Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[389]

No. 24.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Engelid.

Novelle von Balduin Möllhausen.
(Fortsetzung.)


„Doch was reden wir von solchen Dingen, anstatt uns des Wiedersehens zu erfreuen?“ nahm Engelid wieder das Wort. „Du bist heimgekehrt und hast die Bürde von meinem Gewissen genommen, können aber verlorene Jahre nicht zurückgerufen werden, so mögen wir doch Beide jetzt ohne peinliche Gedanken in die Zukunft schauen. Bleib’ unter des alten Olaf’s Dach, so lange es Dir gefällt! Er vererbte es ja auf mich unter der Bedingung, Dich ordentlich aufzunehmen und zu beherbergen. Willst Du aber von dannen, so sag’s, und ich bringe Dich in meinem eigenen Boot – und das ist ein flinker Segler – bis in den Lyster-Fjord hinein. Dort will ich Dir Dein Haus öffnen, will Dir Alles übergeben, was der alte Olaf meinen Händen für Dich anvertraute.“

„Das ist ein verständiges Wort, Engelid,“ versetzte Knut erleichterten Herzens, und zum Zeichen seiner Anerkennung reichte er dem Mädchen wiederum beide Hände; „habe ich, ohne es zu wollen, Dir weh gethan oder an Dir gesündigt, so mag’s zwischen uns begraben sein! Denn ein Mann von meinen Erfahrungen, dessen Leben durch Mancherlei verbittert wurde, der so lange in der Fremde unter Fremden lebte, der muß sogar in der Heimath, wo so Vieles anders geworden, sich fremd fühlen. Bin eben ein mürrischer Kerl geworden, Engelid; gute Freunde können wir indessen trotzdem immer noch bleiben, und da Du mich selber nach dem Lyster-Fjord segeln willst, nehme ich’s mit Dank an und sage: sobald wie möglich! Wirst Dir’s vorstellen, wie es mich treibt, endlich wieder einmal in meinem eigenen Heimwesen zu schlafen, unter dem Dache, unter welchem meine Eltern lebten und starben, nachdem sie mich kaum so weit gebracht hatten, daß ich mir mein Brod selber verdienen konnte.“

„Sobald wie möglich,“ wiederholte Engelid träumerisch, „wir können morgen aufbrechen. Einen sicheren Weg, auf welchem die schweren Meeresdünungen uns nicht finden, kennen wir Beide, und Orte, wo wir Abends anlaufen mögen, um zu rasten, ebenfalls. Wir mögen auch die Nächte zu Hülfe nehmen – die sind hell genug – und uns gegenseitig am Steuer ablösen.

Ohne eine Erwiderung abzuwarten, erhob sie sich, und in ihrer stillen, zuversichtlichen Weise begann sie am Herd die benutzten Gefäße zu säubern und auf den Tragbrettern zu ordnen. Zur besseren Beleuchtung hatte sie einen Kienspan angezündet und seitwärts von dem Drachenkopf befestigt, wogegen Knut mechanisch den Docht der Lampe etwas weiter hervorzog. Nielsen ließ unterdessen seine harten Finger unermüdlich auf der Langeleike herumtanzen. Nur einmal trat eine kurze Pause ein, als Engelid ihn aufforderte, mit den schwermüthigen Melodien ein Ende zu machen und dafür seine lustigsten Tänze aufzuspielen, wie es sich gezieme, wenn gute Freunde nach langer Trennung zum ersten Mal einander begegneten.

Und Nielsen leistete Folge. Schneller und schneller wurde der Tact, in welchem er die Saiten rührte, und tiefer neigte er sich über das Instrument in seinem Eifer, das Wiedersehen zu feiern. Doch weder Engelid noch Knut achteten auf ihn. Erstere beschäftigte sich mit ihren häuslichen Obliegenheiten, als befände sie sich allein in dem Gemach, Knut aber stützte den Kopf auf den Arm und beobachtete grübelnd die seiner Pfeife entwirbelnden Wölkchen. Allmählich kehrte er indessen seine Aufmerksamkeit Engelid wieder zu. Mit einer gewissen Theilnahme überwachte er, wie ihre kräftige Gestalt so sicher und doch so geräuschlos sich einher bewegte, ihre Hände Alles so leicht anfaßten, als wären sie aus dem der Feuerstelle entsteigenden Rauch gewebt. Eine gewisse Scheu bemächtigte sich seiner, so oft ihre Blicke kalt und theilnahmlos zu ihm hinüberglitten; er blickte dann immer in eine andere Richtung, um ihnen nicht zu begegnen. Unwillkürlich vergegenwärtigte er sich bei den lustigen Tanzmelodien die junge Engelid, wie er sie in jener verhängnißvollen Nacht an sich zog und ihr heimlich manch süßes Wort zuraunte. Er sah sie im Geiste seinem Flüstern lauschen; er sah das ungestüme Blut ihre Wangen dunkler färben, ihre großen unschuldigen blauen Augen funkeln und leuchten. Und weiter vergegenwärtigte er sich, wie ihm selbst das Blut damals so heiß durch die Adern wallte, daß er mit wilder Lust auf den blutigen Kampf einging. Ein wie ganz Anderer war er heute! Und sie, die Engelid! Er verglich das Mädchen von damals mit dem von heute. Schöner war Engelid noch geworden und gereifter, aber auch so viel ernster, so ernst, daß es ihn unheimlich anwehte und er die Nachtruhe herbeiwünschte, um das Mädchen nicht mehr vor sich zu sehen. Gern hätte er sie noch über Dieses oder Jenes aus den alten Zeiten befragt, allein auf Engelid’s Antlitz ruhte es, als ob ihr jedes fernere kleinste Wort zu viel gewesen wäre, die eigene Stimme wie jede fremde sie angewidert habe.

Als sie endlich das Bett mit frischen Linnen versah und die Decken ordnete, da wagte er nicht einmal, sich nach dem Zweck ihres Thuns zu erkundigen und vorzubeugen, daß sie ihr eigenes Lager an ihn abtrat, um selbst in einem anderen Winkel der Hütte ihr Unterkommen zu suchen.

Die Nacht war weit vorgeschritten, als Engelid Nielsen rieth, sein Spiel einzustellen und sich zur Ruhe zu begeben. Erst nachdem [390] derselbe auf einer Leiter mühsam den niedrigen Bodenraum erstiegen hatte, um dort sein Lager aufzusuchen, kehrte sie sich Knut noch einmal zu.

„Ich wünsche Dir eine gute Nacht,“ sprach sie mit warmer Herzlichkeit, und unbefangen reichte sie ihm die Hand, „mögest Du hier nicht schlechter schlafen, als im Lyster-Fjord an Deinem eigenen Herd!“

„Ich danke Dir,“ antwortete Knut, ihre Hand ein wenig länger haltend, „dann aber wünsche ich, daß morgen früh unser heutiges Gespräch Dir als ein Traum erscheine,“ und noch bevor Engelid etwas zu erwidern vermochte, fragte er, wo er die Nacht verbringen solle.

Sie wies auf das Bett.

„Mein Lager ist dort in der Kammer,“ erklärte sie, nach einem engen Nebenraum hinüberweisend, „hier hat Olaf sein Leben lang geschlafen, und sein Wille war es, daß bei Deiner Heimkehr Dir der Ehrenplatz im Hause eingeräumt werde. Du hast mir für nichts zu danken; ich erfülle nur meine Pflicht, und noch einmal: Gute Nacht!“

Sie kehrte sich ab und verschwand durch die Kammerthür, welche sie leise hinter sich schloß.

Auf dem Tisch brannte noch die Lampe, und bei ihrem Scheine wandelte Knut einige Male auf und ab. Wie ganz anders hatte er sich seinen ersten Besuch in der bekannten Schärenhütte vorgestellt! Der alte Olaf, der ihm die düsteren Grübeleien fortspielen und -singen sollte, war todt, und die er an seine Stelle setzte, war am wenigsten geeignet, ihm die Heimkehr in eine freudige umzuwandeln.

Es gab wohl eine Zeit, in welcher er für einen Blick aus ihren lachenden Augen wer weiß was hingegeben hätte – allein wo lagen jene Zeiten! Damals war sie ein lustiges Kind, er selbst ein leichtfertiger, sorgloser Bursche. Heute dagegen flößte sie ihm mit ihrem Ernst, mit ihrer stolzen Haltung und der zuversichtlichen Art ihrer Reden eine gewisse Scheu ein, während es in seinem eigenen Inneren aussah, wie in einem auf den heimathlichen Klippen gestrandeten Wrack.

Er wurde des Grübelns überdrüssig. Im Gefühl bitterer Unzufriedenheit mit sich selbst und derjenigen, die seinem Brüten so viel neue Nahrung bot, löschte er die Lampe aus und warf sich unentkleidet auf das Lager. Er wollte ihr nicht die Genugthuung gönnen, ihn sanft gebettet zu haben. Sie sollte am Morgen sehen, daß eine bequeme Stätte ihm nicht lieber gewesen, als der nackte Fußboden; sie sollte nicht wähnen, ihm eine Wohlthat erwiesen zu haben. Mit einem letzten Gedanken an sie schlief er ein, mit einem Gedanken, in welchem Mitleid, Scheu und Zorn sich einten. Aber sogar im Traume ließ sie ihm keine Ruhe. Vor sich sah er sie wieder als jugendliche Tänzerin, deren lachende Augen so glühend die seinigen suchten, daß es ihm fast die Vernunft raubte. Und alle Schrecken jener verhängnißvollen Nacht durchlebte er noch einmal; noch einmal empfand er die ganze Wärme, welche das frische, zutrauliche Kind in seiner Brust entzündete. Jedes einzelne Wort, welches er damals jubelnd zu ihr sprach, wiederholte er, und viele neue fügte er hinzu, gleichbedeutend mit Schwüren ewiger Liebe und Treue, bis sie endlich, wie von seinem heißen Athem versengt und vergiftet, dahin sank und in einen schwarzen Schatten zerfloß.

Doch aus dem Schatten tauchte sie wieder empor, um manches Jahr gealtert, gereift an Schönheit wie an Geist, und so kalt und streng, daß ihm vor ihr graute. Unheimlich war sie anzusehen, unheimlich wie ein Todtenbild, als sie vor ihm hinschwebte, in der einen Hand ein düster brennendes Lämpchen, die andere auf die Brust gelegt, wie er in fernen Landen an Madonnenbildern beobachtet hatte, in deren Herzen der Schwerter dreie steckten.

Er wollte sie anreden, sie fortweisen, allein seine Zunge war gelähmt; erstarrt waren seine Glieder. Sie aber sah auf ihn nieder, als hätte sie in ein offenes Grab geschaut, in welches ihr Liebstes oder sie selbst gebettet werden sollte. Thränen rannen über ihre Wangen; aus ihren großen Augen leuchtete es dann wieder wie Blitze, welche Sommers am fernen Abendhimmel zucken, jedoch nicht so bedrohlich, sondern mild wie das Nordlicht in langen Winternächten, bei dessen Schein er unzählige Mal seinen Schlitten über Eisflächen und festgefrorenen Schnee getrieben hatte.

Da neigte sie sich zu ihm nieder; ihre Lippen öffneten sich. Seine Brust schnürte sich zusammen – so angestrengt lauschte er.

„Ich hab’ auf Dich gewartet Jahr um Jahr,“ drang es wie ein Hauch zu seinen Ohren, „und nun, da Du gekommen bist, muß ich von Dir scheiden auf ewig.“

Sie küßte ihn; warm fühlte er ihre Lippen auf den seinigen. Er breitete die Arme nach ihr aus, ob sie nach sich zu ziehen oder sie von sich abzuwehren – er wußte es selbst nicht. Mit einer gewaltigen Anstrengung ermunterte er sich. Er schlug die Augen auf. Um ihn her war es dunkel. Nur auf dem Herd glimmten noch einige Kohlen geheimnißvoll. Einen Luftzug fühlte er über sich hinwehen, als wäre eine Thür geöffnet und wieder geschlossen worden, und ein eigenthümlicher Duft, wie wenn eine schwälende Lampe ausgelöscht worden, umschwebte ihn.

Befremdet spähte er um sich. Alles blieb still, wie in einem Grabe. Eine Weile starrte er in’s Dunkle, bevor er wieder einschlief. Der Bann aber schien gebrochen zu sein; für Träume war er nicht mehr zugänglich. –

Als Engelid ihn folgenden Morgens fragte, wie er geschlafen habe, und ihn dabei unbefangen ansah, als wäre ihr Gespräch mit ihm in der That nur ein Traum gewesen, da hätte er nicht um die Welt etwas von seinen nächtlichen Visionen verrathen.

„Besser und sanfter schlief ich, denn je zuvor in meinem Leben,“ antwortete er, „nur zu warm war’s mir auf den wollenen Decken. Ich hätte am liebsten auf dem nackten Fußboden gelegen.“

Da sah Engelid in eine andere Richtung, um zu verheimlichen, wie es um ihre Lippen zuckte, zu verheimlichen, daß sie seine Gedanken errieth. Mit freundlicher Ruhe meinte sie, daß er sich wohl gekräftigt genug fühlen möchte, die Reise nach dem Lyster-Fjord anzutreten.

Knut lachte geräuschvoll. Es sollte ein Ausbruch sorgloser Heiterkeit sein, und doch klang es so eigenthümlich herbe, sogar gehässig.

„Wer hörte je, daß ich der Kräftigung benöthigte?“ rief er aus, „je eher wir auf’s Wasser kommen, um so lieber ist’s mir. Seit der alte Olaf todt, hat dieses Schäreneiland keinen Zauber mehr für mich“ – er lachte wiederum, und dann sagte er in versöhnlicherem Tone zu dem vor dem Herde beschäftigten Mädchen:

„Du siehst, wie ich es in den langen Jahren verlernte, ordentlich schön zu thun.“

„Es wird Dir wieder geläufig werden in Deinem eigenen Hause,“ antwortete Engelid so gleichmüthig, daß es Knut schier verdroß, seine Absicht, sie zum Zorn zu bringen, von keinem Erfolg begleitet zu sehen. „Wird Dir aber das Haus zu enge, was hindert Dich, hinauszuziehen in die Welt und gänzlich zu vergessen, daß Du ein Norweger?“

„Dazu gehört nicht viel mehr als ein guter Wille,“ erwiderte Knut leidenschaftlich, lenkte indessen sogleich begütigend ein, „und Brod wird überall gebacken, wenn’s mir im Lyster-Fjord nicht schmecken sollte.“

Darauf gingen sie an die Arbeit, sich zur Fahrt zu rüsten, wobei Nielsen mit seinen Riesenarmen ihnen kräftig Beistand leistete. Als sie den Mast aufrichteten und das Segel der frischen Morgenbrise preisgaben, da rief Engelid dem alten Spieler scheidend zu:

„Bleibe ich eine Woche länger fort, so sorge nicht um mich! Hab’ Mancherlei zu thun da unten. Auch will ich mir die bekannten Berge wieder einmal betrachten. Ich meine, sie müßten über einander stürzen, weil ich sie so lange nicht besuchte.“

Nielsen neigte billigend das Haupt und ließ sich auf einem Felsblock nieder. Die beiden Robben gesellten sich zu ihm. Gleich ihm starrten sie auf das Kielwasser, welches sich hinter dem enteilenden Boote als glatter Streifen auf dem gekräuselten Wasserspiegel abzeichnete.

