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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[405]

No. 25.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Engelid.

Novelle von Balduin Möllhausen.
(Fortsetzung.)


Knut beachtete den Inhalt der Kiste nicht weiter. Er hatte die Renthierbüchse, die schon sein Vater führte, von der Wand genommen. Aufmerksam betrachtete er Rohr und Schloß.

„Alles sauber und rostfrei,“ bemerkte er, anscheinend Engelid’s Worte überhörend.

„Olaf gab mir öliges Mark aus einem Ziegenknochen und unterwies mich, wie ich es anzuwenden habe. Es war keine Mühe.“

„Das Schloß spielt, wie ein Uhrwerk,“ fuhr Knut gelassen fort. Er hob die Büchse an die Schulter und zielte auf einen Punkt des jenseitigen Ufers; dann, indem er sie absetzte, wandte er sich mit einem gewissen Behagen wieder zu Engelid: „Wer hätte geglaubt, daß ich dies alte Schießzeug noch einmal zur Hand nehmen würde!“ sagte er, und seine Augen leuchteten vor Freude, daß es Engelid schier verwunderte, das ernste Antlitz plötzlich einmal erhellt zu sehen; „mit dem Einrichten des Hausstandes hat es keine Eile; was soll ich mich an die vier Wände binden und fesseln? Für ein zeitweises Obdach, so lange es nichts mit der Jagd ist, sind sie gut genug, aber Ziegen melken und Fische dörren? Verdammt! Engelid, da gehe ich lieber hinaus in’s Jotungebirge – einen Cameraden werd’ ich schon finden oder zwei – und da will ich meine Lust haben, wenn’s gilt ein Rudel Renthiere in eine Sackschlucht zu treiben, einem Vielfraß nachzuspüren oder einem Bären aufzulauern.“

Er hing die Büchse wieder an die Wand. Als er gewahrte, daß Engelid sich zum Gehen anschickte, sprach er gleichmüthig:

„Willst also fort? Bei Gott, Engelid, ich kann’s Dir nur mit Worten danken, daß Du so lange hier zum Rechten sahst. Böte ich Dir mehr, möchtest Du eine Beleidigung darin finden.“

„Sicher thät ich das, Knut, und die habe ich noch weniger verdient, als Deinen Dank. Ich sagte Dir schon: auf des alten Zauberspielers Wunsch hätt’ ich an jedem Anderen ebenso gehandelt. Hegte ich nebenbei noch einen besonderen Gedanken, so hatte der mit meinen Gefälligkeiten nichts zu schaffen. Wir waren einst Nachbarskinder, trafen uns bei Spiel und Tanz – das ist Alles.“

„So nehme ich auch meinen Dank zurück,“ versetzte Knut mißmuthig, fügte indessen etwas wärmer hinzu: „Dagegen sollst Du mir nicht wehren, Dich zu bitten, meiner eingedenk zu sein, das heißt, wenn Du je irgend eines Freundschaftsdienstes oder einer Gefälligkeit benöthigt bist, so erinnere Dich des Knut Knutsen!“

„Das Anerbieten wehre ich Dir nicht; ich nehme es sogar mit gutem Dank an, werd’ aber schwerlich jemals in die Lage gerathen, Dich oder einen Anderen um einen Dienst anzusprechen. Es ist also kein böser Wille, wenn’s nicht geschieht. – Doch Du magst Dich sehnen, allein zu sein, Umschau zu halten in Deinem Eigenthum. Und so sage ich Dir Lebewohl. Mein Boot laß ich hier vor Deinem Hause liegen, höchstens heute und die Nacht, wenn Dir’s recht ist.“

„So lange, wie Dir’s gefällt, Engelid,“ erklärte Knut bereitwillig, indem sie in’s Freie hinaustraten, „doch wohin willst Du vor Deiner Heimkehr nach der Schärenhütte?“

„Nach Lärdalsörne. Dort laß ich’s Boot und gehe ein paar Stunden das Lärdal hinauf.“

„Hast Bekannte dort oder Anverwandte?“

„Bekannte, ja. Anverwandte habe ich überhaupt nicht mehr. Aber ich will Dir’s gestehen, damit Alles klar zwischen uns, und Du, wenn wir einander begegnen, mich wie einen guten Freund begrüßest, nicht argwöhnst, in meinem Kopfe gingen tolle Gedanken aus der Kindheit um.“

Sie hatten das Haus verlassen und waren auf dem schmalen Uferwege eingetroffen, wo sie stehen blieben. Engelid blickte über das stille Wasser, auf welchem das jenseitige Ufer im Spiegelbilde eine so täuschende Fortsetzung fand, daß die Grenze zwischen Trug und Wirklichkeit schwer zu markiren war. Knut beobachtete träumerisch den Flug zweier Möven, deren blendend weißes Gefieder in dem schattigen düsteren Felskessel förmlich leuchtete. Eine Freude des Wiedersehens des heimathlichen Fjords, wie sie ihm in der Ferne vorgeschwebt haben mochte, empfand er nicht. Im Gegentheil – ein eigentümliches Gefühl der Vereinsamung, des Fremdseins, wollte nicht von ihm weichen. Und dennoch, wie erschienen ihm die verflossenen zehn Jahre angesichts der vertrauten Umgebung so kurz, so verschwindend kurz! Oben, hoch oben auf den Rändern des geborstenen Plateaus, zitterte Sonnenschein; wie von den goldigen Strahlen geboren, schäumten hier und da die von den Gletschern ringsum genährten Gießbäche nieder. Es rauschte und brauste dumpf. Im nahen Dorf krähten die Hähne und dröhnte die Axt des Zimmerers. Weiter abwärts glitten leichte Fischerböte ab und zu.

„Alles noch wie damals!“ sagte Knut in Gedanken verloren.

„Alles noch wie damals!“ wiederholte Engelid. „Nur die Menschen sind älter geworden,“ fügte sie mit einem kaum bemerkbaren herben Lächeln um die üppigen Lippen hinzu, „und wie könnte es anders sein? Soll das stürzende Wasser da drüben doch allmählich den härtesten Stein aushöhlen, wie mir einst ein [406] kluger Mann erzählte – aber ich bin Dir noch eine Auskunft schuldig. Ich sagte Dir, daß der Müller Ornesen im Lärdal mich vor langen Jahren zum Weibe begehrte. Ich schlug’s aus, und als er nach der Ursache fragte, verrieth ich ihm, daß ich mich nur Jemand zu eigen geben könne, an dem mein Herz hinge. Mein Vertrauen gefiel ihm, und da sagte er, daß Alles in der Welt sich ändern möge, er aber seinem Vorschlage treu bleibe bis zur letzten Stunde, und wenn ich eines Tages zu ihm komme, würde es sein Glück sein, und ich sollte keine Ursache finden, meinen Schritt zu bereuen. Wohlan denn, Knut, mein Sinn steht nicht nach Reichthum, aber ich fühl’s, nach dem langen einsamen Leben ist’s besser, ich übernehme Pflichten, die all mein Sinnen und Trachten ausfüllen.“

„So willst Du den Ornesen heirathen?“ fragte Knut, und aus seiner Stimme klang es wie heimlicher Verdruß.

„Er ist ein rechtschaffener Mann,“ antwortete Engelid. „Sagt er, daß es ein Glück für ihn in seinem Alter, so ist’s wahr.“

„Du solltest Dir die Sache gehörig überlegen, Engelid; Du fändest wohl einen jüngeren und ansehnlicheren Mann.“

„Dazu bedarf es keines langen Ueberlegens. Ich seh’ nicht mehr nach Jugend und Schönheit. Ich geb’ mich Jemand, der mich nimmt, wie ich bin, nicht von mir verlangt, daß mir’s Blut noch durch die Adern tanze, wie die Elfs da drüben von Stein zu Stein springen – doch was soll das Reden? Lebe wohl, Knut! Von Herzen wünsche ich Dir Glück und Wohlergehen.“

Sie reichte ihm die Hand. Ihr Antlitz war vollkommen ruhig. Ueber einen mißlungenen Fischzug hätte sie nicht gleichmüthiger sprechen können. In Knut’s Brust aber arbeitete es seltsam. Es mochte ihm vorschweben, wie der Müller sie jubelnd willkommen heißen, wie er Alles aufbieten werde, ihr in seinem Hause eine trauliche Stätte zu bereiten. Ja, das war wohl ein anderes Wiedersehen, als das mit ihm in der Schärenhütte, und eine Reihe von Jahren war ja ebenfalls verstrichen, seitdem die Beiden einander zum letzten Mal in die Augen schauten, Jahre, in welchen der Müller in demselben Maße alterte, in welchem Engelid sich entwickelte und reifte. Er hätte den alten Mann beneiden mögen. Bevor er ein Wort der Erwiderung fand – und er wußte in der That nicht, was er hätte sagen sollen – schritt Engelid dem Dorfe zu.

„Engelid!“ rief er ihr nach. „wir sehen uns noch, wenn Du Dein Boot abholst. Ich muß Dir ebenfalls noch einen Glückwunsch mit auf den Weg geben, und eine Hochzeitsgabe von meiner Hand schlägst Du gewiß nicht aus.“

„Nein, Knut!“ rief Engelid eigenthümlich sanft über die Schulter zurück, „die schlage ich nicht aus, wenn ich Dir eine Freude damit bereite,“ und weiter schritt sie mit selbstbewußter, aufrechter Haltung, weiter auf ihren festbeschuhten Füßen, die fast zu klein für den hohen, kräftig gebauten Körper erschienen.

Knut blickte ihr sinnend nach. Es war sichtlich eine Augenweide für ihn, das große, schöne Mädchen, wie es sich geschmeidig in den Hüften wiegte, so anmuthig dahin schreiten zu sehen. O, es war ihm eine eigenthümliche, halb wehmüthige Lust, dieses Sehen – aber Eines sah er nicht: daß bald, nachdem sie von ihm gegangen, schwere Thränen langsam über Engelid’s Wangen rollten, er sah nicht, wie sie die Lippen fester auf einander legte und mit einer heftigen, sogar trotzigen Bewegung die Tropfen von ihren Wangen entfernte; er sah nicht den zornigen Blick, den sie auf den stillen Wasserspiegel warf, wie um Alles, was noch schmerzlich in ihr nachwirkte, in der unergründlichen Tiefe der Fluth zu begraben.

Sobald Engelid aus seinem Gesichtskreise getreten war, kehrte Knut in’s Haus zurück. Finster schauend, warf er sich hinter dem Tische auf die Bank. Wie erschien ihm das alte, vertraute Gemach plötzlich so verödet und vereinsamt! Unwillkürlich lauschte er. Ihm war, als könne er das Geräusch unterscheiden, mit welchem Engelid draußen in dem engen Küchenraum arbeitete, das Geräusch ihrer Schritte, indem sie sich anschickte, ihn freundlich zu bedienen. Aber sie war ja gegangen – gegangen – und es lag etwas wie Trotz in der Art, wie sie gegangen – – mit einer Geberde aufflackernden Zornes warf er den Hut neben sich aus den Tisch. Heftig sprang er empor, und mit flammendem Eifer begann er unter seinen alten Habseligkeiten zu ordnen und zu kramen, um sich dadurch Betrachtungen zu erwehren, die sich ihm unheimlich aufdrängten. Achtlos schleuderte er den Beutel mit dem Gelde in die Truhe und krachend schmetterte er den Deckel in seine Fugen. Durch nichts mehr wollte er an Jemand erinnert werden, der sich anmaßte, ein Recht an ihn zu besitzen.

„In’s Jotungebirge hinauf, in’s Jotungebirge hinauf!“ sprach er vor sich hin, um sein wildes Blut zu beruhigen und als ob ihm die Einsamkeit in dem eigenen Hause nicht einsam genug gewesen wäre. Neuen Grübeleien auszuweichen, trat er in die Küche hinaus. Ja, da standen und lagen gesäubert und geordnet die wenigen einfachen Küchengeräthe, wie sie aus Engelid’s Händen hervorgegangen. Jetzt hatte er in seinem Hauswesen selber zum Rechten zu sehen – ha, diese Ordnung, wie er sie haßte, weil sie von – ihr stammte! Teller, Schüsseln, Tiegel, Alles klirrte vor seinem wüsten Griffe über einander; nach rechts und links flog die Asche von der Feuerstelle über die sorgfältig gereinigten Herdsteine.

Was brauchte er zu kochen, Weiberdienste zu verrichten, so lange es eine Schänke im Dorfe gab? Mit wuchtigem Schritte kehrte er in’s Zimmer zurück, herausfordernd drückte er den Hut auf seinen Kopf, um in’s Dorf zu gehen und sich zu erkundigen nach alten Bekannten, nach den Männern, mit denen er aufgewachsen war und in deren Gesellschaft er manche Stunde beim schäumenden Bier verbrachte. Indem er aber das Zimmer verlassen wollte, streifte sein Blick das Bett und die über dasselbe ausgebreiteten Kräuter. Spöttisch lachend riß er die Decke herunter, und sie schüttelnd, warf er Alles zu den Binsen auf den Fußboden. Sich dem Bette wieder zukehrend, gewahrte er, daß auch das weiße Laken mit Blättern und Zweiglein bestreut war, und auf dem Kopfpfühl lag ein Kranz von denselben Kräutern, jedoch mit vertrockneten Blumen durchschossen. Finster betrachtete er das augenscheinlich vor Wochen erst erneuerte Gewinde.

Da tauchte Engelid’s Bild wieder in seiner Phantasie auf. Im Geiste sah er sie in schwindelnder Höhe auf schroffen Felsabhängen die Kräuter und die Blumen pflücken, er sah sie dieselben zum Kranze ordnen und endlich sein Lager damit schmücken und schützen gegen häßliches, nagendes Gewürm. Er sah sie, über die Bettstelle hingeneigt, mit leichter Hand Decken, Pfühle und Pflanzen ordnen, sah sie ernst auf ihr Werk niederschauen, sich vielleicht die Zeit vergegenwärtigen, in welcher sein Haupt wieder die Stelle des Kranzes einnehmen würde.

Tiefer runzelte er die Brauen; zögernd streckte er die Hand nach dem Kranze aus. Plötzlich flog das zerbröckelnde Gewinde zur Erde, und ihm nach folgten welke Blätter und Tannennadeln. Immer wieder glitt die flache Hand über das Linnen, bis er endlich kein Stäubchen mehr auf demselben entdeckte.

„Der Teufel mag in dem strengen Dufte schlafen!“ entschuldigte er sich vor sich selber, als es wie ein Gefühl der Scham über ihn kam. Den mißhandelten Kranz konnte er nicht ansehen. Es erwachte die Empfindung in ihm, als hätte er mit dessen Entfernung einen Schlag gerade in Engelid’s Antlitz geführt. Schnell holte er einen Besen herbei und eilfertig begann er Binsen, Blätter, Zweige und Kranz zusammen zu fegen. Auf dem Küchenherd thürmte er Alles über einander und zündete es an. Leicht brannte der ausgedörrte Stoff, und als er in die Flammen schaute, die so lustig emporloderten, da erst wurde ihm leicht um’s Herz; da erst fühlte er, daß er hinfort sicher vor Anwandlungen sein werde, die seinen Sinn umdüsterten.

Noch einmal spähte er in alle Winkel. Nirgends entdeckte er etwas, das ihn an Engelid erinnert hätte, frohen Muthes trat er in’s Freie hinaus und wanderte dem Dorfe zu.

Als er die ersten Häuser erreichte, hatte er seine liebe Noth, bald hier, bald dort die Leute, die in den Thüren erschienen, zu begrüßen und deren freundliches Willkommen nach den vielen langen Jahren mit kräftigem Händedrücken zu lohnen.

Zu vielen Worten und Erklärungen war indessen keine Zeit. Nach der Schänke wollte er gehen, und wer mehr von ihm zu hören und zu sehen wünschte, der mochte ihm folgen und den Nachmittag und den Abend mit ihm verbringen.



4.

