilstätten für Lungenkranke zu schaffen, soweit deren Zustand eine Wiederkehr der Erwerbsfähigkeit und demgemäß eine späterer Ersparung der Rente erwarten ließ. Der Gedanke von Gebhardt wurde allgemein aufgenommen, und soweit nicht die Versicherungsanstalten eigene Anstalten zur Behandlung ihrer Tuberkulösen ins Leben riefen, bewilligten sie zu geringem Zinsfuß anderen Vereinigungen Mittel zur Gründung derartiger Anstalten. Ende des Jahres 1909 besaßen die Versicherungsanstalten allein 97 Heilanstalten für Tuberkulöse; zu diesen kamen in der gleichen Zeit mehr als 60 weitere Anstalten, welche zum größten Teil der Beihilfe der Versicherungsanstalten ihre Entstehung verdanken. Daneben bestehen auch einzelne Privatanstalten, welche Kranke dritter Klasse aufnehmen. Außerdem haben einzelne Verwaltungsbehörden wie das Ministerium der öffentlichen Arbeiten Lungenheilstätten, so die Anstalt Stadtwald in Melsungen und Moltkefels bei Niederschreiberhau, unter Aufwendung großer Mittel für ihre Angestellten eingerichtet. Die Erfolge dieser Heilstätten sind im Laufe der Zeit durch bessere Auswahl der geeigneten Fälle und Fortschritte der Behandlung immer besser geworden. Von den in den Jahren 1897–1902 behandelten waren nach fünfjähriger Kontrollperiode noch 36−43% erwerbsfähig, von den 1897–1901 behandelten waren nach 5 Jahren noch 41% der Männer und 49% der Frauen erwerbsfähig.

Die Heilstättenbehandlung hat außer dem Erfolg der Behandlung auch den Vorteil, daß die Tuberkulösen über die Gefahr der Krankheitsübertragung aufgeklärt werden und in täglicher Übung durch Behandlung des Auswurfs und Verhalten beim Husten es lernen, ihre Umgebung nach Möglichkeit zu schützen.

Vorbeugende Maßregeln.

Die erfolgreichen Versuche zur Bekämpfung der Tuberkulose gaben die Anregung zu weiterem Ausbau des Begonnenen. Die nächste Aufgabe bestand in der möglichst frühzeitigen Erkennung der Tuberkulose. Im Jahre 1899 wurde in Berlin die Königliche Poliklinik für Lungenkranke eröffnet und mit allen Hilfsmitteln zur frühzeitigen Erkennung der Tuberkulose ausgestattet. In den verschiedensten Universitätsinstituten und Krankenhäusern wurden besondere Stationen zu diesem Zweck eingerichtet, die weiterhin zu erwähnenden Fürsorgestellen übernahmen die gleiche Aufgabe; die Ärzte wurden immer erneut auf die Bedeutung der frühzeitigen Diagnose und Behandlung aufmerksam gemacht. Die zweite Aufgabe bestand in dem Schutz der Gesunden gegenüber Ansteckung und der möglichsten Entfernung der Lungenkranken aus der Familie. Die Befugnis der Landesversicherungsanstalten den Rentenberechtigten an Stelle der Rente Heimstättenpflege zu gewähren führte zur Errichtung von Invalidenhäusern und Unterbringung [1423] von unheilbaren Fällen in entsprechenden Krankenanstalten. Eine große Zahl derartiger Einrichtungen ist teilweise durch die Versicherungsanstalten, teilweise durch Vorgehen von Privaten (v. Bodelschwingh), Genossenschaften und Städten entstanden. Indessen erwies es sich unmöglich alle Tuberkulösen aus der Familie zu entfernen und in entsprechenden Krankenhäusern oder Krankenabteilungen unterzubringen. Ausgehend von Erfahrungen in Grabowsee gründete deshalb der Vaterländische Frauenverein in Charlottenburg im Jahre 1902 eine Ermittelungs-, Beratungs- und Unterstützungsstelle für Lungenkranke mit dem Namen „Lungenkrankenfürsorge vom Roten Kreuz.“

Errichtung von Wohlfahrtsstellen.

Diese Bestrebungen fanden eine erfreuliche Unterstützung durch einen Erlaß des preußischen Kultusministeriums, welches die Errichtung von Wohlfahrtsstellen für Lungenkranke unter Betonung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte empfahl. Bis jetzt sind in Deutschland etwa 1500 derartige Fürsorgestellen eingerichtet, wobei die Sorge für eine gesunde und sonnige Wohnung, für entsprechende Ernährung, weiterhin der Schutz der Familie gegen Übertragung der Krankheit in den Vordergrund gestellt wurden. In der regelmäßigen häuslichen Kontrolle sind eine oder mehrere Fürsorgeschwestern tätig, welche unter Aufsicht eines Arztes handeln, der auch als Berater der Kranken in Tätigkeit tritt. Die eigentliche Behandlung verbleibt im allgemeinen dem Hausarzt. Mit diesen Fürsorgestellen sind vielfach Tageserholungsstätten mit Liegehallen verbunden.