Die Sonne war bereits eine kurze Strecke über die östlichen, gletschergekrönten Gebirgszüge hinabgestiegen. Golden strahlte sie vom blauen Himmel nieder, wie um den beiden einsamen Reisenden ein gutes Zeichen zu gewähren. Diese saßen im Hintertheil des Bootes Seite an Seite. Sie sprachen zu einander wie zwei Menschen, die sich Einer in des Anderen Gesellschaft nicht behaglich fühlen und es doch verheimlichen möchten.




[391]
3.

Der Lyster-Fjord, ein Nebenarm des gewaltigen Sogne-Fjords, welcher tief und in vielen Krümmungen in das gigantische norwegische Plateau einschneidet, erscheint wie eine Spalte, welche sich durch die Erdrinde hindurchsenkt. Mehrere tausend Fuß hoch thürmen die senkrechten Felsenmauern sich oberhalb des Wasserspiegels über einander, den Eindruck erzeugend, als ob ihre Grundpfeiler meilentief unter den stillen Fluthen verborgen lägen. Dunkle Tannen, untermischt mit lichtgrünen Zwergbirken, streben aus den Felsenritzen empor und verleihen dem düster gefärbten Gestein einen melancholischen Schmuck.

Der Eindruck des Unergründlichen der verhältnißmäßig schmalen Wasserstraße wird noch erhöht durch die wunderbar klaren Spiegelbilder der schroffen Uferwände, über welchen sich unten in der endlosen Tiefe des Wasserabgrundes dann wieder der Himmel zu wölben scheint. In einem Boot darüber hinfahrend möchte man wähnen, in einem Chaos wild zerklüfteter Gebirgsmassen frei in der Luft zu schweben. Zwischen den mächtig emporstrebenden Felsmauern erscheint die Wasserstraße um so enger, und der Schiffer hat das beklemmende Gefühl, als drohten die in schwindelnder Höhe sich einander zuneigenden gewaltigen Steinwände durch die erste Erschütterung das Gleichgewicht zu verlieren.

Wo aber Seitenspalten sich öffnen, da lugen in ewigen Schnee und Eis gekleidete Berggipfel in den versteckten Winkel herein. Hoch oben glänzender Sonnenschein, der die bläulichen Felszinnen vergoldet und barocke Lichtbilder auf den in seinem Bereich befindlichen Wänden zeichnet; unten dagegen kühler, zu einer Art Zwielicht hinneigender Schatten!

Eine eigene, starre und doch erhabene, sogar beängstigende Welt! Starr und doch nicht leblos! Denn von oben, von den über dreitausend Fuß hohen Plateaurändern kommt es beweglich herunter, bald wie Silberfäden, die im Niedersinken zu Sturzbächen anwachsen, bald wie zarte, durch den Luftzug hin und her gewehte Seidengespinnste, zu welchen das Wasser im freien Sturz zerstäubt, um sich demnächst auf Vorsprüngen wieder zu sammeln und als tosender Bach seinen Weg abwärts fortzusetzen.

So trägt Alles in dem Lyster-Fjord den Charakter des Bizarren, Wilden, Majestätischen und Bedrohlichen. Und doch leben Menschen dort – hier auf schmalem Uferrande in langgestreckten Dörfern, deren Häuser, sinnig gestützt, häufig über den Rand der sie tragenden Felsen hinaus ragen, dort in vereinzelten Hütten und kleinen Gehöften, je nachdem Abflachungen es ermöglichen, dem ängstlich gehüteten, oft mühsam herbeigeschafften feuchten Erdreiche einigen Ertrag zu entwinden.

In einem dieser abgelegenen steinernen Häuschen, welches seit einer Reihe von Jahren verschlossen und vereinsamt geblieben, regte sich an einem frischen Sommermorgen plötzlich wieder Leben. Fensterladen und Fenster standen offen, ebenso die Hausthür, und über das feste Dach hinaus entstieg sogar eine schmale Rauchsäule dem kleinen Schornsteine.

In dem nahen Dorfe hatte sich unterdessen die Kunde verbreitet, daß Knut Knutsen endlich wieder eingetroffen sei, und zwar in Begleitung der schönen Engelid, die noch in Aller guter Erinnerung lebte. Man hatte sie in der Frühe bemerkt, als sie vorüberruderten. Wer es noch bezweifelte, der brauchte nur auf einen der zahlreichen Ufervorsprünge zu treten, um sich zu überzeugen, daß Knut’s Haus belebt war und vor demselben ein Segelboot mit umgelegtem Maste angekettet lag. Hinzuzugehen und sich nach den näheren Umständen zu erkundigen, mochte indessen Keiner für angemessen halten. Aber in Vermuthungen und mancherlei Bemerkungen erging man sich, die indessen alle mit einander mehr oder minder für eine freundliche Theilnahme zeugten, welche man den fast verschollenen und jetzt so plötzlich und geheimnißvoll erschienenen beiden Kindern des Lyster-Fjords zollte.

Die Einen meinten, es sei ein Jammer, daß Knut in dem Wahne, Jemand getödtet zu haben, entflohen sei, statt als ordentlicher und geachteter Nachbar auf seiner Scholle zu sitzen. Andere entschieden sich dafür, daß Engelid seine Frau und es daher klar sei, weshalb sie den reichen Müller im Lärdal verschmähte; wogegen wieder Andere zweifelnd äußerten, daß unter solchen Verhältnissen Knut, von seiner Frau selbstverständlich über Alles unterrichtet, mit seiner Heimkehr schwerlich bis jetzt gesäumt haben würde. Wunderbar erschien es freilich Allen, daß Beide zugleich eingetroffen waren, also dennoch irgend welche Beziehungen zwischen ihnen walten mußten.

Knut war bald nach Tagesanbruch mit Engelid gelandet. Schweigend hatten sie das Haus betreten. Dort begab Engelid sich in den mit einem schmalen Vorflure vereinigten Küchenraum, um von den mitgebrachten Vorräthen ein Mahl zu bereiten, Knut aber hatte sich im Wohnzimmer vor den alten zeitgebräunten Tisch gesetzt und war in Gedanken an die Vergangenheit versunken.

Tiefe Wehmuth erfüllte ihn, aber freundlich berührte es ihn zugleich, sein Eigenthum so viel anders, so viel besser erhalten gefunden zu haben, als er ursprünglich erwartet hatte. Ueberall verrieth sich eine gewisse Ordnung und Sauberkeit, was ihn nach des Schiffers Olsen Mittheilungen zwar kaum noch befremdete. Daß aber streng duftende getrocknete Kräuter in Fülle über die wollene Bettdecke gestreut worden, zerschnittene Binsen, wenn auch gebleicht und zusammengeschrumpft, den Fußboden bedeckten, als hätte es dem Empfange eines freudig erwarteten Gastes gegolten, das war mehr, als er der Ueberlegung des von dem verstorbenen Olaf gelegentlich entsendeten Burschen zugetraut hätte. Im Stillen dankte er dem Todten herzlich, an Engelid aber und daran, daß sie nach dem Tode des alten Olaf in dessen Sinne weiter waltete, dachte er natürlich nicht.

Wohl eine halbe Stunde hatte er gedankenvoll dagesessen; Engelid schien mit Bedacht zu säumen, um ihn in seinen Grübeleien nicht zu stören, und als sie endlich den Tisch deckte und die Speisen auftrug, da verkehrten die Zwei einsilbig wie bisher mit einander. Erst nachdem das Mädchen die alte Ordnung wieder hergestellt, begann sie in geschäftsmäßigem Tone:

„Knut, Du fragst nicht nach Diesem oder Jenem, als sei Dir Alles einerlei; da muß ich selber den Anfang damit machen. Liegt Dir nichts daran, so hebt’s doch die letzte Verantwortlichkeit für Dein Eigenthum von meinen Schultern. Ich will nämlich hören, ob Du mit der Sorgfalt des alten Olaf und mit der meinigen zufrieden bist. Wir richteten Alles ein, wie’s bei der großen Entfernung nur möglich gewesen. Ist Manches nicht so, wie Du’s erwartetest –“

„Ueber Erwarten gut finde ich Alles erhalten,“ fiel Knut mit einiger Lebhaftigkeit ein. „Lägen hier Staub und Spinngeweben schuhhoch, es hätte mich nicht erstaunt. Im Gegentheil, es wundert mich, daß ich meinen Weg hereinkam, ohne über Schutt und Trümmer zu stolpern.“

„Nun, Knut, da der Olaf sich für verpflichtet hielt, mich von Zeit zu Zeit hierher zu senden – ihm selbst waren ja die Kräfte ausgegangen – so meinte ich, es dürfte nach seinem Tode keine Aenderung eintreten –“

„Selber bist Du hier gewesen?“ rief Knut wie seinen Ohren nicht trauend, „hörte ich doch von dem Schiffer Olsen, der Olaf habe einen Burschen geschickt.“

Engelid erröthete und wandte den Blick ab.

„Da es nun einmal heraus ist,“ sagte sie dann mit erzwungenem Gleichmuth, „so brauch’ ich mich dessen nicht zu schämen; hätt’s freilich lieber verschwiegen. Ja, ich selber war hier. Ich wollte den Leuten keine Gelegenheit zur Nachrede geben, und da legte ich Männerkleider an. Des Abends kam ich in dem Boot hier an, und mit Tagesanbruch begab ich mich auf den Rückweg, sodaß Niemand mich ansprach oder gar erkannte. Das war mir Zeit genug, um in Deinem Hause zum Rechten zu sehen, auszukehren und das Wollenzeug mit gutem frischem Kraut gegen den Mottenfraß zu schützen. Zwei Hände arbeiten viel, wenn sie’s ordentlich meinen; Binsen und Kraut, auch harzige Tannenzweiglein sammelte ich auf dem Wege hierher, wenn ich an einer zugänglichen Stelle vorübersegelte; denn so trug mir der Olaf auf. Er hatte Dir versprochen, sich um Dein Eigenthum zu kümmern, und dasselbe versprach ich ihm. Das ist Alles, und nichts giebt’s zum Erstaunen. Gern hätten wir Deine Felder bestellt oder verpachtet, aber dazu fehlten uns Kräfte und Gelegenheit.“

„Laß die Felder aus dem Spiel, Engelid! Sind’s doch nur dürftige, winzige Fleckchen. Die haben sich jetzt ausgeruht und tragen um so reichlicher. Wer weiß, ob ich sie selber noch einmal bestelle, ob ich mein Heimwesen nicht verkaufe. An jedem anderen Orte bin ich nicht fremder als hier.“

„Das ist lediglich Deine Sache,“ erklärte Engelid eintönig; „hier handelt es sich nur noch darum, daß ich Dir Dein Eigenthum übergebe und recht viel Glück für die Zukunft wünsche. [392] Der Hausschlüssel steckt in der Thür, und dies ist der zu der Truhe“ – sie zog einen seltsam geschweiften Schlüssel hervor und erhob sich – „nun komm – in zwei Minuten ist Alles abgethan; dann will ich Dich nicht weiter stören.“

Gemeinsam mit Knut schritt sie nach einer mit eisernen Schnörkeln beschlagenen, blau und roth angestrichenen großen Kiste hinüber. Leicht öffnete sich das Schloß unter ihren Händen. Etwas mehr Mühe verursachte es ihr, den gewölbten schweren Deckel zurückzuschlagen. Als sie sich Knut wieder zukehrte, entging ihr nicht, daß derselbe sie mit einer gewissen ehrerbietigen Scheu betrachtete, und in dem Gefühle, daß ihr das Blut ungestümer in die Wangen stieg, neigte sie sich, befangen, über die offene Truhe hin. Ein Weilchen tastete sie unter Wäsche und Kleidungsstücken – Alles war mit duftendem Kraut durchschossen – umher; dann reichte sie Knut einen straff verschnürten ledernen Beutel.

„Hier ist Dein Geld,“ sagte sie, „es sollen über zwölfhundert Kronen sein – ich zählte sie nicht, aber der Olaf nannte diese Summe. Ein Zettel liegt dabei; darauf steht geschrieben, wie das Geld einkam, was der Verkauf der Ziegen und der Kuh, was jedes Huhn brachte, was er an alten Forderungen einzog und um welchen Preis er Dein Boot verkaufte. Willst Du das Geld jetzt zählen, ist mir’s recht. Thust Du’s lieber, wenn ich gegangen bin, ist mir’s ein Beweis für Dein Vertrauen.“

„Ich brauch’s überhaupt nicht zu zählen. Höchstens die Summen, die ich davon ausgebe,“ sagte Knut und warf den Beutel nachlässig auf den Tisch.

„Auf alle Fälle reicht’s aus, um Dich wieder mit Allem zu versehen, was zu einem ordentlichen Hausstande gehört,“ bemerkte Engelid wie beiläufig, „von Deinen anderen Sachen kann nichts fehlen. So oft ich hier war, streute ich beim Hinausgehen aus dem Hause Sand auf den Flur, und nie entdeckte ich bei meiner Wiederkehr eine menschliche Fußspur. Weißt ja, Knut, es liegt nicht in der Natur der Norweger, sich um anderer Leute Eigenthum zu kümmern oder gar die Hand darnach auszustrecken. Die lose eingeklinkte Thür wird geachtet, wie zehn Schlösser und Riegel, die sie halten. Solltest Du sonst noch Auskunft über etwas wünschen, so schreib es auf, damit Du es nicht vergißt! Ich gehe jetzt in’s Dorf, um alte Bekannte zu begrüßen. Dann segle ich in meinem Boot von dannen, kehre aber, bevor ich die Reise nach der Schärenhütte antrete, noch einmal zurück. Ist Dir bis dahin Dieses oder Jenes eingefallen, so magst Du mich fragen, so viel Du willst.“

(Fortsetzung folgt.)




Der erste Pürschgang.

Von O. von Riesenthal.

Der Nordwest brauste von der See her über die Dünen, als wollte er jegliches Leben vom Strande wegfegen; er hatte offenbar seinen Aerger an drei Gestalten, welche im Küstensande dahinschritten und dem Sturme trotzten; er warf ihnen von Zeit zu Zeit einen so eindringlichen Sprühregen nach und die sich an den Dünen brechenden Wogen unterstützten seine Bosheit mit solchen Ladungen feuchten Dunstes, daß selbst die philosophische Anschauung unserer Wanderer: kein Regen dringe tiefer ein als bis auf die Haut, hinfällig zu werden schien; denn sie bogen in den einigermaßen schützenden Wald ein, und wenn dieser auch nicht der „schöne Wald“ sein mochte, „aufgebaut so hoch da droben“, sondern vielmehr ein recht ärmlicher, durch den Kampf mit den Elementargeistern arg heimgesuchter und verschobener Kiefernwald war, so gewährte er doch immerhin anerkennenswerthen Schutz; die drei Gestalten athmeten sichtlich auf und nahmen ein behaglicheres Tempo an.

Es waren zwei junge Waidmänner in dem köstlichen Alter, welches die Sorgen noch kaum kennt, und ein alter verwitterter Hund, der aber so selbstbewußt zwischen ihnen einherschritt, als zweifelte er keinen Augenblick an seiner Ebenbürtigkeit mit den neben ihm Gehenden.