Die letzten Lichtbilder hoch oben aus dem senkrecht abfallenden Gestein schoben sich den Plateaurändern zu und verriethen den niedrigen Stand der Sonne – da hätte kaum noch Jemand einen Platz in der großen Gaststube der Schänke gefunden. Dicht geschaart saßen Alt und Jung um den heimgekehrten Nachbarn.

[407] Alle drängten sich an ihn heran, um einmal mit ihm zu trinken, Fragen an ihn zu richten und dafür selbst wieder Auskunft über Dieses oder Jenes zu ertheilen. Man trank und trank. Brauner wurden die Physiognomien, lebhafter die Gespräche, dichter der Tabaksrauch und ausgelassener das Lachen und die Scherze, welche die gehobenen Gläser begleiteten.

Knut war wieder der Alte. Sein Frohsinn war erwacht. Seine Erzählungen von fernen Ländern würzte er wieder mit tollen Schalksreden, durch welche er einst die Jugendgenossen an sich fesselte, alle Mädchen des Dorfes auf seine Seite brachte. Auch vom Heirathen sprach man gelegentlich, und daß es für Knut an der Zeit sei, mit einer rechtschaffenen Frau sein Haus neu zu beleben. Einzelne riethen ihm, wahr zu machen, was man anfänglich geglaubt habe, nämlich daß die Engelid ihm bereits angetraut worden. Andere priesen dagegen des Mädchens ruhige Würde und Sittsamkeit und ihren eine ehrsame Frau gefällig kleidenden Ernst. Manche, die ihr am Tage begegnet waren, wollten sie kaum wiedererkannt haben, so stattlich sei sie ihnen erschienen, und Alle wunderten sich, wo sie nur die langen Jahre verlebt habe.

Da erklärte Knut, über’s Heirathen sei er hinaus; vom Wasser habe er aber genug, und in’s Gebirge hinauf wolle er, um von der Jagd zu leben, in’s Gebirge, wo Niemand ihn um seine Wege befrage, wie’s selbst der besten Weiber Art. Die Engelid sei nebenbei eine stille, verschlossene Natur; er aber, wenn er jemals freie, müsse Jemand haben, der ihn aufheitere, ihm die Grillen vertreibe, und das Leben erleichtere.

„Nichts mehr von Engelid!“ brauste er auf und dabei stürzte er ein Glas Wachholderbranntwein hinunter, und mit der Faust schlug er auf den Tisch, daß alle Gläser klirrten und die alten Genossen heimlich meinten, er sei auf seinen Weltfahrten wohl gar ein wüster, arger Geselle geworden.

„Ich weiß übrigens,“ fuhr er fort, „aus des Mädchens eigenem Munde, daß ihr Sinn nach einem Anderen steht, und das ist der alte Müller Ornesen im Lärdal.“

„Unmöglich! Dann hätte sie ihn vor Jahren genommen, als er um sie anhielt,“ hieß es aus verschiedenen Richtungen zurück.

Und, wiederum schlug Knut mit der Faust auf den Tisch, indem er bei seinem ehrlichen Namen betheuerte, daß sie schon folgenden Tags nach dem Lärdal wolle, um mit dem Ornesen Alles in Richtigkeit zu bringen.

„Tag und Nacht am Bett eines alten kranken Mannes zu sitzen!“ warf ein Anderer ein; „schon damals war’s eine Thorheit von dem Müller, noch an’s Heirathen zu denken. Jetzt aber, da er fast immer bettlägerig und mürrisch ist, müßt’s eine barmherzige Heilige sein, die sich dazu verstände.“

„Um’s Geld thut Mancher Vieles,“ antwortete Knut geringschätzig die Achseln zuckend; „der Müller gewinnt an der Engelid eine sorgsame Pflegerin, die Engelid durch ihn eine ordentliche Sicherheit für die Zukunft, und da haben Beide ihren Vortheil davon. Zum Teufel mit solchen Reden! Die dienen am wenigsten dazu, eine rechte Lustigkeit aufkommen zu lassen. Lustig aber will ich sein in der ersten Nacht, die ich in dem Lyster-Fjord verbringe, und sollt’s mich die letzte Krone kosten!“

Das war noch ein Wort, welches ringsum einen guten Widerhall fand. Geräuschvoller wurde die Gesellschaft; wilder glühten die wettergebräunten, harten Gesichter, und verwegener schauten alle Augen, indem man die Heimkehr des alten Genossen in vollen Zügen feierte. Man schien der Lust kein Ende finden zu können.

Die Mitternachtsstunde war längst vorüber, als man sich endlich von einander trennte. Durch’s Dorf erhielt Knut zahlreiches Geleite; dann schritt er, eine muntere Melodie in die kühle Nacht hinauspfeifend, der einsamen Heimstätte zu; er Pfiff so lange, wie er glaubte, daß die alten Cameraden ihn hörten. Dann neigte er das Haupt auf die Brust, und war er kurz zuvor der Ausgelassenste im Kreise der Zechgenossen gewesen, so überfiel ihn jetzt bittere Unzufriedenheit mit sich selbst und der ganzen Welt.

Tief verdroß ihn, daß man ihn mit Engelid hatte zusammenreden wollen, mit derselben Engelid, die so lange geglaubt hatte, daß er ihr angehören müsse; tiefer noch, daß sie so leicht und schnell sich entschloß, einen alten kranken Mann zu heirathen und für ein günstiges Testament vielleicht noch einige Jahre die barmherzige Schwester zu spielen.

So grübelte er, indem er den Weg heimwärts verfolgte, bis er endlich sein Haus vor sich liegen sah. Ein Weilchen betrachtete er den in nächtliche Schatten gehüllten kleinen Bau, der sich von der hinter ihm emporstrebenden Felswand kaum unterschied. Stärker und deutlicher, als am Tage, drang das Rauschen und Brausen der fernen und nahen Sturzbäche zu ihm herüber, die heute, wie vor zehn Jahren, ihren Weg in den stillen Fjord hinab suchten. Da ertönte das dumpfe unheimliche Dröhnen, mit welchem hoch oben im Gebirge die Eisfelder barsten, nachdem sommerliche Gletscherwasser sie unterwühlt hatten. Knut richtete sich auf, als wäre es ein Ruf gewesen, der ihm gegolten habe. Sein Blick streifte Engelid’s Boot. Wie dadurch friedlich berührt, kehrte er sich ab, und gleich darauf umringte ihn die Dunkelheit seiner Wohnung. Nur matt schimmerten ihm die beiden Fenster auf der Wasserseite entgegen. Wo sollte er eine Lampe oder eine Kerze finden? Doch er kannte jeden Winkel im Hause, wußte, wo sein Bett stand. Nur wenige Secunden brauchte er Helligkeit, um die über einander geworfenen Decken, Laken und Pfühle ein wenig zu ordnen, und was lag ihm überhaupt an Bequemlichkeit? Nachlässig setzte er ein Schwefelholz in Brand, und indem er nach einem Kienspan suchte, bemerkte er auf dem Tische die Stubenlampe. Schnell zündete er sie an, und jetzt erst entsann er sich, daß sie, als er das Haus verließ, nicht dort gestanden hatte. Sogar reichlich Oel fand er in derselben vor. Während seiner Abwesenheit mußte also Jemand das Haus betreten und ihm diese Aufmerksamkeit erwiesen haben. Und wer konnte es anders gewesen sein, als Engelid? Er sah um sich. Sein Bett war wieder geordnet. Er blickte in die Küche. Auch dort hatte eine freundliche Hand gewaltet. Wie Bedauern kam es über ihn – und wiederum flackerte sein Zorn über die unverlangten Dienste empor. Grollend löschte er die Lampe aus; wie vor Tagen in der Schärenhütte, warf er sich auch hier unentkleidet auf’s Bett. Sein Kopf brannte; fieberhaft jagte das Blut durch seine Adern. Die Folgen des Gelages drohten ihm den Schlaf während des kurzen Nachtrestes zu rauben. Dazu der Duft der Kräuter, welcher sich den Decken und dem Linnen mitgetheilt hatte und ihn beständig an Engelid erinnerte. Nun, sie befand sich ja noch im Dorf, und wenn sie kam, ihr Boot zu holen, wollte er ihr für die letzte ihm erwiesene Aufmerksamkeit danken, damit er ihr nichts mehr schuldig; denn Geld, oder Geldeswerth würde sie bei ihrem einfältigen Stolz nimmermehr von ihm angenommen haben. Beruhigend wirkte dieser Gedanke. Er schloß die Augen, allein neue Betrachtungen stürmten auf ihn ein, daß der Schlaf ihm fern blieb, und zu diesen gesellten sich Bilder, deren er sich mit aller Macht, jedoch vergeblich, zu erwehren suchte.

Er sah Engelid, wie sie das aus einander gerissene Bett betrachtete, wie sie auf dem Herd die Spuren der verbrannten Kräuter und des Kranzes entdeckte und damit den Beweis, daß ihre freundliche Fürsorge ihm widerwärtig gewesen. Wie ihr das wohl durch die Seele geschnitten haben möchte! Doch wer hatte sie geheißen, ihm Kränze zu winden, als ob er bereits der Ihrige gewesen wäre?

So peinigte und folterte er sich selbst. In einem Mittelzustande zwischen Träumen und Wachen hatte er die Empfindung, als ob ein Alp auf seiner Brust kniee und ihm mit höhnischem Grinsen die einsame Schärenhütte zeige. In deren Thür gewahrte er Engelid, wie sie die Arme ihn entgegenbreitete, sich selbst, wie er sie zärtlich an sich drückte, sie küßte und ihr dankte, daß sie sein Andenken treu bewahrt und mit einem einzigen Blick die Rinde geschmolzen habe, die sich im Laufe langer Jahre und in dem Bewußtsein, als heimathloser Fremdling die Welt durchirren zu müssen, um seine Brust gewebt hatte. Thränen entstürzten ihren Augen, indem sie gelobte, ihm zu dienen und unterthan zu sein, ihn zu lieben bis über das Grab hinaus.

Ja, so hätte es sein können, und im Lyster-Fjord bei Freunden und Bekannten wäre große Freude gewesen – – aber er hatte sie von sich gestoßen, verspottet und verhöhnt, und sie hatte Alles hingenommen, still, ergebungsvoll und ohne Klage.

Neue Bilder verdrängten die alten. Den kranken hinfälligen Müller vergegenwärtigte er sich, wie seine matten Augen beim Anblicke Engelid’s aufleuchteten, ihm vor Rührung die Sprache versagte, als er vernahm, daß sie nunmehr sein eigen sein wolle.

Ha, wie das ihn wurmte, und doch gestand er sich, daß sie nur handelte, wie ihr goldenes Herz es ihr eingab. Noch mehr wurmte ihn, daß sie mit einer herben Erinnerung an ihn in das [408] neue Verhältniß eintrat. Denn verbittert mußte es sie haben, daß er Alles, was von ihr herrührte, mit Füßen getreten und vernichtet hatte.

Noch immer umschwebte ihn der Duft der Kräuter. Träumend meinte er, daß dieser Duft von den Flammen ausgehe, welche den Kranz verzehrten. Wer konnte ahnen, daß die Fürsorge für ihn das Mädchen noch einmal in sein Haus führen würde? Eine überflüssige Fürsorge obendrein, nachdem sie ihm bereits Lebewohl gesagt hatte. Aber ihr Boot lag noch vor seiner Thür, sie mußte daher noch einmal zurückkehren. Dann wollte er vor sie hintreten, sie bitten, ihm das sinnlose Treiben zu verzeihen, ihm ein freundliches Andenken zu bewahren, wie auch er ihr stets in aufrichtiger Freundschaft zugethan sein werde.

Nicht länger mehr störten wirre Phantasien seinen Schlaf. Vollständige Vergessenheit legte sich um seine Sinne. Sein Blut kühlte sich ab; er athmete lang und tief. –

Als Knut endlich erwachte, war es heller Tag. Er sprang empor und sah zum Fenster hinaus. Die westlichen Plateauränder schwammen bereits in Sonnenschein. Gleich darauf stand er draußen auf dem Felsenufer – – das Boot war verschwunden. Nirgends entdeckte er eine Spur desselben. Es konnte ihn nicht überraschen; denn Engelid hatte ihm angekündigt, am frühen Morgen ihre Reise antreten zu wollen.

Bitter enttäuscht ließ er sich auf einen Felsblock nieder. Was hätte er nicht darum gegeben, noch einige Worte mit ihr zu wechseln! Allein sie war fort, weit fort, bereits auf dem Wege zu Jemand, dem ihr ganzes ferneres Leben geweiht sein sollte, zu Jemand – es waltete ja kein Zweifel darüber – dem er selbst sie in die Arme gelegt hatte. Wie erschien ihm sein Haus plötzlich öde und vereinsamt – wie licht dagegen jeder Raum in der Erinnerung an Engelid! Mit beiden Händen fuhr er in sein Haar. Da gedachte er der Möglichkeit, daß sie vor dem Dorfe noch einmal angehalten habe. Schnell begab er sich in’s Haus zurück, um bald darauf wieder im Freien zu erscheinen. Hastig schritt er dem Dorfe zu. Wo sie übernachtete, wußte er, denn dieselben Leute, bei welchen sie vor zehn Jahren um Lohn diente, hatten sie zu Gast geladen. Von ihnen erfuhr er mit mancher lobenden Bemerkung, daß sie beim ersten Grauen des Tages sich reisefertig gemacht habe, um den günstigen Wind, welcher durch den Fjord hauchte, auszunutzen. Heiter sei ihr Abschied gewesen, berichteten die guten Leute, heiter auch der Gruß, welchen sie für ihn zurückgelassen habe. Ueber die Richtung ihres Weges hatte sie sich nur unbestimmt geäußert, dagegen gemeint, daß wohl einige Zeit vergehen möchte, bevor sie den Lyster-Fjord wieder besuche. Auch von ihm hatte sie noch in der letzten Minute gesprochen und gerathen, daß die Nachbarn ihn als einen guten Freund willkommen heißen und sich die Mühe nicht verdrießen lassen sollten, die Bitterkeit in seiner Natur zu bekämpfen, ihm nach dem langen Umherirren auf allen Meeren die Heimstätte in eine behagliche umzuwandeln.

Nach diesen Mittheilungen war Knut gegangen, aber nicht zurück nach seinem Hause, sondern zum andern Ende des Dorfes hinaus. Dort hatte er wieder auf dem Uferrande gesessen und vor sich in die unergründlichen Fluthen hinabgeschaut, wie um in der Tiefe nach einem Anhalte zu einem entscheidenden Entschlusse zu suchen.

Eine Stunde und länger saß er dort. Plötzlich sprang er empor. Als hätte es gegolten, ein großes Versäumniß einzuholen, schlug er einen Pfad ein, welcher durch das Schluchtengewirre, über Höhen hinweg und an Abgründen hin nach dem Aarlands- Fjord führte. Spät Abends traf er daselbst auf einem Fischergehöfte ein, wo er gastliche Aufnahme fand, aber nur kurze Zeit rastete er daselbst, nur so lange, bis der Tag sich anmeldete. Dann ließ er sich über den Fjord setzen, und als die Sonne mit ihren ersten schrägen Strahlen die zackigen Plateaus streifte, da befand er sich bereits wieder auf dem Wege nach der massiven Höhe hinauf, welche auf der andern Seite von dem Lärdal und dem dieses enggewundene Thal durchschäumenden Elf begrenzt wurde. Aengstlich beobachtete er auf seinem schwindelnden Wege die wechselnden Luftströmungen. Er berechnete deren Wirkung auf die unten in den Fjords befindlichen Segel und die Zeit, welche diese gebrauchtem um bestimmte Entfernungen zu durchmessen. Oft meinte er zagend, von der beschwerlichen, seine ganze Kaltblütigkeit, seine ungeteilten Kräfte in Anspruch nehmenden Wanderung abstehen zu müssen.