In neuerer Zeit ist auch der Versuch gemacht, Tuberkulöse in landwirtschaftlichen Kolonien zu beschäftigen und Kinder mit tuberkulösen Drüsen ohne Auswurf und Eiterung in bäuerlichen Familien mit guter ländlicher Ernährung bei reichem Genuß von frischer Luft unterzubringen. Weiterhin wurden nach einem Vorschlag von Dr. Becher und unter Mitwirkung des Roten Kreuzes (Dr. Pannwitz, Prinzessin Hohenlohe, Exzellenz Studt) Walderholungsstätten ins Leben gerufen, in welchen die Kranken den Tag an frischer Luft verbringen. Vereinzelt wurden mit diesen Walderholungsstätten auch Liegehallen zum Schlafen verknüpft. Für Kinder wurde auch die Bedeutung von Seeluft, Seebädern, Solbädern zur Ausheilung tuberkulöser Erkrankungen und zur Kräftigung des Körpers erneut betont. Eine große Anzahl von Kinderheilstätten ist zur Erreichung dieses Zieles erstanden.

Daß auch die von R. Koch zuerst versuchte und vielfach bekämpfte spezifische Therapie der Tuberkulose bei erneuter und vorsichtiger Anwendung größere Erfolge aufzuweisen hat, sei hier nur kurz erwähnt.

Auch die Hauttuberkulose (fressende Flechte) ist in den letzten Jahren in das Bereich der Tuberkulosebekämpfung einbezogen worden. Doch sind die Versuche noch zu neu, um schon wesentliche Resultate erhoffen zu lassen.

So sehen wir eine große Zahl von Kräften zusammenwirken die verheerende Volksseuche zu bekämpfen. Ein deutlicher Erfolg dieses Kampfes der letzten Jahrzehnte ist schon heute sichtbar. Die Tuberkulosesterblichkeit ist im Königreich Preußen von 28,2 [1424] im Jahre 1890 auf 15,59% im Jahre 1900 und auf 14,9 im Jahre 1912 auf 10 000 Lebende gerechnet, gesunken, ein geradezu überraschender Erfolg. Hoffentlich gelingt es auch fernerhin die Tuberkulose erfolgreich zu bekämpfen.

Die Syphilis und ihre Bekämpfung.

Erreger der Seuche.

Die zweite wie in allen Kulturstaaten so auch in Deutschland ständig vorhandene Volksseuche, die Syphilis, hat in den letzten Jahrzehnten in diagnostischer und therapeutischer Beziehung ganz wesentliche Fortschritte aufzuweisen. Man wußte zwar seit langer Zeit, daß der Erreger der Seuche ein Mikroorganismus sein müßte, der vorwiegend im engsten Verkehr von Menschen zum Menschen übertragen würde. Aber erst Schaudienn und Hoffmann gelang es als regelmäßigen Befund in den verschiedensten syphilitischen Produkten eine wohlcharakterisierte Spirochäte zu finden, der sie den Namen Spirochaeta pallida gaben. Dieser Befund wurde von den verschiedensten Nachuntersuchern bestätigt und auch bei angeboren luetischen Kindern, sowie bei Affen, welche mit Syphilis infiziert waren, erhoben, während Spirochäten bei Nichtsyphilitischen niemals konstatiert werden konnten. In der Folgezeit ist es auch gelungen diese Spirochäten bei Erkrankungen des Zentralnervensystems aus syphilitischer Ursache wie der Dementia paralytica und der Tabes dorsalis nachzuweisen, ferner dieselben künstlich zu züchten und mit der Kultur Syphilis bei vielen Tieren hervorzurufen. Ein weiterer wesentlicher Fortschritt beruht auf der von Wassermann entdeckten Methode, durch Untersuchung des Blutserums von Menschen zu erforschen, ob der Betreffende an Syphilis gelitten hatte oder noch Reste der Syphilis im Blut zeigte. Die Ergebnisse dieser Methoden wurden zwar vielfach in Zweifel gezogen, aber nur bei frischen Scharlachfällen konnte eine ähnliche Serumreaktion erzielt werden, so daß die Wassermannsche Reaktion eine der wichtigsten Untersuchungsmethoden auf das Vorhandensein von Resten einer syphilitischen Erkrankung geworden ist. Die dritte große Entdeckung auf dem Gebiete der Syphilis verdanken wir Ehrlich und seinem Schüler Hata, die das von ihnen gefundene Arsenikpräparat Salvarsan 1910 in die Behandlung einführten. Es kann heute keinem Zweifel unterliegen, daß das Präparat bei entsprechender Anwendung mit Einspritzung in eine Vene das beste Heilmittel der Syphilis darstellt, daß es viele Fälle allein und rasch zur Heilung führt, während in anderen eine Nachbehandlung mit den älteren Mitteln, Quecksilber und Jod sich empfiehlt. Die allgemeine und energische Durchführung der Salvarsanbehandlung läßt hoffen, daß mit der besseren und rascheren Heilung auch die Übertragung der Syphilis immer seltener wird.