„Wohin wollen wir eigentlich?“ fragte der Eine, indem er stehen blieb, „der Abend bricht herein, und wir haben drei Stunden nach Hause.“

„Nach der Pürschhütte!“ bedeutete der Andere, „wir trocknen uns dort und bleiben daselbst über Nacht. Ich wenigstens danke bestens, bei solchem Hundewetter in stockfinsterer Octobernacht ohne Noth durch den Wald zu tappen, wenn ich ein anderes Obdach haben kann; wir können dann morgen früh gleich weiter unser Heil auf den capitalen Vierzehner, den gewaltigen Burschen drüben im Rohrbruch, versuchen.“

So ging es denn rasch vorwärts, der Pürschhütte zu. Ordentlich melodisch kreischte nach einer Weile der Schlüssel im verrosteten Schloß, und war es auch nur Kiengeruch, der die Eintretenden empfing – er duftete ihnen sicher köstlicher als Ambra; denn er verhieß ihnen ein sicheres, schützendes Obdach gegen die Tücken des draußen tobenden Boreas.

Die Pürschhütte war ausschließlich für das Forst- und Jagdpersonal des sehr ausgedehnten Reviers erbaut und bot die Bequemlichkeiten, welche dem Jünger Sylvan’s und Dianens nach rechtschaffenem Tagewerk genügen: ein Lager auf weichem, trockenem Moos, einen Herd, einige Decken, Pantoffeln, die nothwendigen Vorräthe an Kien, Holz, Speck, Rum, Zucker, die nöthigen Gläser, Kasserole, Teller, und was sonst dazu gehört, das irdische Jammerthal erträglich zu machen.

Lustig flackerte das Feuer; die alte Wetterfahne auf dem Dach kreischte förmlich vor Vergnügen über die unterbrochene Einsamkeit, und der alte Hund saß halb träumend da, behaglich die Nase dem Feuer entgegenstreckend, oder dem Duft des bratenden Specks – wußte er doch, daß ihm sein Antheil davon sicher war. Er war ein ausgezeichneter Schweißhund, der alte Söllmann, weit und breit in Ehren genannt und bekannt; er hätte auf einer Hunde-Ausstellung zwar wohl schwerlich den ersten Preis errungen; denn es fehlten ihm verschiedene Schönheitspoints, aber was zu leisten war, das leistete er; freilich wußte er das auch und ließ sich kein Titelchen von seinem Rechte nehmen; er hatte seinen herkömmlichen Platz am Feuer; die Decke, die dort am Nagel hing, gehörte ihm, und da verschiedene deutliche Blicke auf dieselbe und einige Drehungen im Kreise mit verdrießlichem Knurren nicht zum Ziele führten, so schritt er gravitätisch zu seinem Herrn und stieß ihn mit der Nase an.

„Was will der Alte?“ fragte dessen Begleiter.

„Ach, ich weiß schon,“ erwiderte dieser, „na, Alter, sei gut; ich dachte nicht gleich daran,“ begütigte er das Thier und breitete ihm die Decke an seinem Platze aus, auf welche sich der alte Hund befriedigt und tief aufathmend streckte.

Das einfache Mahl war verzehrt, und ein heißer Grog dampfte im Verein mit dem nicotianischen Kraut.

„Was musterst Du da an Deiner Büchsflinte?“ unterbrach der Eine das Schweigen, „sie ist ja nachgerade genug abgewischt, und knüpfen sich besondere Ereignisse an sie, so schieß’ los! Wir haben Zeit und Muße genug zu einer kleinen Geschichte, und waltet der Humor in ihr, dann desto besser, aber lüge nicht allzusehr!“

„Was mich jetzt in der Erinnerung beschäftigt, will ich Dir gern erzählen; an Münchhausen wird es Dich schwerlich erinnern, und den Humor magst Du selbst herausfinden! Also aufgepaßt! Diese Büchsflinte ist das erste Kugelgewehr, welches ich in die Hand bekam; mit ihr machte ich meinen ersten Pürschgang auf Hochwild, und der erste Schuß auf dasselbe ist es, weicher sich mir unvergeßlich eingeprägt hat. Du kannst Dir denken, wie das ausgezeichnet schöne Gewehr mich zu einem Schuß auf Wild reizte, nachdem ich mich auf der Scheibe genügend von seiner Vorzüglichkeit wie von meiner eigenen Geschicklichkeit überzeugt hatte; aber die Gelegenheit wollte und wollte nicht kommen, bis ich endlich die Erlaubniß erhielt, in dem Gräflich X’schen Thiergarten einen Hirsch oder Spießer zu schießen, der gerade gebraucht wurde; ich sollte mich beim Parkförster melden, um dessen Anweisungen nachzukommen.“

„Ein mäßiges Vergnügen solcher Pürschgang auf Parkwild, besonders in so kleinem Thiergarten! Das Wild ist in solchem zu vertraut.“

„Ganz richtig! Heute gehe ich auch nicht mehr nach solcher Beute aus, aber wie gesagt, der Jagdteufel hatte mich damals am Ohr, und ich suchte eiligst die Bekanntschaft des Parkförsters, um ihm mein Glück zu verkünden. Er hörte mich mit säuerlicher

[393]

Der Parkförster.
Originalzeichnung von O. Vollrath.

Miene an; ja es lag offenbar etwas Geringschätzendes in ihr, was mich hätte verletzen können, wenn mir eben nicht daran gelegen gewesen wäre, ihm die gute Laune thunlichst zu erhalten.

,So so, na, sehen Sie ’mal, also ein Stück Wild wollen Sie hier im Parke schießen?!‘ sagte der Parkförster, ,na ja – es ist ein geringer Hirsch oder Spießer abzuschießen; den können Sie genießen, ein paar Tage aber müssen Sie sich noch gedulden; denn jetzt gleich wird er nicht gebraucht und bei dem warmen Wetter kann er nicht aufbewahrt werden; ich werde Ihnen Ordre schicken; rüsten und stärken Sie sich inzwischen zu diesem Jagdzuge!‘ Sprach’s und verschwand.

Bald kam die Ordre, und ich stürmte hinaus; der Förster, hieß es, sei draußen im Parke; ich möchte ihm nur nachkommen, würde ihn schon finden. Ich weiß nicht, was mich wiederholt so verdroß; der Alte machte ja überhaupt, wie allgemein bekannt, wenig Umstände, aber diese Behandlung war mir denn doch über den Spaß, und übrigens, dachte ich, was geht mich der alte Sauertopf an? Ich habe die Erlaubniß von seiner Herrschaft, [394] nicht von ihm; was habe ich ihm nachzulaufen?! – sowie ich an Wild herankomme, schieße ich; er wird mich dann leichter finden, als ich ihn in diesem Buschwerke.

Ich pürschte also gleich quer durch und spähte umher, traf auch hier und da einige Stück Wild, aber keinen geringen Hirsch oder Spießer, doch endlich, dicht am Zaune – was steht da? – das muß ja ein Spießer sein; ich sah deutlich vor dem Gehörne die Kolben – er stand mir schräg von hinten und, wie es mir schien, neben einem Baumstumpf, mit dem er sich beschäftigte und den ich durch das Buschwerk nicht näher erkennen konnte. Soll ich? ‚Thue es nicht,‘ sagte zwar in mir eine Stimme – indessen, Zeit war nicht zu verlieren; mir fing das Herz an unruhig zu schlagen – ich zielte kurz und machte Dampf.

Freund – mir war, als erstarrte ich zur Bildsäule, kaum hat es geknallt, so nimmt mein Spießer einen tollen Satz, ich sehe noch ein anderes Stück Wild – ein Hund stimmt ein fürchterliches Wuthgeheul an, und an Stelle des Baumstumpfes sehe ich zwei kolossale Stiefel sich in die Luft strecken. Doch bald änderte sich die Scene; die Stiefel faßten Boden, und eine breite Gestalt, den Hund am Riemen, stürmte mit geballter Faust auf mich ein. Ich stand blaß und wortlos vor Schreck da – der Parkförster – denn das war der Heranstürmende – fuhr mich, kirschroth und sprachlos vor Wuth, heftig an:

‚Herr, Sie soll ja gleich ein Himmeldonnerwetter neun und neunzig Mal holen – was haben Sie hier auf mich zu schießen? Konnten Sie mich nicht sehen?‘

‚Nein!‘ erwiderte ich mit tonloser Stimme; ‚ich habe den Spießer deutlich erkannt, aber Sie für einen Baumstumpf gehalten, wie kann ich denken, daß Wild so vertraut neben dem Jäger steht? Nehmen Sie es nicht übel – es ist ja nach gut abgelaufen.‘

Der gutmüthig angelegte Alte ließ sich durch meine Leidensgestalt besänftigen, und ich hörte nun, daß das Wild, durch den Schuß erschreckt, ihn angerannt und der am Riemen heftig reißende Hund ihn zu Falle gebracht hatte; wir gingen an die Unglücksstätte zurück, wo wir die dicht über den Kopf des Spießers hinweg gesauste Kugel in der Planke fanden und der Alte sich überzeugte, daß nach Lage der Sache meine Unvorsichtigkeit, wenn auch nicht zu entschuldigen, so doch in Berücksichtigung meiner Jugend milder zu beurtheilen war.

‚Aber, wenn es erlaubt ist zu fragen, was that das Wild bei Ihnen, oder umgekehrt?‘

‚Na, ich fütterte es aus meiner Tasche, habe immer einige kleine Leckerbissen für meine bevorzugten Günstlinge bei mir, die ich dadurch ganz besonders vertraut mache; – armer Kaspar und meine Lise – die krieg’ ich für’s erste gar nicht wieder heran; sie werden noch lange diesen Schreck im Kopfe behalten.‘

Wir schritten weiter und fanden bald das gesuchte Wild; auch dieses kannte den Alten sehr gut und hatte Lust heranzukommen, machte wenigstens keine Anstalten zur Flucht.

‚Den Spießer da hinten können Sie schießen,‘ bedeutete mich der Alte.

‚Ich danke bestens für solche Jagd!‘

‚Warum denn?‘ fragte er überrascht.

‚Ebenso gut können Sie mir anbieten, einen Hammel aus irgend welcher Heerde zu schießen – ich finde kein Vergnügen daran!‘

Der Alte sah mich plötzlich mit anderen Augen an.

‚So, so,‘ meinte er; ‚in Ihnen steckt mehr Jägerblut, als ich glaubte; nun, ich werde Ihnen zu einem anderen Schusse verhelfen, aber, junger Herr, die Hand darauf: niemals auf etwas schießen, was man mitsammt seiner nächsten Umgebung nicht genau erkannt hat – es konnte anders kommen.‘

Ich hielt Wort und er auch.

Meine Frage, ob er das Wild abschösse, verneinte er kurz; nur im Nothfalle thäte er es; sonst hätte er immer Liebhaber dafür aus der nahen Residenz an der Hand, die dann mit einer Jagdausrüstung anrückten, als gälte es einem Bär; auch Damen betheiligten sich mitunter daran und suchten eine Ehre darin, in der Zeitung als schneidige Jägerinnen gefeiert und mit ‚Waidmannsheil‘ bedacht zu werden. So, Freund, das ist die Geschichte von meinem Pürschgang auf Hochwild. Du hast sie gehört – und nun gute Nacht, mein Junge!“

Die beiden müden Jägersleute in der Pürschhütte, die sich auf der weichen Pritsche in ihre Decken gehüllt hatten, wechselten nicht mehr viele Worte. Das Feuer auf dem Herde sank nieder; der alte Söllmann schnarchte, lang ausgestreckt, auf seinem Lager, und bald wurde es still in der Hütte – draußen aber brauste der Wind, schlug der Regen gegen die Scheiben und kreischte die alte Wetterfahne.




Recht und Liebe.
Novelle von Levin Schücking.
(Schluß.)

„Im Stande Dortenbach zu kaufen?“ fragte Benning zurück. „Nun ja, Fräulein Horstmar! Aber Sie müssen nicht denken, daß ich das Vermögen hätte, es für mich zu kaufen – das gewiß nicht; ein armer abhängiger Mann, wie ich, ist nicht so reich. Ist ein ganz leidlicher Posten, den ich hier seit sechsundzwanzig Jahren verwalte, aber mit Frau und Kindern muß man zufrieden sein, wenn man ehrlich durchkommt; vom Zurücklegen ist da keine Rede, und nun gar, um Dortenbach kaufen zu können – –! Wohin denken Sie, Fräulein! Nein, es ist nur das, daß ich es besser kenne als jeder Andere, daß ich besser weiß, was es werth und was daraus, wenn man es richtig anfängt, im Einzelnen zu lösen ist. Und weil ich das weiß, kann ich auch eine hübschere Summe dafür bieten als jeder Andere, als jeder Speculant und Güterschlächter in der Welt.“

„Also Sie denken, ich werde Dortenbach, sobald es – was noch recht lange nicht eintreten möge! – mein geworden, Ihnen verkaufen, damit Sie es in Stücke, in kleine Stücke und Fetzen zerschlagen?“

„Ich würde Ihnen dazu rathen, Fräulein, entschieden dazu rathen; denn sehen Sie: wenn Sie warten wollten, bis eine Herrschaft kommt, welche Dortenbach ankauft, um es zu bewohnen oder zu besitzen oder aus der Verpachtung des Ganzen eine Rente zu beziehen, so müßten Sie eben lange warten, und hätte sich solch ein Liebhaber endlich eingefunden, so würde er Ihnen ganz sicherlich hunderttausend Mark weniger bieten müssen, als ich es bei einer Parcellirung könnte. Auch beim besten Willen müßte er es, wenn er anders auch nur ganz nothdürftig zu seinen Zinsen kommen wollte … Freilich, ich kann mir’s denken, die Herren Klingholt werden es Ihnen wohl schon anders vorgestellt haben – ich kann es ihnen auch nicht übel nehmen; denn jeder redet eben nach seinem Profit und seinem Interesse und in seine Tasche hinein –“

Regine fiel ihm hoch aufhorchend in’s Wort:

„Was sollen mir die Klingholt vorgestellt haben? Was soll ihr Interesse sein?“

„Ihr Interesse?“ versetzte Benning. „Nun, das ist doch klar: wenn das Gut an eine Herrschaft verkauft wird, welche es zusammen hält, so behält der alte Klingholt seinen guten, einträglichen Försterposten mit dem hübschen Gehalt und den Procenten von den Holzverkäufen, so bleibt er in dem warmen Nest, das ihm ja schon von seines Vaters und Großvaters Zeiten her wie angeerbt und das nach ihm seinem jüngsten Sohne so gut wie sicher ist. Wird das Gut aber parcellirt, werden die Wälder abgeholzt und die Gründe dann versteigert – du liebe Zeit – dann brauchen wir keinen Förster mehr zu füttern, und der Alte muß sehen, wo er einen andern Posten bekommt, wenn er bei seinen Jahren überhaupt nach einen bekommt!“

„So, so!“ sagte Regine sinnend, „das wäre sein Interesse bei der Sache –“

„Sein offenbares Interesse,“ fiel Benning ein, „und Sie, Fräulein, Sie werden jetzt wissen, was es auf sich hat, wenn diese Leute aus Leibeskräften gegen mich reden und Ihnen zumuthen sollten, sich Ihr Erbe um hundert-, ja um hundertfünfzigtausend Mark verkürzen zu lassen, indem Sie ihnen folgen.“

Regine nickte nachdenklich mit dem Kopfe. Sie war eine sehr kluge Dame, das Fräulein, und praktische Dinge begriff sie. [395] Benning sagte sich triumphirend, daß dies ein merkwürdig guter Tag für ihn sei, daß ihm solch ein Fräulein, um einen Handel mit ihr abzuschließen, weit lieber sei, als die adligen, hochmütigen, raubsüchtigen Tanten aus dem Schlosse droben. Benning hatte das Eisen geschmiedet, so lange es heiß war, und ließ mit zufriedenem Lächeln sein Auge hin- und hergehen zwischen dem Fräulein und seinen Pferden.