Doch immer wieder raffte er sich empor, und dahin eilte er, als hätte sein Leben davon abgehangen, vor Ablauf einer bestimmten Frist an ein ihm vorschwebendes Ziel zu gelangen. Ihn lockte nicht mehr die Aussicht auf die ihn umringenden gletschergekrönten Gebirge, nach welchen vor kurzem noch sein ganzer Sinn stand, lockten nicht die sich gleichsam drohend anbauenden bizarren Hörner, Pics und Dome. Kalt glitten seine Blicke über dieselben hin, kalt und theilnahmlos, als hätte er sich von der gewaltigen Naturumgebung nie getrennt gehabt, nach welcher er doch die vielen langen Jahre hindurch, wenn er auf fernen Meeren der ihm verbotenen Heimath gedachte, sich so innig gesehnt. Nach vorn nur waren seine ängstlich suchenden Augen gerichtet, und als er endlich den südlichen Rand des Plateaus erreicht hatte, von welchem aus er in das Lärdal mit seinen schmalen grünen Wiesen und reifenden Getreidefeldern hinabsah, athmete er auf, wie Jemand, der vor einer Aufgabe steht, deren Lösung über sein ganzes Leben entscheiden soll.

Die westliche Sonne streifte einen Theil der Thalsohle. Deutlich erkannte er die Kunststraße, welche als feine weiße Linie der Richtung des sich durch schäumende Gefälle auszeichnenden Stromes folgte. Vereinzelte Menschen und Gefährte unterschied er nach längerem scharfem Hinabspähen als einherkriechende Punkte. Erschien die seltsame Stabkirche von Borgund doch wie Spielzeug, von Kinderhänden auf eine grüne Decke hingestellt, umringt von Häuschen und Hütten, wie solche auf Weihnachtsmärkten der munteren Jugend feil geboten werden. Die Borgunder-Kirche aber war sein nächstes Ziel. Von dort betrug die Entfernung bis zu der von dem tosenden Elf getriebenen Mühle des alten Ornesen nur noch wenige Minuten.

Auf dem Antlitz den Ausdruck von einander wild bekämpfenden Empfindungen, trat Knut seinen Weg abwärts an. Ein echter Gebirgspfad war es, dem er folgte. Oft kaum erkennbar, von der Natur allein für die sicheren Hufe scheuer Renthiere geschaffen, führte er an den schroffen Abhängen hin. Doch hinab und tiefer hinab eilte Knut springend und kletternd, unermüdlich. Je deutlicher sich die östlich und westlich zwischen gewaltigen Plateaus sich verlierende Straße von ihrer Umgebung abhob, um so ängstlicher spähte er nach einer hohen kräftigen Mädchengestalt, welche, vielleicht am Lärdalself heraufkommend, der alterthümlichen Kirche zuwanderte.

Der Sonnenschein war längst von der Thalsohle fortgeglitten, als nur noch einige Geröllhügel ihn von dem Elf trennten. Vereinzelte Menschen kamen und gingen; zweirädrige Karriols rollten hierhin und dorthin, doch was seine Augen suchten, fanden sie nicht.

Wer sagte ihm, wo diejenige weilte, die ihn zu der mühevollen, beinahe seine letzten Kräfte erschöpfenden Wanderung veranlaßt hatte? War er von ihr getäuscht worden, und befand sie sich dennoch auf dem Wege nach der Schärenhütte? Hatte sie in dem Städtchen an der Mündung des Elfs, wo sie mit ihrem Boote landete, sich bei Freunden länger aufgehalten, oder war sie, begünstigt durch den Wind und eine spätere Fahrgelegenheit das Lärdal herauf, ihm zuvorgekommen? Nach seiner Berechnung konnte sie doch kaum vor Abend an ihrem Ziele eintreffen.

Langsamer wurden seine Schritte – er vermochte ja die Straße weit aufwärts und abwärts zu übersehen. Was brauchte er sich jetzt noch zu übereilen? War Engelid noch nicht eingetroffen, so konnte sie einer Begegnung mit ihm nicht mehr ausweichen – befand sie sich aber schon bei dem Müller, so war es überhaupt zuspät.

Er erreichte die Kirche, den vielhundertjährigen Holzbau, welcher in seiner äußeren, mit Drachenköpfen geschmückten barocken Form an einen chinesischen Götzentempel erinnerte, oder vielmehr den wilden Geschmack der alten Nordlandsfahrer zur Schau trug. Die Straße führte an der niedrigen Mauer vorüber, welche die nächste Umgebung der Kirche einfriedigte. Auf einer Stelle derselben, wo er der Aufmerksamkeit der Vorübergehenden weniger ausgesetzt, ließ Knut sich nieder. Träumerisch spähte er nach dem freundlich gelegenen Mühlengehöft hinüber, hinter welchem der die Räder und Sägen treibende Elf über ein breites Wehr schäumte. Das von der Wohlhabenheit des Besitzers zeugende Wohnhaus betrachtete er gespannt, wie von dort her ein Zeichen erwartend, daß Engelid bereits anwesend und sich durch ein einziges Wort auf Lebenszeit an dasselbe gekettet habe. Mit Gewalt zog es ihn hinüber, und doch fehlte ihm der Muth, dieser Regung nachzugeben.

[409]

Am Johannistage.
Originalzeichnung von Paul Heydel.

[410] Finster kehrte er sich dem seltsamen Bau wieder zu. Etwas Gespenstisches lag in diesen engen, niedrigen Säulengängen, deren wunderlich gekerbte Holzträger an Dauerhaftigkeit mit Granit gewetteifert hatten. Die Oeffnungen in den Thürmchen schauten, wie hohle Augen, bedächtig auf den stillen Wanderer nieder, und wie schadenfroh starrten die roh geschnitzten züngelnden Drachenköpfe von jedem Giebel gen Himmel. In Knut regte sich die Empfindung, als wollten die hölzernen Scheusale ihn verhöhnen, weil er einen Schatz, begehrenswerther als alle Wikingerbeute zusammengenommen, in seinen Händen gehalten, aber geringschätzig von sich geworfen hatte.

Es war ihm unheimlich im Schatten der alten Kirche. Er raffte sich auf und schritt auf das Mühlengehöft zu, zuerst langsam, dann schneller und schneller, wie um bald ein Ende mit den Zweifeln zu machen, die ihn nun schon seit beinahe zwei Tagen unablässig folterten. Unbekümmert um die ihn befremdet anstarrenden Arbeiter schritt er dem Hofe zu. Er trat in das Haus, in das Wohnzimmer. Auf der Schwelle blieb er stehen. Ornesen erkannte ihn auf den ersten Blick und rief ihm ein herzliches Willkommen zu. Er hingegen, nachdem er sich überzeugt hatte, daß Engelid noch nicht anwesend, bebte zurück vor der Wandlung, welche im Laufe der letzten Jahre mit dem alten Manne vorgegangen war.

Da saß er, ein gebrochener Greis mit eingefallenen Wangen und dünnem, weißem Haar, auf einem Lehnstuhl, von welchem er sich augenscheinlich ohne fremde Hülfe nicht mehr zu erheben vermochte, und doch leuchtete helle Freude aus seinen trüben Augen, als er Knut’s ansichtig wurde und dieser endlich vor ihn hintrat und die ihm gereichte hagere Hand drückte.

Knut setzte sich neben ihn. Nachdem sie die ersten Begrüßungsfragen und Antworten ausgetauscht hatten, vermochte er nicht länger mit dem an sich zu halten, was sein Herz bis zum Zerspringen erfüllte.

„Ja, ich finde Dich verändert,“ gab er auf des Müllers traurige Fragen zu, „wenigstens anders, als ich erwartete Dich zu finden. Alle die langen Jahre hindurch in der Fremde hielt ich für möglich; daß Du Dir wieder ein Weib genommen haben möchtest, und da ich wußte, daß Du eine große Vorliebe für die Engelid hegtest –“

„Ja, ja, Knut, ich bot ihr an, meine Frau zu werden, die Frau eines alten Mannes freilich, aber auch seine Erbin, und war erstaunt, zu erfahren, daß sie einen Liebsten habe, dem sie treu bleiben wolle bis in den Tod.“

„Das sagte sie?“ fragte Knut fast athemlos vor Spannung.

„Ja, Knut,“ fuhr Ornesen fort, „und Mehr noch erstaunte ich, als sie Deinen Namen nannte und betheuerte, Du würdest zurückkehren und ihr Glück voll machen. O, ich achte das Mädchen hoch, und wer hätte nicht an ihr geachtet, daß sie, um allen Freiern aus dem Wege zu gehen, plötzlich aus der Gegend verschwand, daß die Leute glaubten, ein Unglück habe sie betroffen? Nur mir allein hatte sie anvertraut, wohin sie ging, und mir’s Wort abgenommen, darüber zu schweigen, damit Niemand sie aufsuche, und mein Versprechen hielt ich rechtschaffen vor Jedermann. Mit Dir ist’s ein Anderes; Du hast ein Recht, es zu erfahren; sie gebot, mir sogar, Dir den Weg zu zeigen, wenn Du sie noch nicht gefunden haben solltest. Zum alten Olaf, dem Spieler, wollte sie ziehen, auf die einsame Schäreninsel, um Dir dort ihre Liebe und Trauer ungestört zu bewahren. Ja, Knut, das ehrte ich an ihr, und wie’s mit mir stand, erfuhr sie wohl nie in ihrer Einsamkeit; sie wäre sonst gekommen, um nach mir zu sehen und ein paar freundliche Trostesworte an mich zu richten. Doch das ändert nichts an der Sache, und daß Du heimgekehrt bist, preise ich als ein Glück, schon allein um des treuen Mädchens willen.“

Aufmerksam hatte Knut den Worten des alten Mannes gelauscht, und als er endigte, hob er mit eigenthümlich zitternder Stimme an:

„Aber wie, wenn’s mit der Engelid’ und mir nichts wäre, sie sich dennoch in den Kopf gesetzt hätte, Dir eine treue Pflegerin zu sein?“

Ornesen blickte Knut mit seinen trüben Augen durchdringend an. Helle Freude leuchtete aus denselben, indem er nachdenklich sprach:

„Eine treue Pflegerin mag sie mir sein, Knut, aber nicht als meine Frau! Denn ich will mich an dem Mädchen nicht versündigen. Ja, das sollte mir ein rechter Herzenstrost sein, und da in meinem Hause noch Raum, für Dich wäre, und ich Jemand gebrauche, zum Rechten zu sehen, möchtest Du Dein Heimwesen im Lyster-Fjord d’rangeben und mit der Engelid Hochzeit machen, je eher, um so lieber!“

„Ich frage zum anderen Mal, Ornesen: wenn’s trotzdem mit der Engelid und mir nichts wäre?“

„Nach zehn langen Jahren des Wartens sollte es vorbei mit Euch sein? Ich glaub’s nicht, Knut. Doch sag’, wollt’ sie Dich damals nehmen?“

„Nun ja, aber damals war’s kein ordentliches Versprechen. Ob sie heut so denkt – wer weiß? Ich bin ein ernster mürrischer Mann geworden beim Seefahren, und das Lachen fällt mir schwer.“

„So gehört Ihr um so sicherer zu einander, Knut; denn die Engelid ist ebenfalls kein Kind mehr, und in der langen Einsamkeit mag auch ihr der Muthwille vergangen sein. Schon damals sprach aus ihren Augen ein rechter Mannesmuth. Doch bring mir das Mädchen, damit ich sehe, ob es sich veränderte!“

Knut blickte vor sich nieder. Die letzten Sonnenstrahlen waren nach den Plateaus hinaufgeglitten. Dort lagerten sie wohl noch ein Weilchen, bis das bereits unten im Thal herrschende feuchte Zwielicht ihnen nachfolgte. Bei jedem Geräusch, welches auf dem Gehöft hörbar wurde, bebte Knut erschrocken zusammen. In jedem Augenblick erwartete er, Engelid eintreten zu sehen, und dieser Gedanke beängstigte ihn.

„Ich muß hinaus,“ brach er nach einer längeren Pause, während welcher Ornesen ihn befremdet beobachtet hatte, das Schweigen, „bin nämlich über die Höhen gekommen, und der Kopf brennt mir vom schweren Steigen. Bin es nicht mehr gewohnt, wie früher. Ist Dir’s recht, kehr’ ich zur Nacht zurück, um mit Dir Brod und Salz zu essen und unter Deinem Dache zu schlafen.“

Nach kurzem Gruße trat er auf den Hof hinaus und auf einem Seitenwege begab er sich nach der Holzkirche hinüber. Dort setzte er sich hart an der Straße auf die Einfriedigungsmauer; denn hatte Engelid die Reise das Lärdal hinauf angetreten, so mußte sie, bevor sie nach dem Mühlengehöft abbog, hier dicht vor ihm vorüberschreiten.


(Schluß folgt.)





Die Schwäne.

      Die ihr vor mir, schöne Schwäne,
Auf der Wogen Fluth euch wiegt,
Silbern schimmert eu’r Gefieder,
Doch in eurer Brust der Lieder

5
Süßer Quell, den der Hellene

Oft gepriesen, ist versiegt.

      Einst am Strome des Kaÿster,[WS 1]
Wo die Sonne heller tagt
Und der göttlichen Geschwister

10
Tempel zwischen Myrthen ragt,

Lieblich tönten eure Stimmen
Zu der Musen Saitenspiel,
Wenn des Frühroths erstes Glimmen
Durch die Cedernwipfel fiel.

15
Hin mit Steigen und mit Schwellen

Glitt eu’r Hymnus auf den Wellen,
Sel’ge Lieblinge Apoll’s!
Horch! Und an den Flußgestaden
Ringsum von der Oreaden[WS 2]

20
Lippen wie Gebethauch quoll’s.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Kaÿster: Fluß im damaligen Lydien, siehe RE:Kaystros 1
  2. Oreaden: Bergnymphen
[411]

Und die Luft begann zu strahlen;
Hallend that sich auf das Thor,
Und auf goldenen Sandalen
Trat der schöne Gott hervor.

25
      Nun verbannt, ihr Südbewohner,

Unter unser Wolkengrau,
Fern dem Lande der Ioner
Und dem ew’gen Himmelblau,
Ach! verlort ihr selbst die schöne

30
Mitgift der Natur, die Töne.

Um eu’r Theuerstes betrogen,
Wie so still ihr auf den Wogen
Lautlos eure Kreise zieht!
Bei dem feuchten Nebelschauer

35
Ringt, zu lindern eure Trauer,

Sich aus eurer Brust kein Lied.

      Selig ist, wem des Gesanges
Trost ein milder Gott verlieh!
Ob ihm Weh das Herz zerwühle,

40
Ob es juble – der Gefühle

Jedes wird ihm süßen Klanges
Auf dem Mund zur Melodie.
Aber wehe, wenn das schnöde
Schicksal ihm sein Bestes raubt!

45
In des Daseins Winteröde

Steht er mit gebeugtem Haupt,
Und die Freude, die wie stummer
Gram an seiner Seele nagt,
Gäb’ er gerne für den Kummer,

50
Den er sonst im Lied geklagt.
Adolf Friedrich Graf von Schack.

Das Denkmal der deutschen Burschenschaft.

Die Geschichte der Burschenschaft gehört für alle Zeit zu den glänzendsten Blättern der deutschen Geschichte. Zwar konnte sie nicht unmittelbar politisch wirken, nicht unmittelbar ihre politischen Ziele erreichen; erst eine gewaltige neue That des deutschen Volkes, die Ereignisse des Jahres 1870 und 1871, haben die von allen Patrioten ersehnte Einheit Deutschlands und die ihm gebührende Machtstellung geschaffen. Doch die Burschenschaft ist die Bewahrerin und Pflegerin des deutschen Nationalbewußtseins, des nationalen Einheitsgedankens gewesen; sie hat, den idealen Zug im deutschen Volkscharakter bewahrend, das geistige patriotische Leben erhalten, mit welchem der Boden für das politische Leben gewonnen wurde; sie hat die Entwicklung des letzteren erst möglich gemacht und angebahnt.