Gefahr der Seuche.

Heute gehört allerdings die Syphilis deshalb noch zu den gefährlichsten Seuchen, weil sie ihre deletären Wirkungen teilweise ganz schleichend entfaltet. Von den vielen syphilitischen Erkrankungen sei nur eine erwähnt, die Dementia paralytica (vielfach fälschlicherweise als Größenwahn [1425] bezeichnet), an welcher in Deutschland etwa 2000 Menschen pro Jahr zugrunde gehen, die häufig im besten Mannesalter und auf der Höhe der Arbeitskraft ihrer Familie entrissen werden. Die Verhältnisse bringen es mit, daß besonders solche Menschen, welche erst spät zu heiraten vermögen (Offiziere, Studierende, Beamte, Kaufleute) gefährdet sind. Eine große Anzahl Syphilitiker geht außerdem an frühzeitig eintretenden Erkrankungen des Herzens und des Gefäßsystems zugrunde. Ein noch größerer Schaden erwächst aus Erkrankungen der Nachkommenschaft. Viele Kinder sterben früh, teils an den Folgen der Syphilis, teils an Lebensschwäche. Ein großer Prozentsatz von Kindern syphilitischer Eltern füllt die Idiotenanstalten. Herr Dr. Kellner hat in den Alsterdorfer Anstalten bei Hamburg vor kurzem nachweisen können, daß unter 100 Fällen in 50 Fällen sich Reste von Syphilis durch die Befunde und die Wassermannsche Reaktion nachweisen ließen. Immense Kosten erwachsen dem Staat aus diesen Verheerungen einer Seuche. Dabei muß betont werden, daß die Erkrankung auch durch direkte und indirekte körperliche Berührungen (Küssen, Schlafen in einem Bett, Benutzung gleicher Tücher, Blasinstrumente) häufig übertragen wird. Ärzte, Hebammen, Krankenpfleger und Pflegerinnen werden nicht all zu selten von ihren Patienten, Ammen durch kranke Kinder, Arbeiter von ihren Kameraden angesteckt.

Prostitution und Seuchenkontrolle.

Doch ist im allgemeinen dank der vielen Warnungen und Bestrebungen (ich erinnere an die Bestrebungen der deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der betreffenden Erkrankung) die Zahl der Erkrankungen gesunken. Immerhin kann noch viel nach dieser Richtung geschehen. Bedauerlich ist vor allem, daß die für die Übertragung der Krankheit so gefährlichen Prostituierten in den großen Städten über das Weichbild der Stadt verstreut, in größeren oder meist kleineren Familienwohnungen sich einmieten dürfen. Die Erschwerung der Seuchenkontrolle bringt es mit sich, daß dadurch Übertragungen auch auf die Mitwohner und besonders die Kinder im Hause ermöglicht sind, Übertragungen, die vielfach erst nach Jahren schwere Symptome machen. In dieser Beziehung ist eine Änderung dringend erwünscht. Allerdings bestand für den Arzt früher die Anzeigepflicht in allen Fällen, bei denen nach Ermessen des Arztes von der Verschweigung der Krankheit nachteilige Folgen für die Kranken selbst oder für das Gemeinwesen zu befürchten waren. Diese Bestimmungen sind durch das neue Seuchengesetz aufgehoben, und es ist nur eine Beobachtung, Absonderung und zwangsweise ärztliche Behandlung bei denen gestattet, welche der gewerblichen Prostitution ergeben sind. Viele von diesen entziehen sich aber der ärztlichen Behandlung, suchen Kurpfuscher auf und tragen so zur Verbreitung der Seuche bei. Hier sind neue Gesetze auf Grund der Erfolge bei der Bekämpfung der übrigen Seuchen dringend erforderlich. Es sollte auch bei allen Prostituierten die Anwendung des Salvarsans geboten sein, well eine mehrwöchentliche Behandlung mit diesem Mittel die Krankheit vielfach zur völligen Heilung bringt, jedenfalls aber die Übertragungsfähigkeit in hohem Grade herabsetzt.