Regine erhob sich. Benning sprang herbei, um sie zum Wagen zurückzuführen, und während sie sich auf ihn stützte, sagte sie:

„Wenn Sie aber ganz Dortenbach ‚einschlachten‘,wie man’s ja wohl nennt, was beginnen Sie dann mit dem großen schönen Hause, dem ‚Schloß‘?“

„Das,“ meinte Benning, „taugte dann freilich nur noch zu Fabrikgebäuden. Welcher Art, das müßte man abwarten. Hab’ schon an eine Torfstreufabrik gedacht; Moore haben wir ja, nicht eine halbe Stunde entfernt, und die Torfstreu hat eine große, sehr große Zukunft, Fräulein.“

Regine nickte wieder mit dem Kopfe.

„Recht so!“ sagte sie um einem eigenthümlichen, bitteren Lächeln, „machen wir eine Torfstreufabrik daraus! Sie haben Ideen, Benning; in der That, Sie haben einen einschlägigen Kopf. Und nun fahren Sie weiter!“

Sie hatte den Wagen erreicht und sich von Benning hinein heben lassen. Der Schmerz am Fuß hatte sich ein wenig gemildert; genug, daß sie im Stande war, einer zusammenhängenden Gedankenreihe zu folgen. Und die Gedanken, welche auf sie einströmten, waren ganz der Art, um einen körperlichen Schmerz darüber zu vergessen. Wie eine zornige Demüthigung hatte sie es zunächst empfunden, daß dieser Mensch da vor ihr so als ganz selbstverständlich annahm, sie, wenn sie die Erbin von Dortenbach geworden, werde das Gut sofort verschachern. Sie, die bürgerlich geborene Person, dachte er, könne unmöglich einen schönen, vornehmen Besitz würdigen, sie werde nichts Eiligeres zu thun haben, als diese prächtigen Wälder zu vernichten, diese ehrwürdigen Riesenstämme in die Sägemühle zu senden, aus den alten feudalen Thürmen Dampfschlöte zu machen. An der Stelle des Schloßgrabens, die ihrem Herzen so geweiht und heilig war, ein schmutziges Schlackenlager aufhäufen und das Ganze in schwarzen, abscheulichen Rauch und Qualm hüllen zu lassen – welch ein abscheulicher Gedanke!

Es war in der That empörend! Die Voraussetzung, daß ihre bürgerliche Art zu empfinden nichts anderes mit sich bringen könne, als die Absicht, Dortenbach zu verschachern, trieb ihr das Blut in die Schläfen. Aber nicht lange gab sie sich dieser Empörung hin. Aus dem, was Benning über die Klingholt gesagt, war es ihr wie ein Lichtblitz gekommen: erschreckend und wie mit einer freudigen Ahnung erfüllend war das Licht in ihre Seele gefallen, wie ein sonniger Schein, der durch Wolkennacht dringt und der in kurzer Frist ein volles Durchbrechen von hellem Sonnenschein verheißt. Es löste sich etwas, es hob sich eine furchtbare Last von ihrem Herzen, daß es höher und höher schlug. Bestand nicht am Ende Leonhard’s ganze Schuld darin, daß er just das Entgegengesetzte von dem, was Benning bei ihr zu ihrer bitteren Kränkung voraussetzte, von ihr angenommen? Bestand sein Verbrechen nicht einzig darin, daß er von ihr überzeugt gewesen, sie werde als Erbin anders empfinden, anders handeln, und daß er sich um die Zukunft seiner Eltern gesorgt und geängstigt für den Fall, wenn ein Anderer als sie Erbe von Dortenbach werde? Ja, er hatte nicht gewollt, daß dieses Waldheiligthum seines Vaters – der Wald kam ihr in der That jetzt wie das Heiligthum still waltender Gottheiten vor – entweiht und vernichtet, daß die Menschen, die davon lebten, brodlos, daß seine Eltern von dem ererbten Herde vertrieben würden. O, welches Licht hatten dieses Benning Reden ihr aufgesteckt – welch helles und welch erwärmendes Licht!

„Benning, wohin fahren Sie mich?“ rief sie ihn laut an.

„Zum Schlosse zurück,“ sagte Benning. „Wir werden sogleich schon die Dächer und Essen vor uns liegen sehen.“

„So schlagen Sie den nächsten Weg ein, der zur Försterei führt!“

„Zur Försterei?“ fragte der Rentmeister betroffen.

„Wie ich Ihnen sage! Die Försterin wird mich am besten zu pflegen verstehen – ich will zum Försterhause.“

„Wie Sie befehlen, gnädiges Fräulein!“ versetzte Benning mit unterwürfiger Resignation.




15.

Eine halbe Stunde später lag Regine im Zimmer der Frau Klingholt mit verbundenem Fuße auf dem Sopha – in demselben Zimmer, in welchem ihr am gestrigen Tage eine so niederschmetternde Enthüllung gemacht worden. Jetzt ließ sie sich ruhig die eifrigen Hülfebestrebungen der erregten, mit vielen Worten sie beklagenden Frau gefallen, die dabei ein Mal über das andere an’s Fenster trat, um zu schauen, ob Leonhard noch nicht komme; er war auf dem Schlosse, wo ihn entweder Damian’s Verwundung oder der Zustand des alten Herrn zurückhalten mochte. Edwin war gleich nach Reginens Ankunft abgesandt worden, um ihn zu rufen.

„Endlich! Da kommen Beide!“ sagte die Försterin – und gleich darauf trat Leonhard mit hastigem Schritte in’s Zimmer.

„Sie – zurück – und verwundetet?!“ rief er, den Hut zur Seite werfend, „was ist geschehen, Regine?“

„Ich bin verletzt,“ sagte sie mit einem großen fragenden Blicke und leise errötend zu ihm aufschauend; „wie Sie sehen, gezwungen, nun doch – zu Ihnen zurückzukehren. Wollen Sie mir helfen?“

Er schien Zeit zu bedürfen, sich zu fassen. Spannung in jeder seiner Mienen, sah er sie an. Dann beugte er sich nieder, um die Verletzung zu untersuchen. Seine Mutter verließ discret den Raum.

„Sie sehen,“ fuhr Regine mit einem schwachen Versuch, den Ton des Scherzes anzunehmen, fort, „am Ende flüchtet sich doch Alles zu Ihnen, dem Helfer Aller.“

Er sah wieder mit derselben Spannung in ihre bewegten Züge, die nun so, ihm Auge in Auge gegenüber, eine sich heftig steigernde Erregung verriethen – weshalb sprach er auch nicht – weshalb sah er nur so fragend, so gar nicht die Situation und was in ihr vorging begreifend, in ihr Auge? Hätte er denn nicht Alles errathen, nicht reden, nicht ihr das Reden ersparen können? Nichts als: „Der Knöchel ist verrenkt“ – zwang er nach einer Pause sich zu sagen – „es thut mir leid, daß ich Ihnen einen Schmerz bereiten muß, ihn wieder einzurichten.“

„Ich Aermste!“ versetzte sie mit wehmütigem Lächeln; „als ob mir nicht heute schon die verstauchte Vernunft schmerzlich genug eingerenkt wäre!“

Auch jetzt schien er noch nicht verstehen zu wollen. Es war grausam von ihm. Grausam auch erfaßte er ihren Fuß und – ihr einen leisen Aufschrei des Schmerzes erpressend, vollführte er mit seiner wunderbaren Geschicklichkeit rasch die nothwendige Operation.

Sie legte dann, bleich geworden und die Augen schließend, den schönen Kopf, der unter der Wirkung des schwindenden Schmerzes einen eigenthümlich idealen Ausdruck gewonnen, auf die Sophalehne zurück. Leonhard blickte tiefbewegt auf diese schönen Züge, welche eine so magische Macht auf ihn übten. Er vergaß darüber für eine Weile, was nun weiter geschehen mußte. Dann, wie sich besinnend, holte er es rasch nach.

Als mit Hülfe der von der Försterin schon früher herbeigebrachten Dinge der Verband gelegt worden war, erhob Regine das Haupt, und mit dem weichsten Tone ihrer Stimme sagte sie:

„Nun ist’s vorüber. Nicht wahr, Leonhard, Sie – wir werden uns jetzt nicht mehr wehe thun – nie mehr!“ Und ihm die Hand hinstreckend, fügte sie hinzu: „Sie werden auch keine schlimmere Buße von mir verlangen, als diese hier; ich bekenne offen, gedemüthigt von Allem, was mir widerfahren ist, daß mein eigensinniger Wille gebrochen ist. Und daß es plötzlich über mich gekommen ist, das Gefühl, daß ich Ihnen Unrecht gethan –“

Er nahm ihre Hand; er küßte sie – aber noch immer sprach er nicht – noch immer sah er sie ernst und fragend an – noch immer zwang er sie, zu sprechen, und Alles, Alles zu sagen.

„Ja,“ fuhr sie deshalb fort, „wenn ich es denn erklären muß – muß ich es? – ich fühle, Sie hatten Recht, als Sie nicht wollten, daß ich mein Erbrecht aufgebe, und fest dabei blieben. Sie hatten völlig Recht. Sie dachten dabei nicht an sich, Sie dachten an Ihre Eltern. War es nicht so? O, sagen Sie mir, daß es so war!“

„Gewiß, Regine, so war es. Wenn Sie bei Ihrem Entschlusse beharrten, war die Zeit, welche meine Eltern noch zu verleben haben, nur ein bitterer Leidenskelch. Und viele andere Menschen wurden unglücklich dadurch. Sie durften es nicht.“

„Aber weshalb sprachen Sie das Alles nie aus. … Hätte ich Ihnen zürnen können, wenn Sie mir gesagt hätten: Du denkst an deine Eltern, welche todt sind, und willst ihren Willen ehren; ich denke [396] an die meinen, welche leben, und will für ihr Glück einstehen. Der Lebenden Recht geht über das der Todten. Weshalb sagten Sie mir das nicht – vertrauten Sie mir nicht, daß ich begreifen würde, wie Recht Sie haben?“

Leonhard zog einen Stuhl herbei und, sich neben ihr niedersetzend, ihre Hand in die seine nehmend, antwortete er eifrig:

„Weshalb ich Ihnen das nicht sagte, Regine? Weil ich überhaupt Ihren Entschluß nicht mit Gründen bekämpfen, nicht mit Ihnen streiten wollte, und weil ich das Vertrauen zu Ihnen hatte, daß Sie ganz von selbst von einem unvernünftigen Entschlusse zurückkommen würden. Sobald Sie nur erst einmal hierher gekommen, Ihren guten Oheim kennen gelernt und eine Ahnung von der Zukunft in Ihnen aufgestiegen wäre, welche Ihr Erbgut bedrohte, wenn Sie darauf beharrten, sich einer heiligen Pflicht zu entziehen …“

„Einer Pflicht …? Darin kann ich Ihnen nicht Recht geben …“

„Doch, einer Pflicht! Der Mensch sei ‚edel, hülfreich und gut!‘; er darf also die Mittel, die sich ihm bieten, es zu sein, nicht fortwerfen; er darf es nicht. Welch ein thörichter, dummer Arzt wäre ich, wenn ich vor meinen Krankenbesuchen am Morgen damit begönne, meine Instrumente zu zerbrechen! Das ist Eines. Und ein Anderes ist, daß es alte ererbte, durch die Zeit gewebte Bande giebt, welche wir nicht einfach zerreißen dürfen, als wären wir Kinder der Stunde und unsere Stimmungen dürften souverain über unsere Entschlüsse entscheiden. Solche Bande sind die Beziehungen zu dem seit Generationen den Unseren gehörenden Boden und zu Denen, die mit diesem Boden zusammenhängen. Ist da stets Gutes gewirkt und geschaffen, so haben wir die moralische Verpflichtung, die Tradition des Guten lebendig zu erhalten und sie fortzusetzen. Ist da Böses geschehen, hat Schlimmes da gehaust, so haben wir es zu sühnen … Der Mensch ist innerlich ein Geschöpf seiner Geschichte, und um in Harmonie mit sich zu bleiben, soll er auch die Verantwortlichkeit für die Gestaltung seiner äußeren Geschichte nicht abwerfen wollen. Und das Alles – ich wußte es ja – würden Sie schon von selber einsehen. Was bedurfte es meiner Reden, die Ihnen nur das Verdienst geschmälert hätten, im richtigen Augenblick richtig zu handeln – aus der eigenen Erkenntniß, dem eigenen Gefühl heraus.“

„Aber Sie sahen doch, Leonhard, daß zu solcher Erkenntniß meine ‚rechtwinklige Natur‘ nicht reichte … bis fremde Lippen mir einen Aufschluß gaben. Sie hätten mir wenigstens doch sagen können …“ setzte sie weich hinzu, „nur einmal recht herzlich sagen …“

„Was? Daß ich Sie liebte, Sie, nicht dieses viel besprochene Erbe? Daß ich Sie liebte von dem Augenblicke an, wo uns der Zufall zusammenführte, der Zufall und nicht eine berechnende Absicht, ja, daß ich Sie liebte in dem Momente, wo ich Sie zuerst sah und mit Ihnen sprach? Nein, Regine, das durfte ich Ihnen nicht erst sagen. Das wäre meiner unwürdig gewesen. Sie mußten es glauben, fühlen, wissen, ohne daß ich sprach.“

„Stolzer Römer!“ sagte Regine scherzend. „Also in Allem wollen Sie Recht behalten?“

„O nein, nein,“ rief Leonhard lebhaft aus. „Ich habe so über nichts gestritten und will in Nichts Recht behalten. Das Recht, Regine,“ fügte er lächelnd hinzu, „ist Ihre Domäne – Sie haben nun gesehen, wohin man mit dem Rechte kommt. Man kann ein glänzendes Erbe und mit ihm das Glück Vieler damit zu Nichte machen; man kann einen armen alten Mann damit in seiner Hülflosigkeit allein lassen; man kann ein treues Herz voll aufrichtiger Leidenschaft damit von sich stoßen … und am Ende …“

„Gelangt man,“ fiel Regine mit hellen Thränen an den Wimpern und einem zärtlichen Blicke in Leonhard’s Züge ein, „am Ende, wollen Sie sagen, gelangt man damit in die tiefsten Waldgründe der Verirrung und verrenkt sich den Fuß … o Leonhard, ich will nie mehr Recht haben – das soll meine Buße sein – nur noch Deine Liebe will ich, nichts als sie.“

„Ueber alles Recht geht Liebe, über allen Zauber Liebe,“ sagte er, einen Kuß auf ihre Stirn drückend.