Im Januar 1881, bei der zehnjährigen Gedenkfeier der Wiederaufrichtung der deutschen Kaiserwürde, hat auch Fürst Bismarck selbst es geradezu und ausdrücklich anerkannt, „daß unsere deutschen Universitäten in schwierigen und an Hoffnung armen Zeiten dem nationalen Gedanken treu geblieben sind, daß sie ihn uns für günstigere Gelegenheit lebendig erhalten und entwickelungsfähig überliefert haben“.

Das burschenschaftliche Wartburgfest von 1817 war nicht allein eine Feier nationaler Befreiung und ein Protest gegen Tücke und Verrath, es war das erste deutsche Nationalfest, es war – wie es der Festtheilnehmer Professor Fries treffend bezeichnet – das helle Morgenroth eines schönen Tages, der über unser schönes Vaterland heraufkam. Und die Aufgabe der deutschen Burschenschaft ist auch mit den großen Ereignissen von 1870 und 1871 nicht erloschen; noch jetzt und immerdar gilt es, in der akademischen Jugend patriotische Begeisterung, den Sinn für das Edle und Große, einen gesunden Idealismus bei frischer Jugendlust zu pflegen und so dem Staate und öffentlichen Leben wackere, freidenkende Männer zuzuführen, die mit wissenschaftlicher Bildung Liebe zu Vaterland und Volk und festen Charakter verbinden. Wahr und schön hat diese hohen Verdienste der Burschenschaft Albert Traeger in seinem trefflichen Gedichte: „Zum October-Jubiläum auf der Wartburg“, das in der „Gartenlaube“ 1867 (Seite 664) erschien, in der Schlußstrophe hervorgehoben:

„Gesegnet, deutsche Burschenschaft,
Sei ewig deine Tugend,
Nie fehle unsrer Manneskraft
Das Feuer deiner Jugend!
Und wenn uns die Erfüllung naht,
Fiel noch die letzte Schranke,
Wir sagen: Unser ist die That,
Doch dein bleibt der Gedanke.“

Eben diese warme Anerkennung wurde der Burschenschaft bei Gelegenheit des Jenaer Universitäts-Jubiläums von 1858 zu Theil. „Das deutsche Volk und seine Regierungen,“ urtheilte damals die Presse, „mögen sich glücklich schätzen, daß noch so viel Enthusiasmus in den alten und jungen Burschenschaftern lebt; denn wahrlich, der Tag kann morgen kommen, wo Volk und Regierungen in Deutschland des hohen, hellen Aufschwunges bedürfen, der hier sich als noch in so vielen Herzen vorhanden bekundet hat.“ Zwölf Jahre später kam der Tag, und die deutschen Burschenschafter bethätigten in opferbereitem Patriotismus den hohen, hellen Aufschwung. – Wer gedenkt ferner nicht des im Jahre 1865 zu Jena so großartig gefeierten Jubiläums der deutschen Burschenschaft, – wer nicht der erhebenden Gedächtnißfeier, welche in Begeisterung und Hoffnung für des deutschen Vaterlandes Einheit, Macht und Herrlichkeit die alten und jungen Burschenschafter im Jahre 1867 am fünfzigsten Jahrestage des Wartburgfestes in Eisenach begingen?! Bei dem großen Jenaer Feste von 1865 hatte Professor Scheidler noch die alte Burschenschaftsfahne getragen, aber an dem Wartburgfeste von 1867 konnte er schon nicht mehr theilnehmen,

„Weil, als die Wartburgschaaren
Begrüßt ihr Jubeljahr,
Sein Geist schon heimgefahren
Zur ew’gen Wartburg war.
Und doch war unentwichen
Er stets bei uns auch dort;
Sein Bild ging unverblichen
Mit uns von Ort zu Ort.“

So sang, so fühlte Friedrich Hofmann, der selbst das Erinnerungsfest von 1867 mit zu Stande gebracht hat; so fühlten wir alle bei der Feier des Festes und bei der Rückkehr von demselben. Scheidler, dem Mitbegründer der Burschenschaft, dem Burgvoigt von 1817, ein würdiges Denkmal auf sein Grab zu setzen, war der in diesem Kreise entsprungene, zuerst von mir selbst angeregte Gedanke. Der Ertrag der Sammlung ließ aber eine Erweiterung dieses Planes hoffen. Es bildete sich ein Comité und beschloß statt eines bloßen Grabdenkmals für Scheidler vielmehr ein Denkmal für die drei Begründer der Burschenschaft Scheidler, Riemann und Horn und damit zugleich für die Gründung der Burschenschaft selbst.

Im Verein mit dem Centralausschuß der letztern erließ das Denkmalcomité unter dem 31. Juli 1874 den Aufruf zur Errichtung solchen Denkmals in Jena – in Jena, dem treuen Hort der Geistes- und Lehrfreiheit, in Jena, das in Verein mit dem Musenhof Weimar einst der geistige Mittelpunkt von ganz Deutschland war, durch den genialen Geist Fichte’s die Ideen einer Reform des Studentenlebens, einer vaterländischen Bereinigung zuerst aussprach, im Jahre 1815 die Stätte der ersten Burschenschaft und bald darauf das Centrum und Haupt der deutschen Burschenschaft wurde.

Welchen Anklang dieses erweiterte schöne Project sofort in den akademischen Kreisen fand, bekundet unter Anderem das Schreiben einer süddeutschen Burschenschaft: „Möge dieses Monument als [412] eine Erinnerung an die edlen Stifter der alten Burschenschaft und zugleich als eine Aufforderung an die jungen Burschenschafter, die Principien dieses Bundes jederzeit festzuhalten, den Ort zieren, an welchem in schwerer Zeit der Gedanke deutscher Einheit und Freiheit vielleicht zum ersten Male in der Studentenwelt einen thatsächlichen Ausdruck gefunden hat!“

Das Denkmal der deutschen Burschenschaft in Jena.
Von Prof. Donndorf in Stuttgart.

Zahlreiche Beiträge gingen von den burschenschaftlichen Verbindungen Nord - und Süddeutschlands, vor Allem von den Jenaer Burschenschaftern, ferner von „alten Herren“ in Nord und Süd, im In- und Auslande, und von vielen Jenaer Bürgern ein. Rühmend ist des unverdrossenen Sammeleifers des Comitémitgliedes Professors Hermann Schäffer zu Jena, des liebenswürdigen Lehrers und Freundes der akademischen Jugend, zu gedenken, rühmend aber auch der lebhaften Sympathie der deutsch-österreichischen Studentenkreise für die gemeinsame deutsche Sache. Die schöne deutsch-nationale Idee mit zur Ausführung zu bringen, zu bethätigen, „wie hoch die deutsche Jugend Oesterreichs deutsches Wissen und Wesen ehrt und hält, wie warm, auch in der Ostmark die Herzen für die deutschen Mannesthaten, für deutsches Denken, deutsche Sitte, ja für alles Hohe schlagen, was seit den Wartburgtagen ein Burschenherz erfüllen kann,“ sandten sie aus Wien, Graz, Prag, Innsbruck, aus Ungarn und Siebenbürgen Beitrag auf Beitrag.

Professor Donndorf zu Stuttgart, dem Schöpfer des Karl August-Denkmals in Weimar, übertrug das Comité den Entwurf eines Denkmal-Projects, und mit echter Begeisterung für die Idee übernahm er, der treue Thüringer, den Auftrag.

„Die Anfrage des Burschenschafts-Denkmal-Comités,“ schrieb er sofort, „hat mich mit herzlichem Interesse lebendig bewegt. Wir Thüringer, die wir unser altes Jena lieben, stehen noch in einer besondern persönlichen Beziehung zu all dem Hohen und Herrlichen, was von dort ausgegangen ist. Die Gründung der Burschenschaft ist eine der schönsten Manifestationen des Idealismus und der Begeisterung der Jugend, und diese schönste Erscheinung verdient vor Allem, daß sie gefeiert wird.

Mir würde es Bedürfniß sein, in dem Denkmale selbst einen Hauch der Jugendbegeisterung und Romantik zu spüren, welche die Burschenschaftsidee erzeugt hat. Diese Idee würde vollkommen zur Erscheinung kommen in der Figur eines idealen Burschenschafters, bei dem sich das Motiv der Fahne günstig verwenden ließe. Die Portraits der drei Begründer würden am Sockel anzubringen sein. Eine solche begeisterte Jünglingsgestalt mit dem charakteristischen Costüm würde den Beschauer sicher in die beabsichtigte Stimmung versetzen, und ich sollte meinen, es wäre in diesem so naheliegenden Motiv alles ausgedrückt, was die Plastik hier überhaupt ausdrücken kann.“

So entstand das Project: Auf hohem Piedestale, an welchem die Widmung und die Reliefportraits der drei Begründer der Burschenschaft, Scheidler, Riemann und Horn, nach Jugendbildern angebracht werden, soll sich, überlebensgroß, aus carrarischem Marmor die Figur eines Burschen von 1815 in der damaligen Tracht erheben; er schwingt mit der rechten Hand die Fahnen der Burschenschaft, die einst viel verfolgte Wartburgfahne;[1] er drückt begeisterungsvoll mit der linken das Burschenschwert an die Brust, und aus seinen Blicken, seinen Zügen spricht das heiligste vaterländische Gelübde. Es ist, als hörte man von seinen Lippen die kernigen Worte, eines damaligen Liedes:

 „Du deutsches Vaterland,
Dir schwören wir den hohen Schwur der Treue!
Gilt’s deine Ehre, greift zum Schwert die Hand,
Gilt’s deine Freiheit, sterben wir als Freie!

Das Comité hat dem Künstler die Ausführung dieses so ganz im Geiste der Entstehung der Burschenschaft gehaltenen Entwurfs, von welchem hier eine Abbildung nach dem Modell folgt, übertragen, und mit warmer Liebe ist der Meister in Stuttgart mit der Ausführung beschäftigt.

Leider sind Auftrag und Ausführung durch mehrfache äußere Hindernisse verzögert worden und inzwischen schmerzliche Verluste eingetreten. Die gefeierten Burschen mit dem Silberhaar: Riemann und Horn starben; es starb auch in rüstiger Manneskraft der um die Denkmalssache hochverdiente Geschichtsschreiber der Burschenschaft, mein lieber Bruder Richard Keil, dem die „Gartenlaube“ (Nr. 12 des Jahrgangs von 1880) den ehrendsten Nachruf gewidmet hat.

Rasch schreitet jetzt das Denkmal seiner Vollendung entgegen. Noch fehlen zur Deckung der Kosten einige tausend Mark.

Wohlan denn, Ihr alten und jungen Burschen und Ihr Freunde der Burschenschaft und ihres patriotischen Strebens, bethätigt Eure Theilnahme für die edle Sache durch rasche Einsendung von Beiträgen, bezüglich erneuten Beiträgen an den unterzeichneten Führer der Hauptcasse, damit die Aufstellung des Denkmals, wenn nicht noch im Jahr 1882, so doch im Frühling 1883 ermöglicht werde!

Denkmalcomité und Centralausschuß werden seiner Zeit die Enthüllungsfeier beschließen und ordnen. Möge sich dann in Jena wieder ein erhebendes deutsches Fest gestalten, wie das große Burschenfest von 1865! Möge sich dort, angesichts des Landgrafenberges, dessen Schmach von 1806 durch die Tage von Leipzig und Sedan gesühnt ist, das Denkmal in würdigster Weise erheben, zu Anerkennung der patriotischen Verdienste der Begründer der deutschen Burschenschaft, zu ewiger Mahnung an die kommenden Generationen! Mögen sie, eingedenk der Mahnung, treu dem Beispiele der Männer von 1815, das Banner der deutschen Einheit und Freiheit allezeit mit opferbereiter Vaterlandsliebe hochhalten!

Weimar.Dr. Robert Keil.     
[413]

Die deutschen Revuen.

Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Zeitungswesens.
Von Ludwig Salomon.

Wer heute einmal einen wenn auch noch so flüchtigen Blick auf die deutschen Zeitungen und Zeitschriften wirft, die alltäglich durch Post und Buchhandel versendet werden, der erstaunt unwillkürlich über die Unmasse von Blättern, mit denen fort und fort das Publicum überschüttet wird; sein Erstaunen wird aber noch wachsen, wenn er sich dabei vergegenwärtigt, wie jung diese gesammte deutsche Zeitungsliteratur noch ist und in wie kurzer Zeit sie sich zu dieser Ueppigkeit entfaltet hat. Erst seit dem Beginn dieses Jahrhunderts erscheinen deutsche politische Zeitungen von einiger Bedeutung; erst seit dem Anfange der vierziger Jahre tauchten nach und nach alle die verschiedenen illustrirten Blätter auf, die jetzt so mannigfache Bildung in alle Schichten des Volkes tragen, und erst mit dem Ende der fünfziger Jahre erscheinen die sogenannten Revuen, jene Zeitschriften, welche die höchsten Ziele verfolgen, die da bestrebt sind, der Ausdruck der gesammten geistigen Bewegung zu sein. Doch gingen diesen bereits verschiedene Zeitschriften voraus, die als die Vorläufer der Revuen bezeichnet werden können. Es sind dies hauptsächlich das Cotta’sche „Morgenblatt“, die „Europa“, die „Hallischen“, später „Deutschen Jahrbücher“ und die „Grenzboten“. – Das Cotta’sche „Morgenblatt war, wenn man so sagen darf, das warmherzigste Blatt seiner Zeit. Die schwäbischen Poeten standen sämmtlich in den innigsten Beziehungen zu ihm; verschiedene unter ihnen, wie Gustav Schwab, Gustav Pfizer und Hermann Hauff, der Bruder Wilhelm Hauff’s, waren viele Jahre Redacteure desselben, und die übrigen, besonders Hermann Kurz, Friedrich Notter, Ludwig Seeger, J. G. Fischer und Ottilie Wildermuth, lieferten dem Blatte zahlreiche Beiträge. Von den sonstigen deutschen Dichtern zählten besonders Freiligrath, Gottfried Kinkel, der Sänger der Griechenlieder Wilhelm Müller und die Oesterreicher Lenau und Anastasius Grün zu den Mitarbeitern des „Morgenblattes“. Hervorgegangen war dasselbe aus sehr kleinen Verhältnissen. Seit dem Jahre 1800 erschienen bei dem intelligenten Verleger unserer Classiker, J. F. Cotta in Stuttgart, „Englische Miscellen“, sodann von 1803 ab „Miscellen aus Frankreich“ und nach 1804 „Italienische Miscellen“; dieselben kamen in monatlichen Heften heraus und suchten eine Revue der gelehrten, literarischen, artistischen und mercantilischen Bestrebungen und Fortschritte Englands, Frankreichs und Italiens zu bieten, fanden aber beim großen Publicum wenig Beachtung, sodaß Cotta 1807 die drei Unternehmen in eines verschmolz, diesem einen allgemeineren Charakter gab und es „Morgenblatt“ nannte. Später fügte er demselben noch ein „Kunst-“ und ein „Literaturblatt“ bei, welches letztere von 1820 an viele Jahrzehnte hindurch der bekannte geistreiche, aber einseitige und leidenschaftliche Wolfgang Menzel redigirte. Bis zum 1. Juni 1851 erschien das „Morgenblatt“ täglich in Nummern, vom 1. Juli jenes Jahres ab wöchentlich in Heften, bis es 1865 aus Mangel an Theilnahme einging. Unter allen seinen Redacteuren war das „Morgenblatt“ ein geistig vornehmes und immer maßvolles Journal; nur das „Literaturblatt“ lärmte und zeterte bisweilen. Während Schwab, Pfizer, Hauff sich möglichster Objectivität beflissen, stellte sich Menzel mehr und mehr auf die Seite der Romantiker und trat in Folge dessen besonders dem „Jungen Deutschland“, vornehmlich Gutzkow, feindlich gegenüber. Seine Blüthezeit erlebte das „Morgenblatt“ in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren, in welcher Zeit es von allen Gebildeten Deutschlands gelesen wurde – nebenbei bemerkt, auch von der Mutter des Fürsten Bismarck, welcher der jugendliche Otto wiederholt lange Aufsätze und Kritiken daraus vorlesen mußte, nicht gerade zu seinem Ergötzen, wie er später einmal gegen Menzel bemerkte.