[1426]

Krankenkassen.

Auch die Klienten der Krankenkassen und selbst die nicht zahlungsfähigen Kranken sollten in viel energischerer Weise der Behandlung unterzogen werden, als es seither der Fall ist. Die hieraus entstehenden Kosten werden reichlich dadurch aufgewogen, daß spätere schwere Erkrankungen mit Aufhebung der Arbeitsfähigkeit aufgehalten werden. Für Kranke, welche sich einer Behandlung nicht unterziehen wollen, müßte die Möglichkeit bestehen, sie als Seuchenträger der Polizeibehörde anzuzeigen. Die Behandlung der Krankheit durch Kurpfuscher, welche so schwere Verschleppungen zur Folge hat, müßte ebenso im allgemeinen Interesse verboten werden.

Aufklärung.

Weiterhin ist aber eine dauernde Aufklärung der Bevölkerung am Platz. Ich kenne einen ländlichen Ort, in welchem seit vielen Jahren ein Arzt für alle die jungen Männer, welche zum Militärdienst eingezogen und den Gefahren größerer Städte ausgesetzt wurden, jährlich einige Vorträge über die Gefahren der Syphilis und verwandten Erkrankungen abhielt. Die Erfolge wurden als überraschend erfreulich bezeichnet. Auch seitens der Militärbehörde sind derartige Belehrungen der Rekruten angeordnet worden. Seitens der deutschen Gesellschaft sind auch Merkblätter und kurzgefaßte Flugschriften zur Belehrung der Bevölkerung ausgegeben worden. Man wird nach den vorliegenden Tabellen annehmen dürfen, daß diese Bestrebungen erfolgreich waren. Ich füge zum Schluß eine Tabelle von Blaschko an.

Häufigkeit der Syphilis und verwandten Erkrankungen am 20. April 1900.

□□□ Ganz Preußen 28:10 000
□□□□□□□□□□□□□□□Berlin 142:10 000
□□□□□□□□□□□□Städte über 100 000 E.: 100:10 000
□□□□□Städte über 30 000 E.: 58:10 000
□□□□ Städte unter 30 000 E.: 45:10 000
□□Armee 15:10 000
□Kleinstädte und Land 7,95:10 000

Die Bekämpfung des Alkoholismus.

Gefahr des Alkoholismus.

Der Alkoholismus gehört nächst der Tuberkulose und Syphilis zu den gefährlichsten Feinden des deutschen Volkes, um so gefährlicher, weil die Art, in welcher er den Menschen entgegentritt nicht immer abschreckend ist. Wenn man aber berücksichtigt, daß in Deutschland im Jahr 250 000 Verurteilungen wegen Vergehen und Verbrechen im Alkoholrausch erfolgen (Flade), wenn man die Statistik betrachtet, welche zeigt, daß in Deutschland in den Jahren 1898–1901 65 433 Menschen an Säuferwahnsinn erkrankten[1][1427] und erwägt, daß viele alkoholische Erkrankungen sich der öffentlichen Beurteilung entziehen, daß die Nachkommenschaft der Trinker vielfach geistig minderwertig ist und dem Verbrechen und der öffentlichen Armenpflege anheimfällt, dann muß man die Bestrebungen gegen den Alkoholismus mit allen Kräften unterstützen.

Bestrebungen dagegen.

Diese Bestrebungen haben in allen Kulturstaaten eingesetzt, am energischsten und mit dem größten Erfolg in Schweden und Norwegen, durch Beschränkung der Schankstellen (in Gotenburg 1 Schankstelle auf 2798 Einwohner), Verbot des Borgs und des Verkaufs an Menschen unter 18 Jahren, Einrichtung von Kaffeehäusern mit Leseräumen.

In Deutschland hat allerdings die Verwaltung die Möglichkeit, die Auswüchse des Alkoholismus zu bekämpfen, indem die Konzession zum Ausschank geistiger Getränke an ihre Genehmigung gebunden ist. Aber trotzdem viele Gesuche, eine Kneipe errichten zu dürfen, abgelehnt werden, muß die Zahl der Kneipen doch noch als viel zu hoch bezeichnet werden. Kommt doch eine Kneipe in einzelnen Provinzen auf 141–162 Einwohner, in anderen auf etwa 200. Von besonderem Schaden ist es, daß in kleineren Geschäften Alkohol in größeren Mengen über die Straße verkauft werden darf.