Für den guten alten Herrn sollte der Tag, der so stürmisch begonnen, mit einer neuen Aufregung enden – aber einer Aufregung so freudiger Natur, daß sie bald all den üblen Nachwirkungen ein Ende machte, welche die Erschütterungen des Morgens für ihn gehabt hatten. Aus der apathischen, beunruhigenden Schwäche, in welcher er in seinem Lehnstuhl lag, riß ihn die Nachricht, welche ihm an Nachmittage Leonhard brachte, empor, die Nachricht, daß Regine zurückgekehrt sei, um ihn nie mehr zu verlassen; diese Kunde erregte ihn so fröhlich, daß er nicht eher ruhte, als bis ihm Leonhard den Willen gethan, mit ihm den nicht kurzen Weg zum Försterhause zu machen, wo Regine für die nächsten Tage unter der Pflege von Leonhard’s Mutter bleiben sollte. Wie neu belebt, legte er tapfer den Weg zurück; und dann saß der alte Herr an Reginens Lager und ließ sich das Abenteuer, welches sie überstanden, erzählen – und endlich zeigte er einen an ihm völlig neuen Willensaufschwung und kündigte Entschlüsse an, wie man sie ihm gar nicht mehr zugetraut hätte. Es war eine Freude, ihn reden zu hören, so energisch sprach er sich aus unter dem Eindruck des Zornes, der endlich über Alles das, was man sich um ihn her erlaubt hatte, die weite tiefe Schale seiner Geduld überfließen gemacht. Eine Freude für Alle war es, nur nicht für Andreas, der ihm zum Försterhause hatte folgen müssen, und der sich jetzt zum Executor seines souveränen Willens ernannt sah. Nicht, daß Andreas nicht auch ein inneres Behagen dabei empfunden! Im Gegentheil, sein altes Herz schlug stürmisch dabei auf. Aber daß er nun dem Rentmeister Benning einen Bogen weißen Papieres überbringen mußte, auf welchem der alte Herr zu oberst die wenigen Worte mit seiner zitterigen Hand geschrieben hatte: „Meiner Nichte Regine Horstmar habe ich von heute an die ausschließliche Führung meiner Verwaltungsangelegenheiten übertragen, uneingeschränkt und in allen Dingen, wonach Sie sich zu richten haben …“ und daß Andreas dann gehen und der Frau Generalin andeuten sollte, wie der Herr Baron als Wohnung für Fräulein Horstmar die von der Frau Generalin bislang benutzten Zimmer zu bestimmen geruht habe – das waren sicherlich keine angenehmen Aufträge für Andreas.

Doch er ging und gehorchte. Als der alte Herr dann am Abend wieder in seinen vier Wänden war – zur Rückkehr hatte er nun doch seinen Wagen vom Hofe kommen lassen müssen – konnte ihm Andreas auch berichten, daß es ihm bei der Generalin besser ergangen, als er zu hoffen gewagt: er hatte die gestrenge Dame bereits eifrig mit dem Einpacken beschäftigt gefunden; der Wagen, der sie und Sergius fortführen sollte, sei auf die früheste Frühe des nächsten Morgens bestellt worden.

Mit solcher Eile abzureisen, war der Familie von Ramsfeld nun freilich nicht möglich – Damian’s Verwundung wegen. Auch stellte sich in den nächsten Tagen mit ihr ein ganz leidliches Einvernehmen her. Dora war dem alten Herrn immer „sympathisch“ gewesen, und was Frau von Ramsfeld anging, so war sie im Grunde eine gute Seele und eine leichtlebige Natur, die sich in unabänderliche Dinge zu finden wußte. Es kam, um sie zu trösten, hinzu, daß einige längere Unterredungen zwischen ihr und Dora, zwischen Leonhard und Edwin und Beider Müttern einen erfreulichen Erfolg ergaben und daß sie endlich, als sie mit ihren Kindern abreiste, mit einer guten Aussicht in die Zukunft, was Dora’s Glück und Versorgung betraf, scheiden konnte. Es war verabredet worden, daß Edwin in der geregelten Weise seine Studien fortsetzen, sein Examen ablegen und darauf als seines Vaters Adjunct angestellt werden sollte. Wenn die beiden jungen Leute dann noch mit derselben Innigkeit, wie jetzt, ihre verliebten Herzen zu einander gezogen fühlten, stand ihrer Verbindung kein Hinderniß entgegen. Für Dora’s Aussteuer würde gern der alte Herr sorgen, wie er Frau von Ramsfeld beim Abschiede erklärte; auch gab er ihr bereitwillig die Zusage seiner Beihülfe, falls sie dieser bedürfen werde, um Damian in irgend eine geregelte Laufbahn zu bringen. – –

Leonhard und Regine sind heute vermählt und leben auf Dortenbach, die letzten Tage des alten Herrn verlängernd und verschönernd. Er ist schwach, sehr schwach, aber schmerzlos und heiter; er ist so gut, und der gute Mensch bedarf so wenig, um sich glücklich zu fühlen. Leonhard hat sein Recht, daß Regine ihm in die Stadt seiner Wirksamkeit folge, wo ihm Ruhm und Ehren geblüht haben würden, der Liebe geopfert, der Liebe für sie, die nun mit wachsender Innigkeit an dem alten Oheim, an dem schönen Stammsitz ihrer Familie, an dem Wohl und Wehe ihrer von ihr abhängigen Umgebung hängt, der Liebe auch für sein der ärztlichen Pflege so oft bedürftiges und früher von ihr ganz verlassenes armes Landvolk.


[397]

Im Nachen.
Nach dem Oelgemälde von Professor Karl Raupp.

„Nun raste, treuer Nachen,
Nach athemloser Flucht!
Mein heimlich Glück nun berge,
Du dämmerstille Bucht!“

Der Jüngling, hocherglühend,
Zieht leis’ das Ruder ein –
Die Maid vor ihm erschauert
Und schweigt in süßer Pein.

Zum ahnungsvollen Herzen
Drängt stockend all ihr Blut;
Von ihrem Schooß die Rose
Entgleitet in die Fluth.

Sie kommt sich wie umsponnen
Von Märchenzauber vor –
Da dringen heiße Worte
Wie traumhaft an ihr Ohr.

Sie lauscht – wie warmer Lenzhauch
Sich’s über sie ergießt –
Sie glüht und gleicht der Blume,
Die zitternd sich erschließt. – –

Nun, Nachen, such’ dir selber
Durch’s Schilf verschwieg’nen Lauf! –
Zwei jungen Menschenherzen
Blüht lichter Frühling auf.

Ernst Scherenberg. 
[398]

Bilder von der Ostseeküste.

Mit Abbildungen von Robert Aßmus.[1]
1.0 Land und Leute in Esthland.

Nordische Frühlingsnacht! Wer je unter deinem Zauber gestanden, wird deiner Reize nie vergessen. Es war in der ersten Hälfte des Juni, als unser Schiff fast geräuschlos durch die ruhige milchweiße See glitt, an deren Horizonte ein goldener Schein von West nach Ost langsam dahinzog. Dort feierten Abendroth und Morgenroth ihr kurzes Zusammentreffen. An Bord herrschte Stille. Die Helle dieser Nächte regt die Nerven auf und hält den Schlaf fern, aber sie weckt zugleich eine weihevolle Stimmung, und wie der Schweizer das Glühen seiner Heimathberge mit immer neuer Bewunderung wahrnimmt, so erhebt sich auch das Herz des Nordländers immer wieder an dem Zauber dieser Nachthelle im Frühling,

Solcher Stimmung schien auch der Mann nachzuhängen, der abgesondert von den übrigen Reisenden neben dem Rade des Steuermannes saß und nach dem dunklen Landstreifen ausschaute, der immer deutlicher am Horizont auftauchte. Der Luftzug spielte in den langen grauen Haaren des Alten und bauschte seinen Mantel weit auf. Seine Gestalt schien von ungewöhnlicher Größe, und ein Zug der Begeisterung lag auf dem alten, ausdrucksvollen Gesichte. Ich mußte des Wannemunne[WS 1], des göttlichen Sängers gedenken, welcher jenem Lande vor uns die Töne gebracht, den Bäumen und Flüssen das Rauschen und Brausen, den Vögeln die Stimme und den Menschen das Lied, ihr Glück und ihr Leid zu singen und Altvater zu preisen.

Ich gesellte, mich zu dem Alten. Er gab zuerst nur zögernd und mit halbunterdrückter Stimme Antwort auf meine Fragen und lüftete leise den Mantel. Da sah ich, daß in seinem Schooße ein blondlockiges Kind schlummerte.

„Der einzige Schatz,“ sagte ich mir, „den der Mann aus Stürmen und Nöthen eines langen Lebens gerettet." Und nun erfuhr ich aus dem eigenen Munde des Mannes sein Lebensloos: verführt durch Vorspiegelungen reichlichen Erwerbs war er einst jung und muthig mit der Gattin in die Ferne gezogen; mühsam hatte er gearbeitet und dem Schicksal ein bescheidenes Glück abgerungen. Aber sein Herz war in der Heimath geblieben. Nun waren schwere Schläge auf ihn gefallen. Das Haus, das er sich am Wolga-Ufer gebaut und mit unendlicher Mühe mit Bäumen umpflanzt und geschützt hatte, war einem Brande zum Opfer gefallen; Weib und Kinder waren ihm an verheerender Krankheit gestorben; die Stammesgenossen, die sich um ihn gesammelt, waren weitergewandert; da beschloß er aus dem Elend wieder heimzuziehen zu seinem Volke, um das Einzige, was ihm geblieben, die Enkelin, wieder der alten Gemeinde zuzuführen und selbst seinen Leib dort zu betten, wo die Mutter in der Rauchstube seine Hängewiege geschaukelt hatte.

Sein Loos war das der meisten esthnischen Auswanderer. Mit geringen Ausnahmen verkommen und verschwinden sie in der Fremde. Ihre Niederlassungen blühen vielleicht für kurze Zeit auf, aber dann sind sie verweht oder ihres nationalen Charakters entkleidet; denn es ist eine alte Erfahrung: der Esthe, der sich in seiner Heimath unter Heimathgenossen zäh zu erhalten weiß, geht, wenn er einzeln auf fremden Boden verpflanzt wird, zu Grunde. Und wenn er jene verließ, um deutscher Herrschaft zu entgehen, preist er es in seiner Colonie als ein Glück, wenn eine deutsche Colonie in der Nähe ist, in deren Schule er seine Kinder schicken kann. Er lernt an der Wolga das Deutsch, das ihm am finnischen Busen so verhaßt klang. Auch mein alter Wannemunne und sein Großkind sprachen deutsch.

Die Mitteilungen über sein Schicksal erleichterten des Alten Herz und lösten ihm die Zunge. Er begann von den Erinnerungen seiner Kindheit und Jugend zu reden und summte dann und wann ein esthnisches Lied.

Unser Dampfer war inzwischen in den Sund eingelaufen, der das esthländische Festland von den zur Provinz Livland gehörigen, doch von Esthen bewohnten Inseln trennt. Links – westlich – lag im Vordergründe die Insel Mohn, hinter derselben der lange Streifen der ösel’schen[WS 2] Küste. Dies war einst die Heimath weit berüchtigter Seefahrer: denn von hier aus unternahmen die Oeselaner ihre Raubzüge an die Küste der Ostsee oder tief in das ihnen stammverwandte Esthland hinein.

Kühne Seefahrer sind die Oeselaner bis heute geblieben. Ihre einmastigen Böte, scheinbar kaum zur Küstenfahrt und zum Holztransport geeignet, vermittelten in den Kriegsjahren 1854 und 1855 einen lebhaften Handel mit Schweden und der preußischen Küste und reizen auch jetzt noch die besondere Aufmerksamkeit der Grenz- und Zollwächter. In Trachten und Sagen bewahren sie treu die alten Ueberlieferungen des Volkes.

Uns zur Rechten dehnte sich die flache Küste des esthländischen Festlandes aus. Die Dampfpfeife des Schiffes schrillte durch die stille Morgenluft; die Räder schlugen immer langsamer in das Wasser, und endlich lag der Dampfer still, ohne Anker zu werfen. Ein großes Boot, das dem Dampfer neue Passagiere zuführte, kam zu uns heran. Sechs kräftige Ruderer in dunkelbraunen Jacken halfen den Passagieren zu uns herüber an Bord und wechselten dagegen die Aussteigenden ein, unter denen auch der alte Wanderer, sein Großkind und ich nicht fehlten. Einige Commandoworte, kurze Fragen, kurze Antworten — sonst alles so still, daß man trotz der Bewegung auf Schiff und Boot das Plätschern der Wellen am Kiel hörte. Dann senkten sich die Ruder tactmäßig in’s Wasser und führten uns der Landungsstelle von Werder auf esthländischem Boden zu, während das Schiff neuen Dampf ausstieß und seine Bahn weiter zog nach Hapsal, Reval und Petersburg.

In gleicher Stille vollzog sich unsere Landung in Werder. Kein Feilschen und Schreien, keine Zudringlichkeit der Dienstfertigen; die Ruderer trugen das Gepäck in die Poststation, und die Reisenden trennten sich mit kurzem Gruß.

In einiger Entfernung erhob sich aus den Baumkronen eines Parkes ein stattlicher Herrensitz, Schloß Werder, von woher das Gespann für die Reisenden mit Extrapost beschafft werden mußte. Die halbe Stunde, die hierüber verstrich, war der Lectüre des abgegriffenen Klagebuches gewidmet. Erst viel später habe ich den Werth der Lectüre dieses Buches verstanden: voll schlechter Orthographie und schlechterer Kalligraphie, ist es, wie die anderen auf esthländischen Poststationen, nichts mehr noch weniger als eine treffende Illustration zweier in Esthland sich bekämpfender Elemente.

Fast sämmtliche Klagen, die ich in Werder las, galten der Langsamkeit der Beförderung; fast sämmtliche waren mit Erbitterung gegen die Gutsherrschaft, von der die Pferde zu beziehen sind, gerichtet; fast sämmtliche stammten von russischen Reisenden her, und endlich bezeugte der Landesbeamte, welcher die Beschwerden zu untersuchen gehabt, daß sie fast alle grundlos gewesen seien. Man braucht nicht anzunehmen, daß jede Untersuchung mit äußerster Strenge geführt worden sei, um doch schließen zu dürfen, daß man den Russen mit Recht anklagt, er lasse auf Reisen dem Hochmuth, der Ungeduld und der Rechthaberei die Zügel schießen.

Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen über die saftgrünen Felder, die dunklen Tannen und die lichten Birken hin, als ich den von Schloß Werder inzwischen angelangten leichten Korbwagen bestieg und dann lustig auf ebener Straße nach Esthland hineinrollte.

Es ist eines der kleinsten Gouvernements des russischen Reichs und hat doch die Ausdehnung des Königreichs Württemberg. Aber auf seiner Fläche von 358 Quadratmeilen wohnt nicht einmal der fünfte Theil der Bevölkerung dieses Landes.[2]

Die geringe Dichtigkeit der Bevölkerung giebt dem Verkehr im Lande den Charakter. Nur zwei Bahnlinien durchschneiden

  1. Wir eröffnen mit diesem illustrirten Artikel die Reihe der von uns früher angekündigten vielversprechenden Schilderungen über Land und Leute an der deutschen Ostseeküste und fühlen uns veranlaßt, allen Denen, welche unsern Specialartisten, Herrn Robert Aßmus, auf seiner im Auftrage der „Gartenlaube“ unternommenen Reise nach den Städten der Ostsee in liebenswürdigster Weise mit Rath und That unterstützten, hiermit im Namen des Künstlers sowie der „Gartenlaube“ den herzlichsten Dank auszusprechen.
    D. Red.
  2. Die letzte Volkszählung, deren Resultate amtlich bis jetzt noch nicht veröffentlicht wurden, hat die Ziffer von 376,787 Bewohnern ergeben. Das Gesammtareal Esthlands vertheilt sich auf 16,58 Procent Ackerland, 41,73 Procent Wiesen und Weiden, 18,98 Procent Busch und Wald und 22,68 Procent Moor und sonstiges unfruchtbares Land.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Wannemunne: Vanemuine
  2. Ösel: die Insel Saaremaa

[399] dasselbe; der Localverkehr auf beiden Linien ist unbedeutend; denn die Mehrzahl der Reisenden bewegt sich zwischen den Hauptpunkten Reval einerseits und Petersburg und Dorpat andererseits, und daher muß eine Anzahl von Post- und Landstraßen dem Verkehr im Innern nachhelfen. Granitrücken, die das Land auch in seinen sumpfigen Theilen durchziehen, bieten treffliches Material zum Straßenbau. Wo im Norden der fast horizontal lagernde Jurakalk an die Oberfläche tritt, erscheint der Boden von Natur geebnet, und die Wagen rollen dort zeitweise über die nackten Fließen dahin. Für das Unterkommen der Reisenden ist dagegen auf den Poststationen höchst bescheidene Fürsorge getroffen. Man gewinnt aus der Einfachheit und Aermlichkeit vieler dieser Unterkunftsstellen ein recht trübes Bild von den Culturbedürfnissen der Bevölkerung und glaubt sich in einem noch weniger civilisirten Lande, als es wirklich der Fall ist.