Die Burschenschafts-Fahne,
die erste schwarz-roth-goldne Fahne Deutschlands.

Das Burschenschafts-Schwert.

Ein ganz anderer Geist wehte in der Wochenschrift „Europa“; hier tummelte sich das „Junge Deutschland“. Statt der schlichten Herzensäußerungen der schwäbischen Dichter gab es hier politische Programme, heftige Raisonnements, Kampf- und Streitreden, statt der sorgfältig ausgeschliffenen, wohllautenden, ruhigen Sprache eines Hauff und Schwab ertönte hier der derbe Kriegston, der beißende Witz und die Malice. Bei Allem, was geboten und beurtheilt wurde, war die Gesinnung die Hauptsache; erst wenn man den Tendenzwerth einer Dichtung erörtert hatte, kam man auf den Kunstwerth derselben zu sprechen. Die nationale Sache, die „Rettung der Gesellschaft“ war eben einzig und allein das Thema, das alle diese jungen Stürmer erfüllte und vor dem alles Andere bei Seite geschoben wurde. Gegründet wurde die „Europa“ von dem abenteuerlichen August Lewald 1835 zu Stuttgart; doch erhielt sie erst ihre Bedeutung, als sie 1846 Gustav Kühne, einer der Hauptvertreter des „Jungen Deutschland“, käuflich erwarb und nun in Leipzig, dem damaligen Sammelpunkte aller aufstrebenden jüngern Geister, herausgab. Um Kühne schaarte sich schnell eine große Anzahl sehr tüchtiger Mitarbeiter, so Berthold Auerbach, Theodor Mundt, Heinrich König, Robert Blum, Karl Beck, Moritz Hartmann, Johannes Nordmann, Joseph Rank, und so war es ganz natürlich, daß die „Europa“ überall, wo man sich den neuen Ideen zuwendete, wo man für die vollständige Freiheit des Individuums, die Emancipation der Frauen, das deutsche Parlament schwärmte, gehalten und eifrig gelesen wurde. Allein als der beklagenswerthe Mißerfolg von 1848 hereinbrach, sich eine bleierne Reaktion auf alle deutschen Länder legte und der Mitarbeiterkreis der „Europa“ [414] aus einander stob, da schwand auch die Zahl der Abonnenten schnell dahin, und Kühne legte zu Anfang 1859 mißmuthig die Feder nieder. Hierauf ging sie im Jahre 1865 in den Verlag von Ernst Keil über. Nach Kühne leitete die Redaction Friedrich Steger, der den Charakter des Blattes dem Zeitgeschmacke entsprechend umgestaltete; seit seinem Ende December 1874 erfolgten Tode übernahm der bekannte Romanschriftsteller Hermann Kleinsteuber die Redaction, welche er noch heute mit Geschick und Umsicht führt.

Eine ähnliche Tendenz verfolgten Arnold Ruge’s „Jahrbücher“. Als Ruge dieselben herauszugeben begann, trug er bereits eine breite Narbe; er hatte wegen „staatsgefährlicher burschenschaftlicher Bestrebungen“ schon eine sechsjährige Festungshaft hinter sich und wäre gewiß auch noch weiter hinter Schloß und Riegel belassen worden, hätten nicht 1830, als die Julirevolution ihre Leuchtkugeln auch nach Deutschland hinüberwarf, die Machthaber hier plötzlich einen bangen Schrecken bekommen und die straff gezogenen Zügel etwas gelockert. Ruge wurde wieder in Freiheit gesetzt; er erhielt eine Stelle als Gymnasiallehrer in Halle, habilitirte sich an der dortigen Universität, ward Mitarbeiter verschiedener Zeitungen und entwickelte bald eine hoffnungsfreudige, rege Thätigkeit. Allein seine gute Stimmung sollte ihm bald wieder mehr und mehr getrübt werden; vor das Morgenroth der neuen Freiheit traten bald wieder tiefdunkle Wolken; auf den kurzen Freiheitsrausch folgte ein um so empfindlicherer Katzenjammer, und die Reaction schwang ihre Faust wieder brutaler denn je.

Ruge beobachtete diese Wandlung mit bitterem Grimme, doch er ließ sich nicht entmuthigen; es war ja nicht möglich, daß der nationale Gedanke, der jetzt aller Patrioten Herz bewegte, wieder ausgerottet werden konnte; ja, der tapfere Kämpfer wurde durch die allgemeine Misère zu noch energischerer Thätigkeit angeregt, und schließlich erwuchs in ihm der Plan, die Ideen der neuen Zeit in einer eigenen Zeitschrift fort und fort zu verbreiten und zu pflegen. Er gewann für diesen Plan seinen Freund Theodor Echtermeyer, der sich ebenfalls als Privatdocent in Halle niedergelassen hatte, ferner den Verlagsbuchhändler Otto Wigand in Leipzig und sodann einen großen Kreis von Mitarbeitern, unter denen sich die bedeutendsten Männer der damaligen literarischen Welt befanden, so J. G. Droysen, Franz Kugler, Jacob Grimm, Karl Rosenkranz, Adolf Stahr, Reinhold Köstlin, David Friedrich Strauß, Friedrich Vischer, Ludwig Feuerbach, Daniel Schenkel und viele Andere.

Mit diesem glänzenden Stabe ausgerüstet, traten die „Hallischen Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst“ am 1. Januar 1838 in die Oeffentlichkeit, zunächst jedoch noch mit größter Vorsicht. In der ersten Nummer boten sie nur einen Bericht über die Universität Halle und eine allerdings im höchsten Grade geistreiche und anmuthige, von David Friedrich Strauß geschriebene Charakteristik des gemüthvollen Poeten und wunderlichen Geistersehers Justinus Kerner zu Weinsberg, bald aber wagten sie sich kecker hervor, und nach kurzer Zeit lagen die Grundsätze, von denen das junge Unternehmen getragen wurde, klar vor Aller Augen: es galt nichts Geringeres, als die Schöpfung eines ganz neuen „Mittelpunktes der Anziehung aller noch wirklich treibenden und lebendigen Säfte der Zeit“.

Natürlich standen, wie alle geistreichen Köpfe damals, so auch die Herausgeber unter dem Banne Hegel’s, und die Hegel’sche Philosophie war denn auch die breite Basis, auf der sie sich bewegten.

Der Enthusiasmus, mit dem die „Jahrbücher“ ihr Programm vertraten, erweckte in ganz Deutschland den lebhaftesten Widerhall, und als sie sodann auch in schneller Folge eine ganze Reihe im höchsten Grade gediegener, oft mit feiner, prickelnder Ironie und selbst mit schalkhaftem Humor durchsetzter Essays brachten, fanden sie schnell die weiteste Verbreitung. Unter den philosophischen Artikeln erregten besonderes Aufsehen: „Protestantismus und Romantik“, „Der Pietismus und die Jesuiten“, „Rotteck und der Erzbischof von Köln“ und andere; von den kritisch-biographischen Abhandlangen: die von Friedrich Vischer über David Strauß und Eduard Mörike, die von Karl Rosenkranz über Ludwig Tieck und die romantische Schule, die von Arnold Ruge über Ferdinand Freiligrath, Heinrich Heine und Andere.

Allgemeines Entsetzen in den betreffenden Kreisen rief dagegen eine Anzahl von Aufsätzen hervor, welche alle bedeutenderen deutschen Universitäten charakterisirte. Sämmtliche Schäden wurden rücksichtslos beleuchtet und der alte von so Vielen ängstlich gehütete gelehrte Dunst und Nimbus mit vollen Backen bei Seite geblasen. Das größte Gaudium aber erregten sehr bald die sogenannten „Hinrichtungen“, in denen kleine Schreier, aufgeblasene Wichtigthuer, Reactionäre und sonstige wunderliche oder curiose Gesellen abgethan wurden, wie Gustav Bacherer, ein damals vielgelesener Belletrist und Publicist, der Zurückdränger Heinrich Leo, der lüderliche Gentz, der pietistische Tholuck, der in seinen akademischen Predigten von dem „Eiweiß der Gottesliebe“ und von „Gottes Mutterkräften“ sprach, der nur in Participial-Constructionen sich bewegende König Ludwig der Erste von Baiern und Andere. Durch diese Kampfweise eroberten sich die „Jahrbücher“ rasch ein großes Terrain; sie wurden schnell eine Macht, und in Folge dessen hielt es die preußische Regierung alsbald für gerathen, den Stürmern einen Hemmschuh anzulegen. Sie ließ dem Dr. Ruge durch Cabinetsordre bekannt geben, daß er die mit sächsischer Censur erscheinenden „Hallischen Jahrbücher“ hinfüro unter preußischer Censur müsse erscheinen lassen, oder er habe sich schon in nächster Zeit eines Verbotes der Zeitschrift in preußischen Landen zu gewärtigen.

Auf dieses Ansinnen einzugehen, verspürte Ruge jedoch keine Lust; er verließ Preußen, siedelte nach Dresden über und gab nun die Zeitschrift unter dem Titel „Deutsche Jahrbücher“ heraus. Allein das Verhängniß war jetzt doch nicht mehr abzuwenden; die Acht war einmal über die Zeitschrift ausgesprochen, und die sächsische Regierung ergriff gern die erste beste Gelegenheit, sich der preußischen Regierung gefällig zu erweisen – die „Jahrbücher“ wurden Ende 1842 einfach verboten. Damit beraubte man Deutschland seiner bedeutendsten Zeitschrift, aber das ging ja nicht anders; wie konnte man eine Fackel dulden, die blendend hell in alle moderigen Winkel leuchtete, wie durfte man eine Stimme länger sprechen lassen, die sogar Propaganda für ein einiges Deutschland machte! Soviel über die Ruge’schen „Jahrbücher“!

Nur den Interessen einer engeren Heimath, den specifisch österreichischen, diente der jüngste Vorläufer der deutschen Revuen, die „Grenzboten“. In Oesterreich sah es in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren noch weit trauriger aus, als im übrigen Deutschland; dort hielt Metternich mit eiserner Hand jedwede, auch die bescheidenste, freiheitliche Regung darnieder; in der großen Residenzstadt Wien durften nur zwei politische Zeitungen erscheinen, die „Oesterreichisch-Kaiserlich privilegirte Wiener Zeitung“ und der „Oesterreichische Beobachter“, die der Fürst selbst tagtäglich controllirte und corrigirte; alle ausländischen Blätter waren streng verboten; es war nicht einmal erlaubt, politische Correspondenzen aus Oesterreich an ausländische Blätter zu senden, ja es war den österreichischen Schriftstellern sogar untersagt, ihre Schriften außerhalb Oesterreichs, also ohne österreichische Censur, erscheinen zu lassen, und mit Recht durfte daher Anastasius Grün klagen: „Ach, es will der Freiheit Blume hier zu Lande nicht gedeihen.“ Eine große Menge talentvoller Männer, die den schweren Druck nicht ertragen konnten und mochten, wanderten daher aus, unter Anderen auch ein junger warmblütiger Böhme, Ignaz Kuranda. Er ging zunächst nach Stuttgart und dann nach Brüssel, wo er so viel Interesse für deutsche Cultur und Literatur fand, daß er es wagte, mitten in der französisch sprechenden Stadt eine politische Wochenschrift in deutscher Sprache zu gründen, der er den Namen „Grenzboten“ gab und deren erste Nummer am 1. October 1841 erschien.

Auf die Länge der Zeit war aber Brüssel doch nicht der richtige Platz für eine deutsche Wochenschrift, und so siedelte Kuranda denn schon bald mit ihr nach Leipzig über, wo sich damals viele ausgewanderte junge Oesterreicher aufhielten, die nun sofort eifrige Mitarbeiter der patriotischen Wochenschrift wurden. In Folge dessen erhielten die „Grenzboten“ rasch eine große Bedeutung für Oesterreich und wurden bald das Hauptorgan der liberalen Partei in Wien. Selbstverständlich war die Zeitschrift in Oesterreich verboten, allein es wurden dennoch Mittel und Wege ersonnen, um die grünen Hefte über die schwarz-gelben Grenzpfähle in das Reich Metternich’s zu schmuggeln, wo sie dann von Hand zu Hand gingen und überall informirten, klärten und leiteten. Der Ton, welcher in ihnen herrschte, war stets ein gemessener, selbst vornehmer; nur die Gedichte eines Alfred Meißner, Moritz Hartmann und Joseph Rank schäumten von jugendlicher Begeisterung. Mit dem Ausbruche der Revolution hatten indessen die „Grenzboten“ [415] im Großen und Ganzen ihre Mission erfüllt; Kuranda verkaufte sie daher an Gustav Freytag und eilte nach Wien, um sich dort der Bewegung anzuschließen.

Der neue Besitzer streifte ihnen den specifisch österreichischen Charakter ab, zog das gesammte Culturleben in den Kreis ihrer Besprechungen und schlug dabei einen gemäßigt liberalen Ton an. Im Jahre 1870 überließ er in Folge eines Conflictes mit dem Verleger Grunow diesem die Zeitschrift und gründete „Im neuen Reich“, das aber bereits 1881 wieder einging. Die „Grenzboten“ machten unterdessen verschiedene Wandelungen durch und sind schließlich ein Blatt mit conservativen Tendenzen geworden, das nun – was den alten Freunden der grünen Hefte wunderlich genug vorkommt – mit seinem Kometenmann und dessen Genossen allwöchentlich kecklich den Liberalen die Leviten liest.

Die neue Zeit, welche nach den Stürmen von 1848 anbrach, machte sich also auch in der Journalliteratur geltend; sie nahm den alten Zeitschriften, sofern sie überhaupt noch erschienen, ihre Bedeutung und erzeugte damit das Bedürfniß nach neuen, die dem neuen Geschmacke, dem neuen Denken und Empfinden besser zu entsprechen vermöchten.

Im großen Publicum machte sich nach den Aufregungen der Revolution der allgemeine Wunsch nach Ruhe geltend; man hatte den Tumult und das Kampfgeschrei herzlich satt und grollte sogar den Freiheitskämpen und Freiheitssängern, weil sie es offenbar gewesen seien, die mit ihrem „abgeschmackten Idealismus“, ihrer „Schönrednerei“ und ihren „Träumen von Deutschlands Einigkeit und Herrlichkeit“ nun dieses Fiasco herbeigeführt hätten. Es bildete sich die Ansicht heraus, daß man sich vor allem vor unklarer politischer Schwärmerei hüten müsse; vor den idealen Interessen seien zunächst die materiellen zu fördern; nur wohlhabende Völker, wie dies das Beispiel Englands zeige, verstünden auch wirklich frei zu sein. Darum sei vorwiegend den Naturwissenschaften, der Industrie, dem Handel, der Landwirthschaft, dem Verkehrswesen das allgemeine Interesse zuzuwenden, und die Dichtung habe nur die Mission, nach der Arbeit angenehm zu unterhalten.