Erfolge in Deutschland.

Immerhin hat die Bekämpfung des Alkoholismus in Deutschland Erfolge zu verzeichnen. Daß die Besserung der Arbeiterwohnungen, der Lebensverhältnisse ein wichtiger Faktor ist, braucht kaum betont zu werden. Auch die Gesetzgebung vom 15. Januar 1892, nach welcher derjenige entmündigt werden kann, welcher infolge von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag, oder sich und seine Familie der Gefahr des Notstands aussetzt oder die Sicherheit anderer gefährdet, dürfte von Einfluß gewesen sein, wenn sie auch nicht allzu häufig in Anspruch genommen wird. Weiterhin kann nach § 361 des BGB. derjenige, welcher sich dem Trunk dergestalt hingibt, daß er in einen Zustand gerät, in welchem zu seinem Unterhalt und zum Unterhalt derjenigen, zu deren Ernährung er verpflichtet ist, durch Vermittlung der Behörde fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß, mit Haft bestraft und in einem Arbeitshaus untergebracht werden.

Reichsversicherungsordnung.

Eine weitere Möglichkeit zur Bekämpfung des Alkoholismus hat die Reichsversicherungsordnung gebracht, indem auch Trunksüchtigen, welche nicht entmündigt sind, an Stelle der Renten ganz oder teilweise Sachleistungen gewährt werden können. Auf Antrag eines beteiligten Armenverbandes oder der Gemeindebehörde muß dieses sogar geschehen. Mit Zustimmung der Gemeinde können die Sachleistungen auch durch Vermittlung einer Trinkerfürsorgestelle gewährt werden; allein in Preußen bestehen 132 derartige, in der Regel von Bezirksgruppen gegründete Einrichtungen, die meist seitens der Landesversicherungsanstalten durch Zuschüsse unterstützt werden. Diese tragen auch die Kosten, welche durch Aufnahme ihrer trunksüchtigen Klienten in Heilanstalten entstehen. [1428] Außerdem können trunksüchtige Rentenempfänger der Landesversicherungsanstalten gegen Abtretung der Rente in einem Invalidenheim verpflegt werden. Ferner kann in Preußen nach einer Verfügung des Ministers des Inneren vom 24. Dezember 1841 die Ortspolizeibehörde den Schankwirten Persönlichkeiten als Trunkenbolde bezeichnen, denen bei einer Polizeistrafe von 2 bis 5 Talern kein Branntwein verabreicht, oder auch nur der Aufenthalt in der Gaststube verstattet werden darf.

Allerdings wird von dieser Berechtigung kaum Gebrauch gemacht. Sie dürfte aber mehr in Betracht kommen, wenn es sich darum handelt, dem Rentenbezieher an Stelle baren Geldes Naturalien zu verabreichen, da nach dem Invalidenversicherungsgesetz und dem Unfallversicherungsgesetz für Land- und Forstwirtschaft die Rentenbezüge denjenigen Personen in Naturalleistungen geliefert werden können, welchen geistige Getränke in öffentlichen Schankstätten nicht verabreicht werden dürfen.

Freiwillige Mitwirkung des Volkes.

Alle diese gesetzlichen und verwaltungsrechtlich möglichen Eingriffe in das Leben des Trinkers bedürfen aber der freiwilligen Mitwirkung des Volkes. Schon seit langer Zeit sind an verschiedenen Orten Deutschlands Anstalten für Trinker errichtet worden, teils von dem Gedanken der möglichen Heilung der Trunksucht ausgehend, teils von dem Wunsch, Trinker, welche außerhalb der Anstalt rasch wieder dem Alkoholismus verfallen und in Konflikte geraten, vor beidem zu retten. Außer den Trinkerheilstätten sind in Deutschland in den letzten Jahren 178 Fürsorgestellen für Trinker erstanden. Ihre Bedeutung wird im Laufe der Zeit sicher wachsen. Vielfach sind auch Erfrischungshallen in Städten, in Fabriken eingerichtet, welche an Stelle alkoholischer Getränte Milch, Kakao, Kaffee zu einem geringen Preis verabreichen. Der Berliner Frauenverein gegen den Alkoholismus hat neben vielen anderen Erfrischungshallen auch eine solche an Stelle einer früheren Kneipe und in dieser nach dem Vorbild Schwedens einen Mittagstisch eingerichtet. Auch im Grunewald wurden alkoholfreie Erfrischungshallen eingerichtet und die Entziehung der Schankgerechtsamkeit der Förster seitens des Forstfiskus erreicht.