Bei meinen ersten Fahrten über diese endlosen Flächen, die rings ein dunkler Wald besäumt, über diese menschenleeren Wege hin und an diesen strohbedeckten, zum Theil ihrem ursprünglichen Herbergszweck entzogenen Krügen vorüber, wurde es mir so recht klar, daß es nur die Gleichförmigkeit und die Einsamkeit, sowie der Mangel jedes anregenden und aufregenden Erlebnisses ist, was den Reisen in Esthland ihren Charakter giebt. Die Phantasie hat hier Zeit genug, an die vereinzelten menschlichen Wohnsitze, an die dürftigen Bauernhäuschen oder an die hohen Dächer gutsherrlicher Schlösser ihre Spiele zu knüpfen. Ziehen noch dazu Frühlingsstürme oder herbstliche Wolkenschatten über diese Ebenen hin, dann erscheint das Land als die natürliche Heimath jener wehmüthigen Volksweisen, welche es hervorgebracht hat. Und wahrlich! Jüngling wie Greis, Schulmädchen wie Schloßfrau, Esthe wie Deutscher: was in Esthland geboren und erwachsen, trägt einen Zug der Sentimentalität in seinem Gemüthe.

Etwa eine Stunde war ich durch den thaufrischen Morgen dahingefahren; in den wenigen Häusern, im Pastorat am Wege lag noch Alles im tiefen Schlafe, und weder Mensch noch Fuhrwerk waren mir begegnet. Da endlich bemerkte ich weit vor mir zwei wandernde Gestalten. Sie sind bald eingeholt – und wirklich: ich habe mich nicht getäuscht; sie sind es: mein alter Reisegenosse und sein Großkind! Nach kurzer Ueberredung meinerseits steigen sie zu mir in den Wagen.

Nur noch eine Weile, und es wurde lebhafter auf der Straße; zahlreiche Fußgänger schritten vor uns daher, und von den Seitenwegen lenkten Fuhrwerke ein, die sich, wie die Fußreisenden, sämmtlich nach der gleichen Richtung hin bewegten; das Ziel dieser Fahrenden und Wanderer ist die vor uns liegende Kirche von Karusen. Man begiebt sich zum Morgengottesdienst, und vor der Kirche herrscht bereits volles, buntes Leben. Gefährt steht neben Gefährt; in Gruppen haben sich die Bauern zusammengesetzt: Frauen ordnen ihr Schuhzeug oder stillen seitab ihre Säuglinge. Das Bild ist farbenglänzend, wie die Volksfeste des Südens; denn der Esthe liebt in seiner Tracht kräftige Farben.

Der Rock des Mannes ist braun, oft mit rothem Saum und kleinen silbernen Knöpfen verziert, während die Kniehose weiß, die Weste roth oder farbig gestreift, der Strumpf blau ist. Die Mützen der Frauen und der Kopfreif der Mädchen, welche von steif gespanntem, glänzendem Atlas gefertigt werden, zeigen meist helle und leuchtende Farben und sind mit breiten, bunten Schleifen und Bändern geziert. Das weiße Oberhemdchen trägt vielfach Stickereien von Seide und Flittern. Prachtstück ist aber der Rock. Von der Hüfte abwärts ist er mit zollbreiten Streifen farbigen Tuches verziert, dazwischen mit seinen weißen und gelben Linien gestreift und wird am Gürtel so gefaltet, daß oben nur eine Farbe sich zeigt. Wo die Falten sich öffnen, tritt eine zweite, vom Knie abwärts eine dritte Farbe hervor. Jeder Schritt giebt ein Auf- und Niederwallen der Farben, einen Wechsel im Vorwiegen der einen und der anderen[1]. Die Strümpfe sind mit bunten Zwickeln versehen. Bunt ist das Brusttuch, und bunt sind die gestrickten wollenen Handschuhe, die beim Kirchgange selbst im Sommer nicht fehlen dürfen.

Die Farbenwirkung der Kleidung wird durch die Haartracht des Volkes erhöht. Der Esthe ist vorwiegend blond, und nur in der alten Sakala, der zu Livland gehörigen Umgegend von Fellin, herrscht bei blauen oder grauen Augen das kastanienbraune Haar vor. Bei den Männern gilt wie bei den Frauen das lang herabhängende, frei wallende Haar für eine besondere Zierde, wie denn unter dem breiten, dunkeln Männerhut in der Regel eine helle Mähne hervorquillt, während unter dem farbigen Frauenkopfschmuck glänzendes Flachshaar in großer Fülle sichtbar wird.

Den Esthen sind nicht blos die scharfen Sinne der uncultivirteren Völker, sondern auch Neigung und Fähigkeit zu künstlerischem Gebrauche derselben eigen. Sie sind von hoher musikalischer Begabung. Ihr Chor- und Quartettgesang, die Dilettantenorchester, die Dorfvirtuosen auf dem Organon der Schule, vor Allem aber die Sangweisen ihrer Volkslieder überraschen auch das verwöhnte musikalische Ohr.

In gleichem Maß ist der Farbensinn der Esthen entwickelt, wie denn die Zahl der aus dem esthnischen Volke hervorgegangenen Maler überraschend groß ist.

Auch an dichterischer Begabung fehlt es dem Volke nicht. Sein Nationalepos, Sohni, der Felsensohn (Kalewi Poëg)[WS 1], ist in deutscher Uebersetzung und Bearbeitung zu bekannt, als daß hier seine groteske Phantastik und seine Selbstständigkeit gegenüber dem finnischen Epos Kalewala’s weiter auszuführen wäre. Ebenso haben die esthnischen Sagen und Volksmärchen rasch die Beachtung aller Freunde der Dichtung erworben.

Die esthnische Sprache ist reich und von besonderem Wohlklang; sie ist von allen finnischen Idiomen entschieden die wohlklingendste. Die specifische Form der Dichtung ist die Alliteration, und zu den zartesten Liedern der Esthen gehören die Elegien, die, meist von Frauen gedichtet, auch besonders von Frauen im Gedächtniß des Volkes festgehalten werden.

Der körperliche Typus der Esthen ist kräftig, in einzelnen Gegenden hochgebaut. Man findet viel hübsche Frauen unter ihnen, doch altern sie früh; die Männer dagegen gewinnen, wie es bei Völkern geringerer Bildungsstufe meist der Fall ist, erst im Alter die Schönheit eines ernsten und würdigen Gesichtsausdruckes. Das bekannte Abendmahlbild des Esthländers Ed. von Gebhardt in der Berliner Nationalgallerie zeigt uns mehrere solcher typischer Esthenköpfe.

Im Gegensatz zu den Russen, die vorzugsweise von Pflanzenkost leben, nähren sich die Esthen hauptsächlich von Fisch und Milch, und vielleicht liegt hierin der Grund ihrer größeren Enthaltsamkeit von Branntwein. Einst waren es Spielstuben, in welchen sich die esthnische Jugend versammelte – die vielen Spiellieder zeugen noch von dieser Sitte – und erst als die schwedische Regierung diese Spielversammlungen verbot, begannen die Krüge ihre Rolle zu spielen, von denen es noch im Ausgang der fünfziger Jahre eine große Zahl gab, die alle nach dem Typus gebaut waren, den unser Bild zeigt. Seit etwa zwanzig Jahren hat die Zahl der Krüge sehr abgenommen und Bier ist vielfach an die Stelle des Branntweins getreten.

Eine große Rolle spielt im Leben des Esthländers das Pferd[2]; denn die kleine, aber starke, rasche, ausdauernde und zugleich anspruchslose Rasse, die auf Oesel und in Esthland gezogen wird, bildet eines der besten Besitzthümer des von der Natur nur kärglich bedachten Landes. Auch die beiden runden Klepper, die uns immer tiefer in das Land führten, waren von echt esthnischer Rasse.

Das esthnische Volksgebiet überschreitet die politischen Grenzen des Gouvernements Esthland, und wir finden noch zahlreiche esthnische Sprachinseln in den angrenzenden Provinzen, namentlich in Livland. Darum hat auch der Künstler auf dem diesem Artikel beigegebenen Tableau Bilder aus der in Livland gelegenen Stadt Pernau dem Leser vorgeführt: die charakteristische esthnische Kirche und die anmuthige Silhouette dieses auch als Seebad oft besuchten Hafens, wie sie sich von der See aus dem Beschauer darbietet.

Von der Kirche von Karusen fuhren wir im raschesten Trabe über die Ebene, die in dem Geschichtskundigen manche Erinnerung weckt, nach dem Flecken Leal[WS 2]. Hier erreichte die Ueberraschung meines alten Reisegefährten, welcher über die Fortschritte des Landes zu wiederholten Malen seine Freude geäußert hatte, den höchsten Punkt. Als er zuletzt vorbeigewandert, lagen dort, wie er erzählte, am Fuße des Schloßberges nur die Kirche, die Häuser des Predigers und Arztes und fünf Krüge. Jetzt war der Anfang

  1. Einen ganz ähnlichen Rock, doch nicht so farbenreich, tragen die Frauen in einigen Orten des badischen Schwarzwaldes.
  2. Das erweist sich leicht aus dem Vergleiche mit anderen Ländern. Auf 1000 Menschen kommen in Frankreich 80, im deutschen Reiche 82, in Großbritannien und Irland 85, in Oesterreich-Ungarn 99, in Schweden 105, in Dänemark 177, in Esthland aber 212 Pferde.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. estnisches Nationalepos Kalewi Poëg
  2. Leal: Lihula
[400]

VOR PERNAU. VOR REVAL.
DER „LANGE HERMANN“ IN REVAL. DIE „DICKE GRETE“ IN REVAL.
DIE ESTHISCHE KIRCHE IN PERNAU. AN DER ALTEN STADTMAUER VON REVAL.
RATHHAUS IN REVAL. Rob. Aßmus Reval 19\9 81. Kaeseberg & Oertel X. I. DIE KATHARINEN-KIRCHE IN PERNAU.
DER „KIEK IN DE KOECK“ IN REVAL. ESTHISCHER KRUG. SC[hu]LE. ESTHISCHE MUEHLE. DIE RADER STRASSE IN REVAL.

Bilder von der Ostseeküste 0 [1. 0 Im e]sthnischen Sprachgebiet.
Für die „Gartenlaube“ nach der [Natur gezei]chnet von Robert Aßmus.

[401] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [402] zu einem freundlichen Städtchen mit einer doppelten Reihe kleiner, sauberer Häuser gemacht. Läden und Werkstätten waren errichtet, und das Schulhaus präsentirte sich höchst gefällig. Führe mein Reisegenosse heute nochmals des Weges, so konnte er ein Lied singen wie Chidher, der Ewigjunge; denn der Flecken Leal ist nicht mehr; weitaus der größte Theil jener Anbauten liegt in Asche, und zerstört sind die Gärten, welche damals in buntem Blumenschmucke prangten.

Bald erreichten wir das Reiseziel und die Heimath meines grauen Gefährten, Schloß Fickel, dessen Abbildung unsere Illustration zeigt.

Fickel, das größte Gut in Esthland, ist seit sechs Jahrhunderten im Besitz derselben Familie, der Freiherrn von Uexküll[WS 1]. Drastischer, als an der Geschichte dieses Hauses, ließe sich kaum der Wandel der Dinge in Esthland schildern, und in der That hat ein junger Historiker, der allzufrüh verstorbene Lossius[WS 2], zwei Bände dieser Familiengeschichte herausgegeben, während der dritte aus seinem literarischen Nachlasse demnächst erscheinen soll.

Wie sich auf den ursprünglichen Kellern, deren Gewölbe aus überragenden Steinen gebildet ist, ein Bau des achtzehnten Jahrhunderts mit allem Comfort der Gegenwart, mit großer Bibliothek, werthvoller Gallerie, reichem Kupferstich- und Handzeichnungencabinet, chemischem Laboratorium – ein reich ausgestatteter Fürstensitz – erhebt, so ist auch die Familie Uexküll durch alle Phasen roher und wilder Zeiten gegangen, um endlich in wissenschaftlicher Bildung und communaler Thätigkeit zu bedeutendem Ansehen im Lande zu gelangen. Seltsame Fügung: vor dreihundert Jahren ergriff der Rath der Stadt Reval einen aus dem Geschlechte der Uexküll’s und richtete ihn mit dem Schwerte, weil er einen Bauern getödtet hatte. Ein vieljähriger Krieg der Uexküll’s und des ihnen anhängenden Adels gegen die Stadt war die Folge dieses Urteils.[WS 3] Und heute ist es ein Freiherr von Uexküll, den dieselbe Stadt zu ihrem höchsten und schwierigsten Amte, dem des Stadthauptes oder Oberbürgermeisters, berufen hat.

In Fickel verließ mich mein Reisecumpan. Nach kurzem Aufenthalt, den ich zur Besichtigung des Schlosses, zumal der Treppenhausbilder Schweinfurth’s, der Gewächshäuser und des von dunklen Tannen beschatteten Familienfriedhofs benutzte, fuhr ich einsam meines Weges, bis sich mir im Abendroth der herrliche Blick auf Reval und auf die weite Bucht dahinter öffnete.

Das erhöhte Plateau, welches die Nordküste Esthlands bildet, tritt hier in weitem Bogen von der Küste zurück, Aus der Ebene steigt ein isolirter, langgestreckter Hügel, dessen östliche Spitze sich bis an das Meer hinzieht, während an der westlichen ein schroffer Kalksteinfels sich erhebt. Auf diesem bauten die Dänen zuerst ihre Veste. Jetzt bildet er den „Dom“. Auf dem unteren Hügelrücken und zu beiden Seiten desselben liegt die eigentliche Stadt.

Die Silhouette Revals, die sich damals vor meinen Augen tief violett von dem röthlichen Abendhimmel und der hellen Wasserfläche abhob, ist außerordentlich schön, und die verschiedene Höhe des Terrains giebt der Stadt ein interessantes Ansehen. Dazu die hochragenden Spitzen schlanker oder feingegliederter Kirchthürme, das Minaret des Rathhauses, burgartige Häuser, mehrere alte Festungsthürme und – damit es auch an weiterer Mannigfaltigkeit nicht fehle – selbst die Kuppel einer russischen Kathedrale. Endlich auf hohen Bastionen üppige Lindengruppen, drüben im Hafen aber die Masten und Schornsteine großer und kleiner Schiffe – in der That ein imposantes Bild!