Diesen neuen Ansichten und Anschauungen trug zuerst im ganzen Umfange der unternehmungslustige und intelligente Verleger George Westermann in Braunschweig Rechnung, indem er 1856 „Westermann’s Monatshefte“ in’s Leben rief. Als Vorbild dienten ihm dabei die englischen Monatsschriften und ganz besonders das amerikanische Journal „Harper’s Monthly“. Die Redaction vertraute er dem umsichtigen Adolf Glaser an, der sie sodann bis in die neueste Zeit hinein führte. Der Ton, den die „Monatshefte“ anschlugen, war ein ruhiger und schlichter. Das Gebiet der Politik wurde vollständig vermieden, dagegen wurden die Naturwissenschaften, Ethnographie, Kunst- und Culturgeschichte mit besonderer Vorliebe gepflegt; gediegene naturwissenschaftliche Artikel lieferten Schleiden, Schödler, Karl Vogt, J. H. Mädler, geschmackvolle kunstgeschichtliche Lübke, Hermann Grimm, Carrière, Riegel, interessante culturgeschichtliche Falke, Riehl, Lessing und Andere. Den meisten dieser Aufsätze waren Illustrationen beigegeben, die theils zur Erläuterung des Textes, theils als Schmuck dienten. Belletristische Beiträge brachten die „Monatshefte“ von Theodor Mügge, Otto Roquette, W. H. Riehl, Karl Frenzel, Franz Lewald, Wilhelm Raabe, später von Heyse, Storm, Schücking und Andern. Alles Tendenziöse wurde darin vermieden; man wollte nur unterhalten und anregen. Die Hefte fanden sofort bei ihrem Erscheinen allgemeine Beachtung, erwarben sich schon im ersten Jahre 5000 Abonnenten und brachten es nach und nach auf 15,000. Heute werden sie von Friedrich Spielhagen herausgegeben und von Gustav Karpeles redigirt; sie behaupten unter dieser tüchtigen Führung nach wie vor ihre alte Bedeutung und Höhe.

Ein kräftigerer Pulsschlag, als in den „Monatsheften“, regte sich alsbald in der Revue „Unsere Zeit“, die 1857 in Leipzig im Verlage von F. A. Brockhaus in’s Leben trat. Sie wurde an Stelle der „Gegenwart“, einer Art Fortsetzung des Brockhaus’schen Conversationslexicons, gegründet und trug auch selbst noch längere Zeit die Zeichen ihrer Abstammung klar an der Stirn, bis 1865 Rudolf von Gottschall die Redaction übernahm und sie von Grund aus umgestaltete. In der Ausstattung blieb sie freilich weit hinter den Westermann’schen Heften zurück; sie erschien auf ganz gewöhnlichem Druckpapier und brachte auch keine Illustrationen, aber sie trat kräftiger auf, zeigte eine entschieden liberale Gesinnung und zögerte auch nicht, einmal, wenn es ihr nöthig erschien, die ihr gesteckten Grenzen zu überschreiten. Außerdem wußte sie sich einen besonderen Reiz durch die knappen Uebersichten über die neuesten Ereignisse auf dem Gebiete der Politik, der Literatur, des Theaters, der Musik und der Länder- und Völkerkunde zu geben, die sie in jedem Hefte bot. Mit Vorliebe pflegte sie, und pflegt auch noch heute, den biographischen Essay.

Bis zum Jahre 1880 erschien die Zeitschrift zweimal im Monate, jetzt einmal, jedoch nun doppelt so stark wie früher, und außerdem bereichert durch eine Novelle. Von den Mitarbeitern sind neben dem Heransgeber Rudolf von Gottschall besonders zu nennen, für Länder- und Völkerkunde: Adolf Bastian, Hermann Vámbéry und Gerhard Rohlfs, für Literatur und Cultur: Friedrich Althaus, Feodor Wehl, Alexander Jung, Robert Waldmüller und Wilhelm Lauser, für Archäologie und Kunst: Alfred Woltmann, Ernst Curtius und Max Schasler, für Völkergeschichte: Karl Biedermann, Wilhelm Müller und Hermann Reuchlin, für Naturwissenschaften: Karl Ruß, M. J. Schleiden und W. Wundt und für Land- und Volkswirthschaft: A. Fraas und Wilhelm Hamm.

Neben „Unsere Zeit“ stellte sich bereits 1867 eine neue Revue unter dem Titel „Der Salon“. Zeigte „Unsere Zeit“ einen vorwiegend wissenschaftlichen Charakter, so präsentirte sich der „Salon“ in erster Linie als ein geistreicher Plauderer, der sich bestrebte, die elegante Welt über alles Neue, Alles, was die allgemeine Aufmerksamkeit erregte, au fait zu erhalten. Jedes Monatsheft sollte die Signatur des Monats tragen, aus welchem es hervorgegangen, seine Eigenthümlichkeiten beleuchten, seine wichtigen Momente hervorheben, seine Thorheiten geißeln, sich dabei aber doch, wie der echte feine Mann der Gesellschaft, von den Fragen der specifischen Politik und der religiösen Debatte fernhalten. Als Verleger zeichnete A. H. Payne in Leipzig, als Redacteure nannten sich Ernst Dohm und Julius Rodenberg. In der Hauptsache ist sodann der „Salon“ diesem Programme auch treu geblieben, nur daß später, als Dohm und Rodenberg von der Redaction zurückgetreten waren und Franz Hirsch dieselbe 1874 übernommen hatte, sich ein mehr jovialer Ton geltend machte und auch der politischen und literarischen Satire das Wort ertheilt wurde. Neuerdings öffnete der „Salon“ auch der modernen Philosophie seine Pforten und brachte geistreiche Abhandlungen über das Kunstideal der Menschheit, über Mitgefühl und Liebe, über das Erwachen des religiösen Bewußtseins etc. von dem bekannten Verfasser der „Philosophie des Unbewußten“ Eduard von Hartmann.

In ihre neueste Phase trat die deutsche Journalliteratur nach dem Kriege von 1870. Durch die Gründung des neuen deutschen Reiches hatte das geistige Leben einen intensiven Brennpunkt in der Reichshauptstadt Berlin erhalten, und so erstanden denn auch dort alsbald rasch nach einander nicht weniger denn drei Revuen großen Stils, die „Deutsche Rundschau“, „Nord und Süd“ und die „Deutsche Revue“.

Zuerst erschien die „Deutsche Rundschau“ auf dem Plane im Herbste 1874. Sie legte den Schwerpunkt auf den nationalen Charakter.

„Wir erachten es für nothwendig,“ hieß es in dem ersten Prospecte, den die Verleger Gebrüder Paetel und der Herausgeber Julius Rodenberg versandten, „an dieser Stelle zu betonen, daß die ,Deutsche Rundschau‘ keine andere Tendenz verfolgen wird, als diejenige, deutsch zu sein. Sie wird das deutsche Element hegen und pflegen, wo immer es sich findet; sie wird, indem sie die außerordentliche Mannigfaltigkeit des deutschen Wesens, seine Unterschiede, selbst Gegensätze würdigt und mit aller Achtung vor den localen und historischen Eigenthümlichkeiten, aus denen jenes sich zusammensetzt, bestrebt sein, so viel an ihr liegt, bestehende Vorurtheile zu beseitigen, freundliche Annäherung, gegenseitiges Verständniß zu vermitteln und in freudiger, frischer Gemeinsamkeit den Zusammenhang des deutschen Geistes- und Gemüthslebens in seinem vollen Umfange aufrecht zu erhalten und zu stärken.“

Mit dieser ausgesprochen nationalen Grundstimmung erwarb sie sich sofort die wärmsten Sympathien ganz Deutschlands, und als sie mit strengem Ernste fort und fort bemüht war, jederzeit das richtigste und vollständigste Totalbild von dem zu geben, was der deutsche Geist überhaupt ist und vermag, wurde sie sehr bald nun wirklich das, was zu sein sie von Anfang an bestrebt war: ein repräsentatives Organ der gesammten deutschen Culturbestrebungen. Die bedeutendsten Männer der deutschen Wissenschaft, ein Virchow, Dubois-Reymond, Helmholtz, Preyer, Sybel, Hettner und Andere, die gefeiertesten Dichter und Dichterinnen, ein Storm, Auerbach, [416] Heyse, Gottfried Keller, Wilhelmine von Hillern und Andere, sind ihre Mitarbeiter, verschiedene ihrer Artikel, so der „Zug nach Sedan“ von J. von Verdy, Moltke’s Briefe über Rußland, der Briefwechsel Schiller’s mit dem Herzoge von Augustenburg, herausgegeben von Max Müller, erregten weit über die Grenzen Deutschlands hinaus Aufsehen, und so ist die Achtung, welche sie sowohl im Inlande, wie im Auslande genießt, eine unbestrittene.

Eine ähnliche Tendenz, wie die „Rundschau“, verfolgt auch die im Frühjahr 1877 von Paul Lindau in’s Leben gerufene Zeitschrift „Nord und Süd“, doch zeigt diese mehr ein kosmopolitisches Gesicht. Sie hält sich principiell von allen politischen Fragen fern und läßt darum auch die nationale Grundstimmung nur selten durchklingen. Auch will sie offenbar mehr unterhalten, als unterrichten, mehr im Gesellschaftszimmer und Boudoir, als in der Studirstube gelesen werden und trägt in Folge dessen auch ein weit eleganteres Kleid, als die „Rundschau“. Sie erscheint in sauberster und geschmackvollster typographischer Ausstattung und bringt außerdem noch in jedem Hefte ein Portrait in Radirung. Im Mitarbeiterstabe fehlt es ebenfalls nicht an hervorragenden Männern; wir nennen Geibel, Bodenstedt, Rittershaus, Scherenberg, Heinrich Kruse, Felix Dahn, Wilbrandt, Anzengruber, Fontane, Rudolf Lindau, Leopold von Ranke, de Bary und R. von Ihering. Anfangs erschien „Nord und Süd“ bei Georg Stilke in Berlin, aber schon im Januar 1879 ging es in den Verlag von S. Schottländer in Breslau über.

Einen mehr gelehrten Charakter trägt die „Deutsche Revue“. Sie strebt vor Allem nach Vollständigkeit und behandelt in jeder Nummer eingehend jedes einzelne Gebiet des öffentlichen Lebens, der Wissenschaft, Kunst und Literatur. Ihre ständigen Mitarbeiter geben fortlaufende Berichte, die in erster Linie informiren sollen. Die wichtigsten Referate liefern auch hier nur Männer von Bedeutung. So schreibt von Schulte über Politik, Gareis über Staats- und Rechtswissenschaft, Laspeyres über Nationalökonomie und Statistik, Carus Sterne über Naturwissenschaften, Birnbaum über Landwirthschaft, Landgraf über Handel, Gewerbe und Industrie, Carrière über Philosophie, Schasler über Kunst etc. Herausgeber der „Deutschen Revue“ ist Richard Fleischer, Verleger derselben war bei ihrer Gründung 1876 Karl Habel; jetzt ist es Otto Janke in Berlin.

In allerjüngster Zeit ist endlich noch die im Verlage von E. L. Morgenstern in Leipzig erscheinende Zeitschrift „Auf der Höhe“ in die Reihe der deutschen Revuen getreten; sie will vor Allem eine internationale Revue sein; sie beabsichtigt, fortwährend die gesammte europäische Literatur im Auge zu behalten und fortlaufend über die ganze europäische Gesellschaft zu berichten. Fürwahr, ein kühnes Unternehmen, das die ganze Energie des Herausgebers, des bekannten Romanschriftstellers Leopold von Sacher-Masoch (dem jüngsthin in der Redactionsführung R. Armand zur Seite getreten ist), erfordern wird. Ein abschließendes Urtheil können wir uns über das interessante Unternehmen noch nicht bilden, da nur erst wenige Hefte desselben vorliegen, die jedoch neben großer Mannigfaltigkeit des Gebotenen viel redactionelle Umsicht bekunden und somit für die Zukunft Gutes versprechen.

Unsere junge Revuen-Literatur hat sich, wie obige Uebersicht zeigt, bereits üppig entwickelt, aber sie wird trotzdem noch manche Wandlung durchzumachen haben. Es fehlt ihr vor allem noch an eigenartigem, nationalem Charakter; überall in unserer Revue-Literatur macht es sich noch bemerkbar, daß man sich hier an ein französisches, dort an ein englisches und endlich sogar an ein amerikanisches Muster anlehnt. Erst wenn die deutschen Revuen ganz und gar deutsche Eigenart zeigen, dann erst werden sie auch im ganzen Umfange das sein, was sie sein sollen und wollen: ein Spiegel des deutschen Culturlebens.




Allerlei Hochzeitsgebräuche.

Nr. 2.0 Französische Hochzeitsgebräuche.
Von Herman Semmig.

Das Erste, was meine Augen am 2. März 1851, am Tage nach meiner Ankunft, in Nantes erblickten, wohin mich die Regierung des Prinz-Präsidenten Napoleon als Flüchtling nach den deutschen Sturmjahren internirt hatte, war eine Volkshochzeit. Ich saß eben beim Frühstück im Hôtel „Zum Schilde Frankreichs“, das am Quai der Loire bei dem Landungsplatze der Dampfschiffe liegt, die zwischen Angers und Nantes auf- und abfahren, als mich lustige Fiedelklänge an’s Fenster lockten; es war ein langer, langer Zug von munteren Paaren, eins nach dem andern, dem ein Violinspieler aufspielend voranging. „Was ist das?“ fragte ich den Wirth.

„C'est une noce, Monsieur.“

Eine Hochzeit! Ich nahm es für ein gutes Vorzeichen und meine Hoffnung hat mich nicht getäuscht: ich habe seitdem in meinem zwanzigjährigen Aufenthalte in Frankreich alle möglichen Rollen bei diesem schönsten Feste des Lebens gespielt, ich betone: alle, verehrte Leserin, und einen reichen Schatz von freundlichen Erinnerungen eingeheimst. Wenn ich aber je in einem Landesstrich – ich habe allerlei Provinzen bereist und bewohnt – nicht dabei sein konnte, so ließ ich mir doch erzählen, was da „ländlich sittlich“ war. Und da sich die Leserin sicher für dieses Fest interessirt – „denn dies ist doch die größte Freude, auf die ein Mädchen hoffen kann,“ sagt der gemüthliche Gellert – so will ich ihr einiges von den Gebräuchen mittheilen, die dabei in verschiedenen Gegenden Frankreichs herrschen.

In Paris haben die Hochzeitsgebräuche nichts abweichend Eigenthümliches; die Volkshochzeiten ziehen zuweilen vor die Barrière hinaus und nehmen dann in den dortigen „Guinguetten“ (Weinwirthschaften mit Garten) ein für den Fremden besonderes Gepräge an, aber seit dem riesigen Anwachsen der Stadt verschwindet auch dieser Rest von Originalität. Bei den kleinbürgerlichen Hochzeiten, die in den billigen Restaurants des Palais royal abgehalten werden, soll, wenn man den Witzblättern glauben darf, noch der alte Scherz vorkommen, daß sich während des Nachtisches ein jugendlicher Spaßvogel, meist ein Knabe, unter den Tisch schleicht und der Braut heimlich das Strumpfband löst, welches dann zerschnitten und unter die Gäste vertheilt wird. Wo aber die angeheiterte Gesellschaft an diesem einer derberen Zeit entstammenden Gebrauche noch festhält, da weiß die Braut das Bedenkliche dabei zu umgehen und drückt dem Knaben unter dem Tische eine Handvoll zugeschnittener Bänder in die Hand, mit dem die Einbildungskraft der Gäste fürlieb nehmen muß. Ein besonderes Pariser Herkommen ist es noch, daß nach dem Hochzeitsmahl die Gäste in das Boulogner Gehölz fahren; beim oberen Teiche, See genannt, halten sie an und gehen um denselben spazieren. Man sieht hier oft mehrere solcher glücklichen Paare sich zusammenfinden; der Fremde erkennt die Braut besonders an dem Orangeblüthenkranz und -Strauß, der in Frankreich an Stelle der Myrte tritt.

Nur in dem Lande selbst, der „Provinz“, findet man noch volksthümliche Gebräuche, aber man eile, wenn man die Reste von der früheren bunten Mannigfaltigkeit noch sehen will! Denn „die Cultur, die alle Welt beleckt“, fährt auf den Schienen der Eisenbahn in die verborgensten Winkel. Da ist z. B. die keltische Bretagne, eines der eigenthümlichsten Länder, wo noch ein Dialekt der alten Ursprache der Gallier gesprochen wird. Bei meinen mehrjährigen Wanderungen durch diesen Keltenwinkel fand ich nur noch geringe Reste der Gebräuche vor; doch an Einem hielten die Frauen auf dem Lande fest, an ihrer pittoresken einheimischen Kleidung, wie sie namentlich bei festlichen Gelegenheiten getragen wird.