Eine erfolgreiche Bekämpfung des Alkoholismus ist aber nur zu erwarten, wenn alle Kreise des Volkes in dem gleichen Gedanken zusammenarbeiten. Da die höher kultivierten Klassen und Rassen den weniger kultivierten häufig als Vorbilder dienen, so ist es die erste Aufgabe, daß die Trinksitten der Wohlhabenden bekämpft werden, und daß letztere an der Beschränkung und dem Ersatz der Trinksitten mitarbeiten.

Der Appell zur Mitarbeit mußte sich demgemäß an erster Stelle an die jetzigen und künftigen Führer des Volkes, die Lehrer, die Offiziere und Studierenden wenden. Man muß auf England hinweisen, in dem der Sport und die damit verknüpfte Ausbildung der körperlichen Leistungsfähigkeit in den höheren Klassen den Alkoholismus sehr eingeschränkt hat. Der Appell ist auch nicht vergebens gewesen.

Die Bestrebungen im Kampf gegen den Alkoholismus gehen zwar unter zwei verschiedenen Devisen, aber im Prinzip hat jede dieser Bewegungen ein gewisses Recht. Die völlige Enthaltung von Alkohol ist für viele Menschen nicht nur durchführbar, sie ist für [1429] eine große Zahl Menschen dringend geboten. Für viele Nervenkranke muß der Alkohol als ein starkes Gift bezeichnet werden. Für alle diejenigen, welche mit starken Erregungszuständen reagieren, alle diejenigen, welche den einmal begonnenen Genuß aus innerem Drang nach weiterer Betäubung fortsetzen und so das eigene Leben und das der Angehörigen zerstören, ist völlige Enthaltung von Alkohol das einzige Hilfsmittel. Es läßt sich auch behaupten, daß eine große Zahl von Menschen durch die völlige Abstinenz gerettet und die Familien wieder in geordnete Verhältnisse gekommen sind. Daß sich die völlige Enthaltung vom Alkohol für alle Kreise des Volkes durchführen läßt, ist unwahrscheinlich. Es hat sich auch in anderen Staaten gezeigt, daß die strengsten Gesetze das nicht zu erreichen vermochten. Deshalb müssen wir es begrüßen, daß auch eine Mäßigkeitsbewegung in erfolgreicher Weise eingesetzt hat. Man wird auch mit einem gewissen Recht annehmen können, daß der Rückgang des Säuferwahnsinns in den Jahren 1902–1904 auf weniger als die Hälfte gegenüber der vorangegangenen Jahren auf alle diese Bestrebungen zurückzuführen ist. Damit steht im Einklang, daß der Branntweinkonsum pro Kopf und Jahr in Deutschland im Jahre 1909–1910 einen beträchtlichen Rückgang zeigt. Immerhin ist der Konsum der alkoholischen Getränke in Deutschland noch recht beträchtlich. Die Ausgaben für diese werden im Jahr auf mehr als drei Milliarden geschätzt.

Die Mutterschafts- und Säuglings-Fürsorge.

Private Bestrebungen zur Mutterschafts- und Säuglingsfürsorge haben naturgemäß seit alten Zeiten bestanden. Aber erst seitdem der Gedanke der sozialen Fürsorge weiteren Boden gewann und auch in gesetzlichen Bestimmungen seinen Ausdruck fand, und seitdem die Zunahme des Wohlstandes es möglich machte, reichere Mittel für diese Zwecke zu gewinnen, haben die Bestrebungen größere Erfolge gezeitigt.

Mutterschutz.

Nachdem die Novelle zur Gewerbeordnung vom 23. August 1908 einen vierzehntägigen vorgeburtlichen Schutz der in Fabriken und Werkstätten beschäftigten Arbeiterinnen vorgesehen hatte, bestimmt die Reichsversicherungsordnung folgendes (§ 195):

Wöchnerinnen, die im letzten Jahr vor der Niederkunft mindestens sechs Monate hindurch auf Grund der Reichsversicherungsordnung oder bei einer knappschaftlichen Krankenkasse gegen Krankheit versichert waren, erhalten ein Wochengeld in Höhe des Krankengeldes für acht Wochen, von denen mindestens 6 Wochen auf die Zeit nach der Entbindung fallen müssen. Mitglieder der Landkrankenkassen erhalten das Wochengeld mindestens für vier und höchstens für acht Wochen. Weiterhin kann arbeitsunfähigen Schwangeren Krankengeld für sechs Wochen gewährt werden.