Die Erwartung, welche mir der erste Anblick bot, sollte durch die nähere Besichtigung der Stadt an den folgenden Tagen nicht getäuscht werden. Es ist viel deutsches Alterthum da vertreten und Neigung vorhanden, den gothischen Charakter der Stadt zu wahren, aber die zunehmende Bevölkerung drängt aus den engen Straßen hinaus; denn wenn der Revalenser guten, alten Schlags von jeher gleichsam mit einem „Höfchen“ zur Welt kam, in dem er seine Sommerwochen verlebte, so baut sich das junge Geschlecht auch für den Winter außerhalb der Stadt an, und in Folge dessen verschwinden mehr und mehr die Spuren der früheren kriegerischen Zeiten Revals, die Wälle und Glacis.

Als die Flotte der „Alliirten“ 1854 und 1855 Stadt und Hafen blokirte, wurde eine ausgedehnte, mit hübschen Gartenanlagen geschmückte Vorstadt zu Vertheidigungszwecken rasirt und ein kleiner Park am Fuße des Kiek-in-die-Koek nur mühsam der Stadt erhalten. Die Engländer warfen nur einige Kugeln auf einen Friedhof vor der Stadt. Reval selbst blieb verschont und hatte nur die Alleen vor seinen Thoren und jene Vorstadt geopfert. Jetzt erinnern der mächtige Festungsthurm Kiek-in-die-Koek, von dem aus 1577 eine Kugel den russischen Feldherrn niederstreckte, die schlanke Schloßwarte, der „lange Herrmann“ und der weite Zwinger, die „dicke Grethe“, noch wohlerhalten an die alte Zeit, Auf den Schanzen aber sind Gärten entstanden und öffentliche Belustigungsorte.

Wie sich der Humor der Revalenser bei der letzten Blokade nicht verlor, so hatten auch ihre Vorfahren allezeit Tapferkeit und ein großes Maß bürgerlicher Opferfreudigkeit und Ordnungsliebe bewiesen. Wer die Geschichte dieser Stadt schreiben wollte, hätte viel von der deutschen Fähigkeit zur Selbstverwaltung, von der deutschen Tüchtigkeit in Handel und Gewerbe, von dem tapfern Muthe und der guten Sitte der Deutschen in Krieg und Frieden zu melden. Die Geschichte der Ostseeprovinzen sollte sich im deutschen Volke größerer Beachtung erfreuen: nirgend hat sich deutscher Bürgersinn in so schweren Verhältnissen fester bewährt und nirgend unablässiger für die idealen Güter des deutschen Wesens gekämpft als dort. Mit freudiger Zuversicht konnte der alte Chronist schreiben:

„So lange die beiden Stede Riga vnde Reuel erholden bliuen, ys de Muscowiter aller erauerden Landen, Stede vnde Festinge nicht ein her, besundern man ein Gast, vnde wenn disse beide gemelten Stede affhendich vörden, dat Godt vorbede, So were ydt mit ganz Lyfflandt ewich verlaren, welckes allen vmmeliggenden Landen vnde Steden, nicht allein grote sorge vnde gefahr, besundern ock in der Ostsee, solck eine Confusion vnde vorkeret vesen geuen wörde, des man in ewicheit genochsam thobeweynende vnde thobeklagende hadde.“

Aeußerlich, das heißt politisch sind diese beiden Städte und mit ihnen ganz „Lyfflandt“ seit hundertdreiundsiebenzig Jahren „affhendig wörden“, und man hat im Jahre 1860 in Reval das hundertfünfzigjährige Jubiläum der russischen Herrschaft mit Errichten von Kletterstangen, Sacklaufen, Einfangen geseifter Ferkel u. dergl. „Talkusfreuden“ gefeiert. Der Deutsche in ganz „Lyfflandt“ ist seit Beginn des russischen Regiments bis auf heute durch und durch loyal, aber er ist seiner Nationalität ebenso treu, wie dem Staate Rußland. Er kann nicht einsehen, daß zwischen seiner Nationalität und dem russischen Staatsbegriff ein natürlicher Gegensatz bestehe. In den ersten hundertfünfzig Jahren der Zugehörigkeit der Provinzen zu Rußland hat ein solcher Gegensatz, sehr zum Vortheil beider, der Provinzen wie des Gesammtstaates, nicht bestanden, und darum konnte jene Feier begangen werden; darum sind jene Städte der deutschen Cultur nicht „affhendig wörden“. Von den herostratischen Gelüsten der Barbaren, die heute den Czaren in Gatschina gefangen halten oder auf Brandreden reisen, war damals noch keine Spur. Erst seitdem sowohl die esthnische Volksschule in rascherem Tempo gefördert wird, wie auch der Grund und Boden immer mehr in den Privatbesitz von Esthen übergeht, schleudert ein Theil der russischen Presse seine Pechkränze gegen die aufblühende Organisation der Provinz.

Zum Schlusse sei es gestattet, auf die Eigenart der deutschen Landbewohner – der Russe nennt die deutschen Großgrundbesitzer kurzweg baltische Barone – hinzuweisen.

Wie der Kurländer, so sind auch der Livländer und der Esthländer eine Species für sich. Für die Völkerpsychologie werden ihre Eigenthümlichkeiten aber erst interessant, wenn man sie zu dem Zusammenleben mit den Letten und Esthen in Beziehung setzt und den unter Letten lebenden Deutschen mit dem unter den Esthen vergleicht. Von Blutvermischung kann hier nicht die Rede sein; es handelt sich nur um den Einfluß, welchen durch Jahrhunderte hindurch Esthen und Letten auf die Deutschen geübt haben; denn unverkennbar spiegeln sich die Eigenschaften dieser beiden Völker in dem Charakter der Deutschen wieder. Wir begegnen in dem Deutschen des esthnischen Gebietes allen den Talenten und Schwächen, die den Esthen vom Letten unterscheiden: Er ist für alles Gefühlsleben zugänglich, zugleich aber auch zu Spott und Neckerei geneigt, wie denn die Reihe der gefeierten provinzialen Witzbolde nie ausstirbt. Außerdem ist er musikalisch, bildhauerisch und malerisch begabt – vier Esthländer ließen 1817 das erste deutsche Quartett von der Scala di Spagna über die ewige Stadt hintönen, und heute wirken an der Petersburger und an deutschen Akademien mit Auszeichnung sieben Esthländer als Professoren der Malerei oder Bildhauerei; wie auch unter den baltischen Lyrikern die des esthnischen Gebietes eine höchst ehrenvolle Stelle einnehmen. Die Wissenschaft hat unter ihren hervorragendsten Namen einige [403] Esthländer zu verzeichnen: von den Professoren Dorpats und den Mitgliedern der Petersburger Akademie stammt ein großer Theil aus esthnischem Gebiete, und damit auch die Kühnheit der Esthen sich in den Deutschen ihres Landes widerspiegle, gehören Esthländer zu den besten und umsichtigsten Admiralen der russischen Flotte. Ferner finden wir sie im Staatsdienste und unter den höheren Officieren zahlreich vertreten, und die Eisenbahnen Südrußlands sind zu großem Theile von esthländischen Baronen in’s Leben gerufen und gebaut worden. Endlich haben Revalenser die ersten deutschen Buchhandlungen in Petersburg und Moskau gegründet, und das älteste Kaufmannshaus Rußlands blüht noch heute in Reval.

Zu Rußland gehört dieses Land, doch russisch ist es nicht. Und der Staat sollte des Glückes sich freuen, daß ein Finnland, daß die Ostseeprovinzen mit ihrer westeuropäischen Cultur, ihrer Gesetzlichkeit und ihrer wirthschaftlichen Leistungsfähigkeit in ihm ihren Schutz und Bestand suchen. Es ist nicht blos Rußlands Pflicht, ihre Eigenart zu schonen, sondern auch sein eigenstes Interesse.

Nowgorod war ein blühendes Gemeinwesen und lebendiges Zeugniß dafür, daß auch der Russe in freier Verfassung gedeihen und Tüchtiges leisten könne. Da kam Moskau, legte die Stadt in Asche und füllte den Fluß mit den Leichen erschlagener Russen, Was ist Nowgorod seither unter Moskaus Herrschaft geworden?

Möglich, daß man auch dereinst von einer „zertretenen Blüthe Liv-, Esth- und Kurlands“ sprechen wird. Jungesthen und Jungletten steuern – in selbstmörderischer Verblendung – der moskowitischen Herrschaft entgegen. Und wie einst die Großfürsten von Moskau sich nicht blos ihren Titel, sondern auch ihre Staatskunst aus der goldenen Horde der Tataren holten, so ist das Ideal der heutigen Leiter Rußlands am Bosporus und in Geok Tepe gewachsen, und wie ihre Vorgänger um die Gunst der Kirche buhlten, haben auch sie ein Bündniß mit dem Fanatismus der schwarzen Geistlichkeit geschlossen und den Phrasenrausch einiger Journalisten in Dienst genommen, um eine Tyrannis der Günstlinge über den Staat, die Völker und den Kaiser selbst zu üben.

Möglich, daß dereinst eine solche Herrschaft diese Culturoase an der Ostsee vernichten wird! Doch diese ist vom Schicksal nie verzärtelt worden, und der zähe Charakter, den sie in ihrem Entstehen und Wachsen bewiesen hat, der Fleiß ihrer Arbeit, die Tüchtigkeit ihrer Leistungen, die Treue ihrer Sitte – das sind starke Bundesgenossen gegen das moderne Mongolenthum.

E. Heinrich.

Blätter und Blüthen.

Sommerfrischler und Touristen. Das sehnsüchtige Bedürfniß, in der freien Natur seinen durch das städtische Treiben ermüdeten Geist von Neuem zu beleben, welches seit Winckelmann und Goethe den modernen Culturmenschen erfüllt, ist heutzutage leichter denn jemals zu befriedigen. Die Eisenbahn führt alljährlich Hunderttausende nach jenem Lande,

„… wo die Citronen blüh’n,
Im dunklen Laub die Goldorangen glüh’n,
Die Myrthe still und hoch der Lorbeer steht …“

und Millionen von Städtern, nicht nur Einzelnen, wie ehedem, erweist Gott heutzutage „rechte Gunst“, um mit Eichendorff zu reden, schickt sie in die weite Welt und zeigt ihnen seine Wunder „in Feld und Wald“. Mit jedem Sommer entwickelt sich eine steigende Volkswanderung von der Stadt auf’s Land, von der Ebene in die Berge oder an die See zur Sommerfrische. Allgemein ist namentlich in den größeren Städten das Bedürfniß nach zeitweiliger Erholung in Gottes freier Natur. Der Eine geht nicht weit von Hause weg; den Anderen treibt es in entlegene Fernen, und wem es an Zeit und Geld mangelt, der begnügt sich mit sonntäglichen Ausflügen in die Umgegend seines Wohnortes. Doch wie immer diese Schaaren benannt werden mögen: Sommerfrischler, Vergnügungszügler, Touristen, Badereisende, Ausflügler, Bergfexen u. dergl. m. – es ist dasselbe Gefühl, welches sie erfüllt, dasselbe Bedürfniß, welches sie treibt, dasselbe Ziel, welches sie lockt.

Seit Rousseau, Goethe und den Romantikern haben wir das, was Alexander von Humboldt das Naturgefühl genannt hat. Im Anschauen der Natur bewundern wir nicht nur die Majestät ihres Schöpfers, wie der lobsingende Psalmist, schätzen wir nicht nur die Annehmlichkeiten und Behaglichkeiten des Landlebens, wie die Zeitgenossen des Horaz, preisen wir nicht nur das Zweckmäßige und Reichliche oder das Idyllische und Liebliche, wie die kleinen Poeten vor unserer classischen Literaturepoche, sondern wir erfreuen uns der Natur um ihrer selbst Willen.

Was die arbeitsame Menschheit des neunzehnten Jahrhunderts auf’s Land hinaustreibt, ist nun freilich das Naturgefühl nicht allein. Hier haben noch andere Verhältnisse wirksam eingegriffen, vor Allem das Anwachsen der Städte, die mangelhaften Wohnungen in den engen, dichtbevölkerten Großstädten, das Bedürfniß nach Ruhe und Erholung, nach körperlicher Uebung und Abhärtung, nach Luftveränderung, Badegelegenheit etc. neuerdings mit der steigenden Entwickelung der Naturwissenschaften auch das Interesse an wissenschaftlichen Forschungen.

War so mit dem Naturgefühl in dem modernen Städter das Bedürfniß nach der freien Natur vorhanden, so hatten inzwischen die neuen Verkehrsmittel dafür gesorgt, daß der Neigung und dem Bedürfniß auch entsprochen werden konnte, und nachdem diese Vorbedingungen für das Gedeihen des Sommerfrischler- und Touristenwesens gegeben waren, gewann alsbald die neue Erscheinung zusehends an Umfang und Bedeutung. Wie sie zuerst am Rhein auftauchte, wo reisende Engländer über Belgien den Weg nach der Schweiz und Italien nahmen, wie der Rhein gegen Ende der zwanziger Jahre durch Eröffnung einer regelmäßigem Dampfschifffahrt von Basel bis zur See rasch belebt und zum Zielpunkt aller Lustreisenden erhoben wurde, wie inzwischen aus diesen ersten Anfängen in steter Steigerung das moderne Sommerfrischler- und Touristenthum erstand, das gehört, obschon vergangen, der Gegenwart an, weil wir es Alle miterlebten. Heute vollziehen sich mit jedem Frühling und Sommer Einzel- und Massenwanderungen, wie sie keine frühere Zeit gekannt hat.

Da sind zunächst die Sommerfrischler; sie lassen sich mit Kind und Kegel am liebsten in der nächsten Nähe ihres Wintersitzes nieder, in Berlin spreeabwärts und spreeaufwärts bis in die märkische Schweiz hinein, in Wien den ganzen Wiener Wald entlang, in München isaraufwärts und am Starnbergersee, in Dresden bis zur sächsischen Schweiz. Die Königsberger, Danziger, Stettiner, Hamburger etc. gehen an’s Meer oder auf die Inseln, der Binnenländer an den Strom oder See dem Gebirge entgegen.

Im Harz und in Thüringen, im Taunus und am Mittelrhein, in den Vogesen und im Schwarzwald, in der Schweiz, am Bodensee, in den oberbaierischen Bergen und an ihren Seen, in der märkischen, fränkischen, sächsischen, böhmischen, schwäbischen und baierischen Schweiz sind Hunderte von Dörfern und Märkten zu Sommerfrischen geworden und Hunderte auf dem Wege begriffen, es zu werden. Dasselbe sehen wir auf Rügen, Norderney, Helgoland, auf den holsteinischen Inseln oder an den Küsten der Ostsee und Nordsee. Wo Wald, Wasser und Berge sind, da finden sich jetzt gewiß auch Sommerfrischler aus der Stadt ein.

Nicht so der Tourist; er unterscheidet sich von dem Sommerfrischler wie der Unternehmer einer Landpartie vom bloßen Spazierganger; er hat einen Plan und ein Ziel; er macht eine wirkliche Rundreise; er wandert zu Fuß und sucht nicht in der Ruhe, sondern in anstrengenden Märschen Erholung und Anregung; er ist weder alt noch krank, höchstens Hypochonder; er ist ein Mann der Arbeit, und die Berge sind seine Welt, vor Allem die Alpen, aber auch heimische Mittelgebirge. Bewußt und strebend, wie er ist, vereint er sich mit seines Gleichen, und ihm ist es zu danken, wenn die neue Erscheinung, welche er repräsentirt, ihre Tendenz vertieft, ihre Kraft durch Bildung von Vereinen[1] systematisch nutzbar gemacht hat.