Diese malerische Nationaltracht sah ich einmal im Flecken Batz an der Seeküste im Departement der Niederloire zu schnöder Geldspeculation benutzt; ich schlenderte durch die Gassen des alterthümlichen Ortes, als mich eine Frau, die unter der Thür ihres Hauses stand, anredete: „Wenn Sie wollen, so ziehe ich mich Ihnen als Braut an.“ Natürlich gegen Geldentschädigung. Es mißfiel mir, das Festkleid vor einem Fremdling zum Erwerbe benutzt zu sehen; es kam mir wie eine Entweihung vor – ich lehnte ab.

Der Flecken Batz nahe bei Saint-Nazaire zeichnet sich in jeder Hinsicht durch ein charakteristisches Gepräge aus; die männliche Bevölkerung soll von Sachsen, normännischen Seeräubern, abstammen, die einst hier gelandet und sich niedergelassen haben; ihr

[417]

Einkauf der Brautaussteuer in der Normandie. Nach dem Oelgemälde von Henry Mosler.

[418] Costüm ist höchst malerisch. Uebrigens heirathen die Einwohner nur unter einander, bilden ein Volk für sich, was zur Erhaltung des Typus und der Gebräuche beiträgt.

Am Tage der Hochzeit, erzählt ein Tourist, begiebt sich der Bräutigam in die Wohnung der Braut, um sie zur Kirche zu führen; aber ehe er zu ihr gelangt, hat er mancherlei Hindernisse zu überwinden. Zuerst schließt man die Thür vor ihm zu; hat er endlich mit Beharrlichkeit durchgesetzt, daß sie ihm geöffnet wird, so führt man ihm nach einander mehrere junge Mädchen vor, und jede derselben wird ihm als seine Braut ausgegeben. Endlich tritt er in die Wohnung, aber bevor er seine Erwählte findet, muß er oft das ganze Haus durchsuchen, um den Winkel zu entdecken, wo sie sich der Sitte gemäß versteckt hat. Nun hat er endlich seinen Schatz, aber er bleibt nicht lange im Besitze desselben; denn nach der Trauung trennt man die jungen Eheleute, wenn sie aus der Kirche treten, auf's Neue. Die Eltern und Verwandten des jungen Mannes folgen ihm in seine Wohnung; die der jungen Frau führen dieselbe wieder in ihr Heim, und jedes speist für sich. Nach der Mahlzeit vereinigen sich beide Familien wieder, und man tanzt den ganzen Abend nach der Sackpfeife. Ist die Nacht gekommen, so geleitet man die jungen Ehegatten in ihre Wohnung; hier reichen die Burschen der Frau einen Blumenstrauß und einen Kuchen, wobei sie ein Lied singen, das ihr ihre Pflichten als Hausfrau und Mutter vorhält. Nach jeder Strophe trinkt man auf das Wohl der Neuvermählten, und einer der Verwandten giebt das Zeichen, indem er ausruft: „à la santé de Madame la mariée!“ Alle Anwesenden heben einen Fuß und Arm auf und antworten: „Honneur!“ Endlich ziehen sich die Gäste zurück und überlassen die Vermählten sich selbst.

Landeinwärts, bei dem auf der Höhe gelegenen alterthümlichen Städtchen Guérandé wird die Hochzeit in der Schenke auf Kosten der Gäste abgehalten; die Neuvermählten haben nichts zu bezahlen. Der Wirth schenkt sogar noch der Braut den Kopfputz, und jeder der Gäste — es sind deren manchmal hundert und mehr — bringt ein Hausgeräth in die junge Wirthschaft, eine Freigebigkeit, die aber in neuerer Zeit nachgelassen hat. Die dortigen Salzbauern — man gewinnt hier das Seesalz in künstlichen Teichen — halten die Hochzeit gewöhnlich im Dorfe Saillé in der Ebene, und da dasselbe ziemlich entfernt ist, so reitet man hin, und zwar paarweise, zuerst das Brautpaar, dann die Gäste, von denen Jeder hinter sich auf das Pferd ein Mädchen geladen hat, welches sich fest an den Reiter anklammert, dessen Leib mit beiden Armen umschlungen haltend.

Jenseits der Loire, wo der südliche Theil der Bretagne an die Vendée grenzt, war ich einmal Bräutigamsführer, garçon d’honneur; die Braut hatte ebenfalls einen Führer. Es waren brave Landleute. Der Sitte gemäß trat ich am Trauungsmorgen in die Wohnung; zuerst hatte ich Vater und Mutter des Bräutigams auf die Wange zu küssen, dann den Letztern selbst; darauf ward mir ein künstlicher Blumenstrauß an den Rock geheftet, und ich bot nun dem Bräutigam den linken Arm, um ihn, gefolgt von allen Verwandten und Eingeladenen, in die Kirche zu führen; die war eine Stunde entfernt, und bis dahin durfte ich den Arm nicht fahren lassen. In dem Städtchen, in dem die Trauung stattfand, wurden wir mit Freudenschüssen empfangen.

Nach der Ceremonie war der Platz vor der Kirche in einen kleinen Jahrmarkt verwandelt, und jeder der Gäste kaufte hier ein Hausgeräth oder sonstiges Geschenk ein. Auf dem Heimwege hatte der junge Mann seine Angetraute am Arm. Vor dem Hofe angelangt, mußten sie halten; die Schwiegereltern boten hier der jungen Frau Butter und Wein an, und sie mußte von beiden kosten. Dann trat das Paar in den Hof; an der Hausthür wurde wieder Halt gemacht; die junge Frau küßte hier ihre Schwiegereltern, und nun erst trat sie in ihre neue Wohnung. Nach der Mahlzeit, zu der die Gäste ihre Messer selbst mitzubringen hatten (nur die Gabeln wurden geliefert), wurde zum Tanz angetreten: „on fait danser la vaisselle!“ („man läßt das Geschirr tanzen!“) hieß es. Die eingekauften Geschenke werden nämlich während eines Tanzes vor dem jungen Paare niedergelegt, das demselben sitzend zuschaut. Vor dem Hause aber ist eine Maie aufgepflanzt, deren Stamm unten mit dürrem Reisig umgeben ist, das bei der Rückkehr des Paares in Brand gesteckt wird; sobald die Flamme zu flackern beginnt, schießen die jungen Burschen hinein; lischt nun die Flamme aus, so bedeutet das, daß die junge Frau keine Geduld bei ihren häuslichen Verrichtungen haben wird. Die Maie bleibt bis zur Taufe des Erstgeborenen stehen.

Die Poesie spielt in der Bretagne bei festlichen Gelegenheiten eine große Rolle, in der keltischen noch mehr als in der französischen. So wird z. B. von dem Dörfchen Boissière, das südöstlich von Nantes inmitten ausgedehnter Haiden liegt, Folgendes erzählt. Der junge Mann, der um ein Mädchen freit, begiebt sich Nachts vor ihr Haus und singt da dieses Verschen:

„Il ne fait point clair de lune;
     Belle, levez-vous!
Tandis que la nuit est brune,
Venez danser avec nous!"

(„Es ist kein Mondschein; Steh’ auf, meine Schöne! Während es Nacht ist, Komm’ und tanze mit uns!“)

Verschmäht das Mädchen die Verlobung, so antwortet sie:

„Il fait trop beau clair de lune;
     Garçon, laissez-nous!
La nuit n’est pas assez brune,
Pour que je danse avec vous.“

(„Der Mondschein ist zu hell; junger Bursch, laßt uns in Ruh’! Die Nacht ist nicht dunkel genug, Als daß ich mit euch tanzen könnte.“)

Wurde aber das Herz der Schönen vom Gesang gerührt, dann steht sie auf, öffnet sachte das Fenster und singt:

„Pourquoi, l’amant, venir ainsi
     Troubler mon sommeil?
Je n’entends point, quand il fait nuit;
     Venez au réveil!“

(„Warum kommt Ihr, mein Verliebter, Meinen Schlaf zu stören? Ich höre nicht, wenn es Nacht ist; Kommt, wenn wir munter sind!“)

So mangelhaft auch die Verse sind, der glückliche Freier wird dadurch entzückt, aber am Ziel ist er darum noch nicht: vierzehn Nächte hinter einander muß er die Serenade wiederholen, vielleicht um seine Treue und Ausdauer aus die Probe zu stellen. —

Ein paar Stunden südlich von Orleans und Blois dehnt sich, von den Flüßchen Sauldre und Beuvron durchschnitten, ein ärmlicher, dürftiger, ungesunder Landstrich hin, la Sologne; seine Bewohner leiden fortwährend an Fieber. Natürlich siedeln sich wenig Fremde dort an. Eine Folge davon ist, daß die Leute ihren nationalen Charakter und ihre alten Gebräuche treu beibehalten haben; daß sich bei den kümmerlichen Verhältnissen Körper und Geist nicht kräftig entwickeln, begreift sich.

Das Land wird wenig besucht aus Angst, von den Fiebern angesteckt zu werden. Ein Ort namentlich gilt für ungesund; sein unheimlicher Name schon macht zittern: Tremblevif; er rührt aber nicht von dem fieberhaften Zittern der Bewohner her, sondern von einer Zitterespe, die aus einem Kirchenpfeiler herauswächst.

Auch in der Sologne hält man Hochzeit trotz des ungesunden Klimas, und der Aberglaube spielt dabei eine große Rolle. Der Solognot erlaubt seiner Frau bei der Trauung nicht, den Trauring selbst anzustecken, sondern er selbst schiebt ihn vorsichtig bis zum dritten Gliede; denn wenn er anders thäte, würde sicher seine Frau Herr im Hause sein. Während der Trauung hält jedes von Beiden eine brennende Kerze in der Hand, und man glaubt, daß, wessen Wachs am weitesten herunter gebrannt ist, zuerst sterben wird. Kaum glaublich klingt folgender trotzdem verbürgter Gebrauch: während der Priester am Altare die Traumesse liest, sticht man Braut und Bräutigam von hinten bis auf’s Blut, um zu wissen, wer von Beiden am eifersüchtigsten sein wird.

Die Hochzeit dauert mehrere Tage; da wird getanzt, gespielt und getrunken. Man ladet nicht nur den Herrn und die Frau von jedem Nachbarhause ein, sondern auch die Dienstboten, Tagelöhner, die Gebrechlichen und die Kinder. Jeder der Eingeladenen darf seinerseits andere Personen dazu einladen. Am ersten Tage wird nach dem Festmahl, bei welchem, wenn auch die Küche nicht die feinste ist, sich Jeder tüchtig satt essen kann, für die Neuvermählten eine Sammlung angestellt. Dieselbe geschieht auf verschiedene Weise: bald giebt die junge Frau ihren bräutlichen Strauß den Brautjungfern; diese führen unter den grellen Klängen der Dorfgeige verschiedene ländliche Tänze auf, wobei der Strauß von Hand zu Hand wandert und die Tänzerinnen im Vorbeitanzen die Freigebigkeit der Gäste ansprechen; bald übernimmt eine Procession von fünf Bauernmädchen die Sammlung. Die erste hält in der Hand einen Rocken und eine Spindel, zeigt beides den Gästen vor und singt dabei:

[419]

„L’éspousée a bien quenouille et fuseau,
Mais de chanvre, hélas! pas un écheveau.
Pourra-t-elle donc filer son trousseau?“

(„Die junge Frau hat wohl Rocken und Spindel, aber leider! keinen Strähn Hanf. Wird sie denn ihre Aussteuer spinnen können?“)

Die zweite empfängt die Spenden in einem Becher der Neuvermählten; die dritte schenkt den freigebigen Gästen zu trinken ein; die vierte wischt mit einer Serviette den Trinkern den Mund ab, auf welchen die letzte, gewöhnlich die hübscheste, zum Danke einen Kuß drückt.

Am letzten Tage der Hochzeit giebt es einen drolligen Spaß. Auf eine Stange wird ein Steinkrug gestülpt; die Gäste gehen nun mit verbundenen Augen und einen Stock in der Hand auf den Topf zu, um ihn mit einem Schlage zu zertrümmern; wer so glücklich ist, hat das Recht, die junge Frau zu küssen; wem es mißlingt, der muß sich auf einen Thron von Laubwerk setzen; man schenkt ihm zu trinken ein, und Jeder thut, als ob er mit ihm anstieße. Er muß nun so lange trinken, bis es ihm gelungen ist, an das Glas eines der Necker zu stoßen, der dann seine Stelle einnimmt, bis auch dieser wieder abgelöst wird.

Eine andere Gegend, wo das Landvolk noch mancherlei Eigenthümlichkeit in Gebräuchen und Aberglauben bewahrt hat, ist das Bourbonnais, welches jetzt das Departement des Allier mit der Hauptstadt Moulins bildet und im Süden an die Auvergne grenzt. Ein Händedruck auf dem Tanze des „Apport“ (so werden hier die Volksfeste oder Kirmsen genannt), den die Hand des anderen Theiles erwiedert hat, ist gewöhnlich die Einleitung zur künftigen Ehe. Einige Zeit nach dem Händedruck kommt eines Sonntagsmorgens der Freier in Begleitung einer Mittelsperson zu den Eltern der Begehrten. Gleich nach der Ankunft wird die Pfanne in’s Feuer gethan; bäckt man nur einen Eierkuchen, so ist es so gut wie gewiß, daß die Werbung vergeblich ist, wird aber ein feineres Gebäck, des beignets (Aepfelschnittchen), bereitet oder giebt man gar dem jungen Galan den Pfannenstiel einen Augenblick zu halten, dann ist sein Gesuch angenommen; er kann sich als ein Glied des Hauses betrachten.

Am Tage vor der Hochzeit hört man draußen eine Sackpfeife dudeln; das Herz der Braut schlägt lauter unter dem rauhen Mieder. In der That sind es die jungen Bursche aus dem Dorfe, die dem Bräutigam das Geleit geben; derselbe überbringt seine Geschenke und kommt das Hemd abzuholen, das er aus den Händen seiner Verlobten erhalten soll. Aber das Herkommen hat seine Gesetze; man tritt nicht so ohne Weiteres bei den Eltern der Tochter ein. Die Thür ist verschlossen; man muß mit der Sackpfeife anklopfen, mit nichts Anderem, und dabei folgende Verse absingen, bei denen, wie bei aller Dorfpoesie, die Regeln der Kunst wenig beachtet werden:

„Ouvrez, ouvrez la porte,
Françoise, ma mignonne!
De beaux cadeaux à vous présenter
Hélas! ma mie, laissez-nous entrer!“

(„Mach’ auf, mach’ auf die Thür, Françoise, mein Liebchen! Schöne Geschenke Dir darzureichen, Ach! meine Liebste, laß’ uns ein!“)

Weibliche Stimmen antworten von innen:

„Moi, vous laisser entrer?
Je ne saurais le faire;
Mon père est en colère!
Ma mère est en tristesse;
Une fille d’aussi grand prix
N’ouvre pas la porte à ces heures-ci.“

(„Ich, Euch einlassen? Das kann ich nicht; Mein Vater ist aufgebracht, Meine Mutter traurig; Ein Mädchen von so großem Werth Oeffnet die Thür nicht zu dieser Stunde.“)

Nun beginnen die Burschen wieder zu singen und zählen alle Geschenke auf, die sie mitbringen: Bänder, ein Taschentuch, einen Ring, eine Schürze. Aber die bösen Mädchen bleiben unbeugsam, bis die jungen Leute draußen singen: „Un jeune garçon à vous présenter, einen jungen Burschen überbringen wir Euch.“ Bei diesem bestimmten Worte öffnet sich, dem Herkommen gemäß, die Thür, „denn das ist ja die größte Freude, auf die ein Mädchen hoffen kann“, und die lustige Schaar dringt ein. Aber die Mädchen haben sich unter ein Tuch versteckt; der Bräutigam muß seine Braut errathen und die Hand auf sie legen, sonst wird er den ganzen Abend von ihr fern gehalten. Allein selten irrt sich der verliebte Forscher, aus dem einfachen Grunde, weil zwei für den Irrthum büßen würden: ein Finger, der durch das Tuch hindurch in das Knie kneipt, ein leichter Tritt auf den Fuß, ein leises Lachen, das man erkennen muß, kommen dem Sucher immer zu Hülfe.