Auch Anstaltsfürsorge wird den Schwangeren durch Kommunen und Stiftungen, Wöchnerinnenheime besonders in größeren Städten vielfach gewährt, ebenso ärztliche Hilfe durch wohltätige Einrichtungen, welche zum Teil mit Unterstützung des Vaterländischen [1430] Frauenvereins geschaffen werden konnten. Auch einzelne Privatpersonen haben sich große Verdienste in dieser Richtung erworben.

Im allgemeinen bedürfen aber diese Einrichtungen eines weiteren Ausbaues und einer Ausdehnung auf das ganze Reich.

Säuglingsschutz.

Ein Teil der Bestrebungen zum Mutterschutz dient naturgemäß gleichzeitig dem Schutz der Neugeborenen. Ein derartiger Schutz ist nicht nur aus humanitären Gründen geboten, sondern mit Rücksicht auf die auch in Deutschland abnehmende Zahl der jährlichen Geburten ein volkswirtschaftliches Erfordernis.

Ist doch vom Jahre 1881 bis zum Jahre 1910 eine Minderung der Geburten von 46,9 zu Tausend auf 32,6 zu verzeichnen.

Die ersten Bestrebungen zum Säuglingsschutz bestanden in Beratungsstellen für Kinderfürsorge (Taube in Leipzig, Budin in Paris). In Deutschland wurden außer den Ärzten von der ersten Einrichtung der Fürsorgestellen an auch Fürsorgeschwestern zur Mitwirkung herangezogen, welche durch Hausbesuche die Mütter und Pflegemütter zu unterstützen in der Lage sind. Die erste Aufgabe gegenüber dem Neugeborenen besteht naturgemäß darin, die Mütter zum Stillen der Kinder zu veranlassen. Das ist nicht immer ganz leicht, da auf der einen Seite Abneigung der Mütter gegen das Stillen, auf der anderen Frauenarbeit und Beruf vielfach ein Hindernis für die natürlichen Mutterpflichten sind. Um diese wieder zu ihrem Recht kommen zu lassen, werden vielfach Stillprämien in verschiedener Form gewährt. Manche Städte wie Berlin verausgaben als Stillprämien beträchtliche Summen (150 600 M. im Jahre 1909). Andere Orte gewähren Prämien in Form von Naturalien (1 Liter Milch pro Tag). Auch Mutterschaftskassen wurden zu diesem Zweck gegründet.

Eine weitere Aufgabe besteht darin, Säuglingen, bei welchen die mütterliche Ernährung unmöglich ist, einwandfreie Milch in der dem Alter entsprechenden Form zu verabreichen. Die Zahl dieser Milchküchen ist ganz außerordentlich groß. In Verbindung mit diesen Milchküchen sind vielfach auch Säuglingsheime entstanden. In Preußen wurde auf Anregung Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin im Jahre 1905 eine Zentrale zum Säuglingsschutz ins Leben gerufen, aus welcher der Plan erwuchs, eine physiologische Forschungsanstalt für Säuglingsernährung mit klinischer Behandlung zu schaffen. Die Grundlage hierfür wurde durch eine Spende der Majestäten von 25 000 M. und durch Stiftung eines geeigneten Grundstücks seitens der Stadt Charlottenburg gelegt. Auch vonseiten der Volksvertretung sind Mittel zu diesem Zweck bewilligt worden.

Heute kann das Kaiserin Augusta Viktoria-Haus zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reich als eine Musteranstalt bezeichnet werden.

Zweifellos wird die neue Anstalt zur Nachahmung Veranlassung geben. Gewiß brauchen wir, wie Ministerialdirektor Kirchner mit Recht betont hat, keiner allzupessimistischen Auffassung bezüglich des Geburtenrückgangs uns hinzugeben, da es vielfach besser ist, wenn eine Familie eine kleiner Anzahl gesunder Kinder großzieht, als sich um eine größere Zahl früh absterbender bemüht. Aber große Berücksichtigung darf der Geburtenrückgang [1431] doch beanspruchen. Jedenfalls ist von allen Seiten der wichtigen Frage und den Mitteln zu ihrer Lösung durch großzügige Jugendfürsorge reges Interesse entgegengebracht worden. Am 19. Juli 1909 trat sodann in Dresden der deutsche Kongreß für Säuglingsschutz zum erstenmal zusammen, zum zweitenmal 1910 in München. Den verschiedenen Anregungen der Vortragenden ist auch die Aufnahme des erwähnten Mutterschutz-Paragraphen der Reichsversicherungsordnung zu danken.

Auch auf dem Gebiete der Säuglingsfürsorge bietet sich unter Einbeziehung der Ärzte und Hebammen noch ein weites erfolgversprechendes Arbeitsfeld.

Maßnahmen gegen Abtreibung.

