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aber erst in den letzten beiden Jahrzehnten haben sie eine selbständige Entwicklung erfahren und eine große Bedeutung erlangt, welche leider von den medizinischen Fakultäten und unter deren Einfluß von dem Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten nicht genügend gewürdigt wird. Viele Schwierigkeiten und Schädigungen sind aus dieser Tatsache den Interessenten der sozialen Gesetzgebung und dem Allgemeinwohl erstanden, die erst mit der systematischen Ausbildung aller Ärzte auf diesem Gebiet schwinden werden.

Die Entwicklung der sozialen Medizin (im engeren Sinn).

Umgestaltung der ärztlichen Tätigkeit.

Ohne daß eine entsprechende Ausbildung der Ärzte auf dem Gebiet der sozialen Gesetzgebung mit ihren neuen Anforderungen statt gehabt hatte, traten die Gesetze in Kraft. Es ist naturgemäß, daß die völlige Umgestaltung der ärztlichen Tätigkeit, welche zwischen den hilfesuchenden Kranken und den Arzt die Mitwirkung der gesetzlichen Träger der Versicherung (Krankenkassenvorstand, Berufsgenossenschaften, Versicherungsanstalten) einschob, die Lebensinteressen des ärztlichen Standes eingehend berührte. Diese Tatsache machte sich um so stärker geltend, je mehr die Zahl der Klienten der sozialen Versicherung anstieg. Sie trat am intensivsten bei der Krankenversicherung in Erscheinung.

Hatten die Ärzte früher vielfach die kassenärztliche Tätigkeit im Nebenamt ausgeübt, so zeigte die Entwicklung, daß diese Tätigkeit vielfach zum Hauptamt wurde, und daß neben einer übermäßigen Inanspruchnahme einzelner Kassenärzte die Mehrzahl der jüngeren Ärzte keine Beschäftigung fand.

So entwickelte sich in Ärztekreisen, welchen diese Nachteile zuerst auffielen, eine gewisse Unzufriedenheit mit den Folgen der Krankenversicherung. Diese Unzufriedenheit wuchs durch manche Vorkommnisse bei den Kassen. Veranlaßt durch die große Zahl wenig beschäftigter Ärzte bemühten sich einzelne Kassenvorstände, die Ausgaben für ärztliche Behandlung möglichst herabzudrücken, bei anderen Kassenvorständen ergaben Gerichtsverhandlungen, daß sie Kassenarztstellen gegen Bezahlung abgaben, daß ein Zehntel des ärztlichen Honorars in die sozialdemokratische Parteikasse abgegeben werden mußte (Altona). Auch anderweitige Beeinflussung der Kassenärzte wurde versucht, so daß einzelne schwache Charakter unter den Ärzten der sozialdemokratischen Partei beitraten. Gerichtsverhandlungen ergaben außerdem, daß gut bezahlte Stellen an Kassen nicht wegen der Leistung für die Krankenkassen, sondern als Belohnung wegen agitatorischer Tätigkeit für Parteizwecke verliehen wurden. Auch Verschwendung und anderweitig ungesetzliche Verwendung von Kassengeldern kam nicht selten vor. Die Stellung der Kassen als Organe der Selbstverwaltung machte ein staatliches Eingreifen sehr schwer.

Leipziger Verband.

Die deutschen im Ärztevereinsbund vereinigten Ärzte versuchten zunächst durch Petitionen an die Behörden

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1404. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/275&oldid=- (Version vom 20.8.2021)