Am andern Tage wartet man auf die Neuvermählten, wenn sie aus der Kirche kommen, mit einer Schüssel voll Suppe, von der sie zum Zeichen ihrer nunmehrigen Gemeinschaft mit demselben Löffel kosten müssen. Aber die ländliche Bosheit hat eine starke Dosis Pfeffer in dieses erste eheliche Gericht gemengt – ein schlechter Spaß, welcher der jungen Frau zuweilen ein paar Stunden Husten verursacht. Wenn nun die Neuvermählte bei der Heimkehr über die Thürschwelle tritt, muß sie von jedem der anwesenden jungen Burschen einen Kuß annehmen.

Die Hochzeitsmahlzeiten sind hier, wie überall aus dem Dorfe, massenhafte Schmausereien. Wenn die Nacht kommt, gehen die Meisten auf den Heuboden (hier Chambarat genannt) schlafen; die jungen Burschen erlauben sich aber noch einen Spaß, der über die Derbheit hinausgeht, unlängst noch bestanden hat und nunmehr hoffentlich gänzlich verschwindet: sie bringen den Neuvermählten la rôtie (geröstete Brodschnitte) an’s Bett, das heißt die letztern müssen sich in einem Milchgefäße die Hände waschen und eine Tasse Glühwein austrinken, wobei ihnen Federn in’s Gesicht geblasen werden und dasselbe mit Kohle geschwärzt wird. Zuweilen setzt der Ehemann sich zur Wehr, und die Festfreude endet mit einer Schlägerei.

Am Tage nach der Hochzeit wird „der Kohl gepflanzt“. Die jungen Leute bringen einen mit Blumen geschmückten Kohlkopf, stellen ihn auf den Dachgiebel und bleiben dabei. Andere, die den Titel „Gensd’armen“ führen und einen Gürtel von Strohhalmen tragen, halten in der Hand das Ende eines Strickes, dessen anderes Ende an den Kohlkopf gebunden ist; soweit es ihnen nun die Länge des Strickes erlaubt, laufen sie den Mädchen nach, die zur Hochzeit gehören und bald ihnen entfliehen, bald sie necken. Diejenigen, welche nicht flink genug sind und erhascht werden, werden unter das Dach geführt und von den Kohlwächtern auf dem Dache mit Wasser begossen.

Die alten Leute, die dieses Gelärme satt haben, haben sich schon bei Zeiten wieder an den Zechtisch gesetzt und singen:

„Nos chevaux sont à la porte,
Tout sellés, tout bridés,
Que le diable les emporte,
Je ne veux point m’en aller.“

(„Unsere Pferde stehen vor der Thür, Gesattelt und gezäumt; Der Teufel soll sie holen; Ich will nicht fort von hier.“)

Endlich entschließt man sich doch abzuziehen, aber gewöhnlich erst, wenn die Fässer leer sind.

Das anmuthige Bild, das dieser Skizze beigegeben ist, führt uns eine Scene aus der Normandie vor; die junge Braut läßt sich in einem Kramladen das Hochzeitskleid anmessen; die Scene bedarf keiner Erläuterung. Aber von den in der Normandie herrschenden Gebräuchen wollen wir noch zum Schlusse reden.

Die Normandie, deren Hauptstadt Rouen ist, bildet jetzt fünf Departements, die untere Seine, die Eure, das Calvados, die Manche und die Orne. Der Aepfelwein (le cidre) ersetzt hier den Wein; die Einwohner gelten für schlau und rechthaberisch.

In der obern Normandie halten gewöhnlich die Eltern oder die Freier selbst um das Mädchen an, in der Niedernormandie geschieht dies immer durch Mittelspersonen. Der Aberglaube spielt auch hier seine Rolle. Die alten Weiber im Bezirke von Pont-Audemer (Eure) wissen von manchen Hindernissen zu erzählen, auf die ein Mädchen stoßen kann, das sich unter die Haube sehnt. Tritt z. B. ihr Fuß aus Versehen auf den Schwanz einer Katze, so wird sie unter sieben Jahren keinen Freier finden; tritt sie dem Thiere auf die Pfote, so hat sie sich drei Jahre zu gedulden. Man kann sich daher denken, daß die weibliche Jugend sich das Katzengeschlecht fern vom Leibe hält. Und wie ängstlich überwacht das Mädchen in der Normandie die Wärme des Wassers, mit dem das Geschirr ausgewaschen wird! Denn kommt es zum Sieden, so ist lange an kein Heirathen zu denken.

Der Hochzeitszug zur Mairie (Standesamt) geht paarweise, eine Fiedel voran, wie in Nantes, und unter Flinten- und Pistolenschüssen. In den meisten Orten werden bei dem Feste die Straßen gesperrt, d. h. man zieht über die Straße ein Seil, an dem Bänder und Blumen befestigt sind; der Durchgang wird durch ein Geldgeschenk erkauft. In Quillebeuf an der Seine herrschte ein sonderbarer Gebrauch, der noch nicht ganz abgekommen ist: nach [420] der Trauung begaben sich einige Gäste nach der Wohnung des Gatten, während die Neuvermählte zurückblieb; sie kam nach, klopfte an die Thür und bat um die Erlaubniß, einzutreten, um sich so dem Spruche zu unterwerfen: „und er soll Dein Herr sein.“

Ein besonderer Gebrauch im Departement der Orne ist folgender: Der junge Mann nimmt nicht Theil an der Festmahlzeit; er hat vielmehr die Gesellschaft zu bedienen und theilt die Strapazen mit dem Koche. Alle Ehre wird der Frau erwiesen, die in der Mitte einer hufeisenförmigen Tafel sitzt; ihr Stuhl ist mit weißem Linnen bedeckt und mit drei Blumensträußen geschmückt; hinter ihr fällt ein weißes Tuch als Teppich herab. Die Bewirthung der Gäste ist reichlich, und man unterbricht die Mahlzeiten nur, um zu tanzen. Die Strumpfbänder der Braut werden hier noch in Wirklichkeit von dem jüngsten Gaste der Braut gelöst und dann zerschnitten und vertheilt. Jener gar zu derbe Gebrauch, den wir unter dem Namen la rôtie im Bourbonnais gefunden haben, existirt auch in der Normandie, aber er ist auf den andern Morgen verschoben, doch Federn und Kohle spielen hier keine Rolle.

Ueberall in der Normandie vereinigen sich die Gäste noch einmal am Sonntage nach der Hochzeit, um zu Ehren der Neuvermählten lustig zu sein. Im Departement der Orne nennt man dies „die Katze peitschen, fouetter le chat“, in der obern Normandie „faire le raccroc (der glückliche Nachschub)“, oder auch „manger la paille du lit de la bru (das Bettstroh der Schwiegertochter essen)“.

Die ursprünglichen Sitten aller Völker hatten etwas Derbes, Rauhes; mit der Verfeinerung wird das Rauhe roh gefunden. Die große Abgeschlossenheit einzelner Provinzen, besonders der Dörfer, hat in Frankreich, wie wir im Bourbonnais und in der Normandie sahen, noch Gebräuche aufbewahrt, die mit dem besseren Geschmacke im Widerspruche stehen. Aber das Dampfroß, das schon Aufklärung in die alte Vendée gebracht hat, wird auch diesen letzten Rest mittelalterlich derber, ungenirter Eigenthümlichkeit beseitigen. Leider fällt damit freilich auch mancher gute und poetische Zug des Volksthums; ist doch schon die Anhänglichkeit an der Väter Brauch ein sittliches Moment. Nur Eines bleibt unvergänglich: die Liebe, der irdische Traum vom Paradiese; denn wie sich alljährlich im Lenze die Natur erneut, so erneut sich mit jedem jungen Geschlechte die Menschheit, und das Pfingstfest der Liebenden ist die Hochzeit. Die Formen und Gebräuche dabei wechseln, aber der Genius, der die Paare beseelt, war und ist überall derselbe: der heilige Geist der Liebe.




Blätter und Blüthen.


Am Johannistag. (Mit Abbildung S. 409.) Keine Zeit des Jahres hat zu so vielerlei Festen bei so verschiedenen Völkern Veranlassung gegeben, wie die der Sonnenwenden und namentlich die Sommer-Sonnenwende, die seit dem neuen Kalender auf den 24. Juni fällt und seit etwa dem fünften Jahrhundert des Christenthums dem Täufer Johannes geweiht ist.

Alle Feste des Sonnenwendetags sind vorchristlichen Ursprungs und durch das Christenthum nur umgewandelt, umgedeutet und mit kirchlichen Zuthaten versehen worden. Wie viel von dem an diesem Tage und seiner Nacht besonders reich gepflegten Aberglauben beiden Zeitperioden zufällt, ist nicht immer zu ermitteln; in welcher Weise jene Umdeutung geschah, ersehen wir aus der des alten Sonnenwendfeuers. Als „Johannisfeuer“ sollte es auf die Einäscherung der Stadt Sebaste, wohin man das Grab Johannis des Täufers verlegt, und auf die vom Kaiser Julian befohlene Verbrennung der Gebeine desselben, der Blumenschmuck der Gräber an diesem Tage aber auf seinen Märtyrertod hinweisen, obwohl die Feuer auf den Bergen schon Jahrhunderte vorher geleuchtet hatten und die Sonnwendkränze sicher den alten Festen nicht fremd waren.

Wohin wir in unserem Vaterlande blicken, überall zeichnet den Johannistag irgend etwas Besonderes aus. Ein Feiertag des Volkes ist er auch da, wo die Kirchen, wie in den protestantischen Ländern, sich ihm nicht mehr öffnen. Und da es Feiertag ist, so muß auch Etwas getrieben werden.

Die „Gartenlaube“ hat den hervorragendsten Festen und Bräuchen dieses Tages bereits ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Sie hat ihre Leser zur Morgenfeier auf die Friedhöfe von Leipzig geführt (1861, S. 461) und sie (1868, S. 396) die Kölner Frauenwelt am Wasser belauschen lassen, und ebenso ließ sie ihnen die Johannisfeuer in Partenkirchen (1867, S. 168) und (1868, S. 381) das Sonnenwendfeuer auf dem Wendelstein leuchten. Wir begegnen daher auf unserer heutigen Abbildung, den Kinderfestzug und -Tanz ausgenommen, nur Bekanntem, wenden ihm aber dennoch noch einmal unsere Theilnahme zu.

Auch unser Bild öffnet uns zuerst die Friedhofspforte. Es giebt wohl wenige Menschen, die heute gar keines Grabes zu gedenken haben, ob in der Nähe oder in der Ferne. Aber auch Diejenigen, welche keinen Kranz tragen, fühlen sich in gehobener Stimmung vor den tausend Zeichen der Trauer und der Liebe bei dem Anschauen der Feier, die der Ehre der Todten geweiht und den Herzen der Trauernden so heilig ist. – Ein solcher Morgen sollte auch dem kleinsten Friedhofe nicht fehlen! Eine gemeinsame Trauer für die Todten veredelt die Lebenden. Wer Empfänglichkeit für das Erhabenste in der Volksseele sucht, hier wäre es zu finden, – auch für die Kirche.

Dagegen wäre zu wünschen, daß Geistlichkeit und Beamtenthum die Kinder- und Volksfeste, zu denen unser Bild uns führt, weniger oder mit milderem, freierem Sinne in ihre Obhut genommen hätten. Wir sehen einen Schulfestzug und fröhlichen Kinderreigen. Die alten Kinderfeste, ob Gregorius-, Bischofsfeste oder sonst wie genannt, und ob sie am 12. Mai, Pfingsten oder zu Johanni begangen worden, die sonst eine große Verbreitung in deutschen Städten und Ortschaften hatten, hat man leider nicht überall mit gleicher Liebe gepflegt; sie sind vielfach ihrem geschichtlichen Ursprung entfremdet, ihres sinnigen, äußeren Schmuckes beraubt, von bunten, drolligen Festaufzügen zu einfachen Spaziergängen zusammengeschrumpft oder ganz eingegangen. Und hat man überall den Kindern Besseres dafür geboten? Es wäre der Mühe werth, darnach zu forschen.

Noch strenger verfuhr man allenthalben gegen manche Volksfeste, und ganz besonders hatten die Johannisfeste schon frühe unter den Verboten der hochmögenden Herren zu leiden. Wie das Urtheil gründlicher Volkskenner und wahrer Volksfreunde über solche Verbote und Beschränkungen lautet, mögen drei Stimmen hier aussprechen.

G. Brückner, der Thüringer Volkskundige, sagt: „Unsere Volksfeste sind wichtige Pulse des Lebens, die ebenso sehr dem Aberglauben als der geselligen Heiterkeit oder dem Mitleid, ebenso sehr dem bänglichen, dunklen als dem lichten, heitern Gefühle erneuernde Kraft geben.“

Der Freiherr von Reinsberg-Düringsfeld erkennt (in Meyer’s Conversations-Lexicon) als eine Ursache des Niederganges so vieler Volksfeste „zum Theil den mißverstandenen Eifer der Geistlichkeit und Polizei, Volksbelustigungen zu verbieten, weil sie hin und wieder zu Ausschreitungen führen, ohne zu bedenken, daß gerade Volksfeste das fruchtreichste Beförderungsmittel der geselligen Tugenden und der sittlichen Bildung eines Volkes und ein mächtiger Hebel der Vaterlandsliebe sind.“

Und der alte Schmeller erkannte schon vor fünfzig Jahren namentlich in den Festen der Sonnenwende im Gebirg: „Harmlose Freude, zwar nicht eben durch die Religion des Landes, aber gewissermaßen durch die der Welt und ein unfürdenkliches Herkommen geheiligt, unverabredet und ungeboten, und darum alle engherzigen Verbote von heute und morgen überlebend. Manches Abergläubische, was mit vorkommt, ist wenigstens ebenso unschädlich als hundert andere Dinge, die der gemeine Mann zu glauben hat.“ – –

Wenn wir auf die großen Nationalfeste zurückblicken, während welcher man mit Stolz ausrufen konnte: „Gottlob, hier ist kein Pöbel!“ – und nun, nach kaum zwanzig Jahren, mit Schrecken die steigende Verrohung in nicht geringen Volkskreisen erblicken, so darf man wohl die Frage aufwerfen, ob an dieser traurigsten Erscheinung der Gegenwart nicht auch der Mangel an wahrhaft erhebenden Volksfesten – dem Uebermaß von Humanität gegen das Strolchenthum und von gemeinen Vergnügungsgelegenheiten gegenüber – einen Theil von Mitschuld trage.

Erhalten, ergänzen, veredeln wir unsere Volksfeste! Der Segen derselben wird nicht ausbleiben. Fr. Hfm.     


Kleiner Briefkasten.

Bruno Hielscher. Wer hat, ohne seine Namensangabe, nach diesem „Vermißten“ gefragt? Alle anonymen Einsendungen bleiben unberücksichtigt – wie sich von selbst verstehen sollte und wie nun schon so oft gesagt worden ist.

H. B. Wenden Sie sich gefälligst an die Redaction der „Industrie-Blätter“ in Berlin!

W. G. 100. Wiederholen Sie gütigst Ihre Frage unter Angabe Ihrer vollen Adresse!

E. C. Prosa-Einsendungen willkommen! Gedicht unbrauchbar!



Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das zweite Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere. Die Verlagshandlung. 



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Dem Artikel des Verfassers „Zum Jubelfest des schwarz-roth-goldnen Banners“ in der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1865, S. 506) ist eine Abbildung sowohl der Fahne wie des Schwertes beigegeben. Da viele unserer Abonnenten gegenwärtig nicht mehr im Besitz des erwähnten Jahrganges sein dürften, so geben wir die erwähnten, höchst interessanten Abbildungen auf Seite 413 wieder. D. Red.     

Anmerkungen (Wikisource)