Eine Ausdehnung ist besonders erwünscht, daß Maßnahmen gegen die heute so häufig geübte Abtreibung der Leibesfrucht ergriffen werden. In dieser Beziehung übt das Kurpfuschertum einen geradezu verheerenden Einfluß aus. Mittel zur Verhütung der Empfängnis und zur Beseitigung der Schwangerschaft werden teils in Zeitungsanzeigen und in brieflichen Anzeigen empfohlen, teils durch Geschäfte und Hausierer vertrieben. Daß auch im übrigen das Kurpfuschertum schweren Schaden durch Verhinderung der Seuchenbekämpfung und durch Ausbeutung armer Kranker verursacht, hat früher schon Erwähnung gefunden.

Rückblick.

Die wichtigen Gesetze und die Fülle von Arbeiten und Bestrebungen auf dem als soziale Medizin und Hygiene umschriebenen Gebiet haben in wenig Jahrzehnten größere Fortschritte gezeitigt, als sie früher Jahrhunderte ja Jahrtausende zu verzeichnen hatten. Diese Fortschritte zeigen sich darin, daß für den überwiegenden Teil der weniger gut situierten Bevölkerung und ihre Angehörigen im Fall von Krankheit, Alter, Invalidität und Unfall Fürsorge getroffen und der früher leicht eintretenden Verarmung gesteuert ist, daß die übertragbaren Krankheiten, sowie die Gesundheitsschädigungen durch berufliche Tätigkeit eine überraschende Abnahme erfahren haben, daß Mittel und Wege gefunden sind, auch andere Gesundheitsschädigungen der Bevölkerung fernzuhalten, daß auf Grund aller dieser Maßnahmen die durchschnittliche Lebensdauer und mit der Erhaltung der Arbeitskraft auch der Wohlstand eine beträchtliche Zunahme erfahren haben.

Daß derartige Umgestaltungen mit ihren Lichtseiten auch manche Schatten nicht vermissen lassen, wer kann das leugnen? Niemals wird es an Bestrebungen fehlen, die besten Gesetze und Maßnahmen zu persönlichem Vorteil oder im Parteiinteresse auszubeuten. Die Erkenntnis Berufener wird aber sicher in der Lage sein, derartige Bestrebungen einzuengen und eine Ausbreitung der Schädigungen zu verhindern. Es wäre unrecht, wollten wir uns durch einige trübe Erfahrungen die Freude an dem Errungenen rauben und von dem als recht erkannten Weg ablenken lassen.

Aufgaben.

Denn noch harren viele dankbare Aufgaben der Lösung. In der energischeren Bekämpfung des Alkoholismus und der Syphilis, in der Erziehung einer körperlich und geistig gesunden Jugend kann noch viel geleistet werden. [1432] Stand bisher die Erhaltung der körperlichen Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Vordergrund des Interesses, so wird in der Zukunft auch die Erhaltung der geistigen Gesundheit größere Berücksichtigung erheischen. Daß dieser durch eine zügellose Presse und durch Schmutzliteratur Gefahren drohen, bedarf keiner Betonung. Dankenswerte Anregungen und Bestrebungen zu ihrer Bekämpfung fehlen auch keineswegs.

Die Freiheit in Schrift und Wort einer ehrlichen Überzeugung Ausdruck zu geben, braucht nicht zu leiden, wenn Maßnahmen ergriffen werden, um der Spekulation auf niedrige Leidenschaften des Volkes und der heranwachsenden Generation zur Erzielung schmutzigen Gewinns oder zur Erziehung in staatsfeindlichem Sinn energisch entgegenzutreten. Auch auf diesem Gebiet wird eine Sammlung aller arbeitswütigen und geeigneten Kräfte zu gemeinsamer Tätigkeit erstes Erfordernis sein. Ein Erfolg, der auch von gesetzlichen Maßnahmen gefolgt sein müßte, kann aber nur erwartet werden, wenn das Volk und seine Vertretung in der Mehrzahl für diese Bestrebungen gewonnen wird. Dann dürfen wir hoffen, die Schmarotzerpflanzen zu beseitigen, welche heute an der Lebenskraft des Volkes zehren.


  1. Auf 100 Krankheitsfälle kamen an Alkoholismus und Säuferwahnsinn im ganzen Deutschland 1,4%, in der Provinz Westfalen 1,3%, in der Provinz Ostpreußen 2,1%, in der Provinz Hessen-Nassau 0,8%, in der Provinz Westpreußen 2,7%, in der Rheinprovinz 1%, in der Provinz Pommern 3,3%, in Hamburg 2%, in Bayern 0,3%.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Arbeiterinnen