Alle diese Vereine haben sich die Aufgabe gestellt, die Kenntniß der Alpen, Vogesen etc. zu erweitern und zu verbreiten, sowie ihre Bereisung zu erleichtern, und zur Erfüllung ihrer Aufgabe veröffentlichen sie in ihren Organen, Monatsschriften und Jahrbüchern Mittheilungen über Theorie und Praxis des Bergfahrtenwesens, oft von geologischem, meteorologischem, anthropologischem, mineralogischem und zoologischem Werth; sie legen ferner neue Wege an oder markiren solche durch Weiser oder Zeichen; sie regeln das Führerwesen, veranstalten gesellige Zusammenkünfte und gemeinsame Ausflüge und erweitern zugleich fort und fort ihre Thätigkeit, welche eine gemeinnützige ist, da sie jedem Bergfreund zu Gute kommt. Wer sich über diese Vereine unterrichten will, findet in dem jüngst erschienenen „Handbuch des alpinen Sports“ von Julius Meurer (Wien, Hartleben’s Verlag) einem allerliebst ausgestatteten eleganten Handbuch, erschöpfende Auskunft.

Erst eine spätere Zeit wird den ganzen Umfang dieser neuen socialen Erscheinung zu erkennen vermögen. Nur nach drei Richtungen hin seien schon jetzt ihre Einwirkungen angedeutet.

Vom Berge droben schaut der Städter in’s Thal, vom Odilienberge etwa in’s Rheinthal, über die weite Ebene mit ihren Hunderten von Dörfern hinweg. Er erkennt in dem Thale das einstige Becken des Rheinsees, wie er vor dem Durchbruche des Stromes bei Bingen vorhanden gewesen; er erblickt in der Heidenmauer die räthselvollen Spuren der Ureinwohner der Gegend; er tritt Angesichts der gewaltigen Burgruinen den Kämpfen vergangener Zeiten näher, und dabei fallen ihm die korn- und weinbepflanzten Abhänge, die Fabriken in der Ebene, das Münster am Saume des Horizonts und tausend andere Dinge in’s Auge, welche anregend wirken und oft zu neuem Streben und schaffen den ersten Anstoß geben. Da spiegeln sich Welten wieder in dem Individuum wie in dem Thautropfen der Sonne, und wenn dann dieser Mann auf der Rückkehr in sein Heim hier noch eine fremde Ausstellung besucht, dort die unvergleichlichen Specialwerkstätten, Museen oder Bibliotheken besichtigt, dann wird sich in ihm – bewußt oder unbewußt – der tiefgehende Einfluß [404] des modernen Touristenthums, wenn auch nicht immer unmittelbar, offenbaren, und er wird die Befreiung von Scholle und Gewohnheit preisen, welche ihm die Enge und Beschränktheit seines Strebens- und Wirkungskreises vor Augen führt und ihn darüber erhebt.

Neben dieser Erweiterung des persönlichen geistigen Horizonts hat das Touristenthum noch das Gute im Gefolge, daß Literatur und Kunst von ihm neue Impulse empfangen; denn es steht in engem Zusammenhange mit der neuen Erscheinung des Touristenthums, daß Dorfgeschichten, Touristen- und Badenovellen in Aufnahme gekommen sind, daß oberbaierische und andere Volksschauspiele gern gehört werden, daß Malerei und alle vervielfältigende Kunst die Landschaftsbilder zu fixiren suchen, welche dauernd erfreuen.

Und endlich hat sich da, wo Sommerfrischler und Touristen verkehren, eine eigene Fremdenindustrie herausgebildet, am vollkommensten zunächst in der Schweiz und in den bekannteren Bade-Orten. Sommerfrischler und Touristen wollen beherbergt, verpflegt und befördert werden und so sind Sommerwohnungen, Villen, Gasthöfe, Wirthschaften etc. zu Tausenden errichtet worden, nicht selten auf Bergeshöhen, welche beschwerlich zu erklimmen sind, oder in Gegenden, wo außerhalb der Fremdensaison jeder Erwerb unmöglich wäre. Nach der Schweiz tragen die Touristen erwiesenmermaßen alljährlich zwischen sechszig und hundert Millionen Mark, und manch armes Fischerdorf an der Küste oder ein armer Markt im Gebirge hat sich in Folge eines rasch aufgeblühten Fremdenverkehrs zu Behaglichkeit und Wohlhabenheit aufgeschwungen.

Sympathisch möge die neue Erscheinung auch in Zukunft beobachtet werden; denn sie ist entwickelungsfähig. Für den Einzelnen wie für die Menschheit bedeutet sie einen neuen Fortschritt. Paul Dehn.     



 Geh’ an den Rhein![2]
Geh’ an den Rhein in Maientagen
Und ruhe an des Ufers Saum!
Die Woge rauscht; die Vögel schlagen
Im blüthgeschmückten Apfelbaum.

5
Im Sommer komm’ zum Strom gezogen

Und siehe, wie er strahlt und lacht!
Um der zerfall’nen Burgen Bogen
Schlingt sich der wilden Rosen Pracht.

Und sind verweht des Sommers Wonnen,

10
Zum Rheine zieh’ im Herbste hin

Und tanzen sieh’ bei vollen Tonnen
Den Winzer und die Winzerin!

Im Winter schaue den Giganten,
Wenn er verderbenbringend dräut,

15
Wenn er die blitzenden Demanten

Auf die geborst’nen Schollen streut!

Und willst du recht den Rheinstrom loben,
Füll’ bis zum Rand das Glas mit Wein
Und leer’ es bis zur Nagelproben

20
Und ruf’: „Hurrah, du deutscher Rhein!“

 Emil Rittershaus.


  1. Dem „Deutschen und Oesterreichischen Alpenverein“ gehören 10,000, dem „Vogesenclub“ 2500, dem „Sächsischen Erzgebirgsverein“ und dem „Gebirgsverein für die sächsisch-böhmische Schweiz“ je 1500, dem „Rhönclub“ 1800, dem „Thüringer Waldverein“ 1300, dem „Lausitzer Gebirgsverein“ 1200, dem „Voigtländischen Gebirgsverein“ 900, dem „Taunusclub“ 800, dem „Schwarzwaldverein“ 600 und dem „Verein der Spessartfreunde“ 500 Mitglieder an, und fast noch mehr Touristen zählen die ähnlichen Vereine in Oesterreich-Ungarn.
  2. Aus einer in diesen Tagen zur Ausgabe gelangenden Anthologie, welche Edmund Lichtenstein-Anageton zu Gunsten der vertriebenen russischen Juden unter dem Titel „Den Manen Auerbach’s“ (Leipzig, Rud. Hartmann) herausgiebt und die wir um ihres interessanten Inhalts wie humanitären Zweckes wegen hiermit der allgemeinen Beachtung empfehlen. Das sehr fleißig zusammengetragene kleine Heft enthält Poesie- und Prosabeiträge aus den hervorragendsten Federn der Gegenwart, aus deren Zahl wir nur die Friedrich Spielhagen’s und Georg Ebers’ nennen wollen. D. Red.     

Für kinderlose, aber kinderliebende Gatten. In dem baierischen Dorfe Wind (Regierungsbezirk Oberfranken, Landgericht Höchstadt, Post Pommersfelden) lebte ein braver Maurer, Namens Hofmann, der durch seine Arbeit im nahen Steinbruch seine Frau und seine fünf Kinder treu und redlich nährte. Am Abend des 17. Februar faßte er seinen Wochenlohn, kaufte sich für zwanzig Pfennig Tabak und machte sich auf den Heimweg. Hatte er auch nur zehn Minuten bis zu seiner Wohnung zu gehen, so führte doch der Weg über einen eben hoch angeschwollenen Bach. Er kam nicht nach Hause; nach mühevollem Suchen fand man ihn am andern Morgen an einen Pfeiler der Brücke angeklammert, aber todt. Die arme Wittwe wurde durch eine Frühgeburt auf das Krankenbett geworfen. Die Halbwaisen sind ohne Versorger. Da bittet die so hart bedrängte Mutter, daß edle Menschenfreunde ihr die Sorge für die Zukunft ihrer Kinder erleichtern, eins oder das andere zur Erziehung zu sich nehmen möchten. Nur die dringendste Noth bringt ein Mutterherz zu solcher Bitte.

Der Kinderkreis besteht aus einem achtjährigen Knaben und vier Mädchen. Wir wissen nun zwar aus Erfahrung, daß Kinderlose bei Adoptionen schwer an die Wahl eines Knaben gehen, aber hier möchten wir dringend eine Ausnahme wünschen. Nicht verschweigen dürfen wir, daß die Hofmann’schen Kinder der katholischen Kirche angehören; die Mutter wünscht, daß sie in ihrem Glauben erzogen werden möchten. –

Im Jahrgang 1880, S. 120, stießen wir den Seufzer aus: „Kinder genug, aber wo bleiben die Eltern?“ Diese Frage besteht, nach den Berichten unsers ebenso rastlosen wie gewissenhaften und opferfreudigen Vertrauensmannes in der Waisenversorgung, des Herrn Schuldirector Otto Mehner in Burgstädt (bei Chemnitz), heute noch zu Recht, aber dennoch müssen wir hiermit auch Kinder für Eltern suchen. Denn wer wird es einem Ehepaare, das ein Kind zu sich nehmen will, verargen, wenn es in Betreff desselben noch ganz besondere und bestimmte Wünsche äußert? Da wir aber doch die Kinder nicht immer von allen Altern und Arten zur Auswahl haben können, so ist unser Vertrauensmann in diesem Augenblick genöthigt, für Familien, von welchen wir überzeugt sind, daß sie für das Glück der ihnen Anvertrauten bürgen, folgende Kinder zu suchen: ein Mädchen von sechs bis zwanzig Monaten, Vollwaise; ein Pärchen von ein bis zwei Jahren, Vollwaisen; ein Mädchen von zwei bis drei Jahren, Vollwaise; ein Mädchen von ein bis zwei Jahren, Vollwaise; alle von ehelicher Geburt. Daß alle diese Ehepaare die Kinder sich auch hübsch und gesund wünschen, versteht sich von selbst. Die Anmeldungen richte man entweder an die Redaction der „Gartenlaube“ oder an unsern oben genannten Vertrauensmann! D. Red.     


Garibaldi! – Noch einmal flog dieser Name auf Draht, Schiene und Woge rings um die Erde und erweckte die Theilnahme, ja die Trauer Aller, die einen Mann zu würdigen vermögen, der für sein Vaterland das Höchste geleistet und von der höchsten Machtstelle freiwillig zurücktrat, so groß an Selbstlosigkeit wie an Muth, auf Italiens Boden ein zweiter Cincinnatus, und größer als der erste.

Wenn wir in diesen Tagen die öffentlichen Stimmen vergleichen, welche, von den verschiedensten Parteistandpunkten, dem Todten von Caprera ihren Nachruf brachten, so muß uns eine Wahrnehmung wieder freudig erheben: wie oft auch der altgewordene Garibaldi menschlicher Schwäche verfallen war, so wurde dies jetzt doch nur leise, nur mit scheuem Finger berührt, und die Großthat seines Lebens und die Reinheit seiner Ziele erhielten den unbefleckten Kranz, den nicht blos seine Nation ihm bewahren wird, so lange es ein Italien giebt, sondern der von den freiheitliebenden Herzen aller Nationen immer in Ehren gehalten werden wird.

Die „Gartenlaube“ hat dem italienischen Volkshelden eine lange Reihe von Artikeln von seinem denkwürdigsten Triumphjahre 1860 an bis 1875 gewidmet und ihn im Bildniß ihren Lesern viermal vorgestellt. Deshalb dürfen wir uns wohl heute darauf beschränken, vor der Hand auf jene ausführlichen Schilderungen seiner zahllosen Kämpfe in drei Erdtheilen, auf sein oft wie von der Sage ausgeschmücktes Leben nur hinzuweisen, indem wir unsern Lesern ein seinen Lebensgang abschließendes Charakterbild einstweilen noch vorbehalten. Wir Deutschen können auch gern über die Verirrung hinweggehen, die ihn in Frankreich die Waffen gegen uns zu führen verleitete: der unerschütterliche Anhänger der Republik focht für eine solche, die er von seiner obersten Göttin, der Freiheit, geführt glaubte; wie ritterlich er und sein Sohn die deutsche Tapferkeit zu ehren verstanden, bewiesen sie nach dem Gefecht bei Dijon, wo die einzige preußische Fahne, die während des ganzen Kriegs verloren ging, von Menotti Garibaldi freiwillig zurückgegeben wurde, weil sie unter einem Leichenhügel ihrer Vertheidiger gefunden worden war.

Wenn einst Italien den Männern, welche ihm seine nationale Freiheit und Einheit wiedergaben, ein gemeinsames Denkmal errichtet, so wird von den Dreien – neben Mazzini und Cavour – als der Mann der That Josef Garibaldi einen erhöhten Platz einnehmen dürfen. Und wenn dankbare Nationen in jedem Völkerbefreier einen Edlen der Menschheit ehren, so wird auf Garibaldi’s Haupt auch nie ein deutscher Kranz fehlen.


Kleiner Briefkasten.

R. S. in E. Gegen Ihre Behauptung, daß Sie der jüngste Soldat des deutsch-französischen Krieges von 1870 bis 1871 seien (Nr. 7, S. 120 dieses Blattes), ist kein Einwand laut geworden. Dagegen hat unsere Frage: „Wer war der älteste?“ eine Antwort erhalten. Als Aeltester unter der Zahl derjenigen, welche, natürlich vom Feldwebel abwärts, 1870 und 1871 vor dem Feind gestanden, meldet sich Friedrich Wilhelm Alexander Borghard, gegenwärtig königlich preußischer Steueraufseher in Löderburg bei Staßfurt. Er ist 1821, am 6. April geboren, trat am 4. April 1842 als Freiwilliger beim 3. Artillerie-Regiment zu Magdeburg ein, diente voll activ zwölf Jahre, ward 1855 berittener Schutzmann und ging dann zum Steuerdienst über. In dieser Stellung hatte er nahezu das fünfzigste Jahr erreicht, als er, beim Ausbruch des Krieges gegen Frankreich, am 21. Juli 1870 wieder in die Armee eintrat, und zwar in das vierte Feldartillerie-Regiment. Er wurde bei Sedan vom Unterofficier zum Sergeanten befördert und schied am 31. März 1871 aus der Armee wieder aus, um in seine jetzige Stellung zurückzukehren. Vom Officierscorps, welches die Berufssoldaten für’s ganze Leben umfaßt, muß bei obiger Frage natürlich abgesehen werden, sonst wäre Kaiser Wilhelm als der zweitälteste Soldat zu verzeichnen, da ihn nur Steinmetz um zwei Monate und sechsundzwanzig Tage an Alter überragt.

K. M. in München. Es wird Sie freuen, daß wir den Ihnen jüngst gesandten Mittheilungen über den Fortgang der „Feriencolonien“ noch Folgendes beifügen können. German Mäurer in Paris schreibt einem alten Freunde unseres Blattes: „Gestern (14. Mai) beschied mich der Unterrichtsminister zu sich und beauftragte mich mit der Uebersetzung eines Artikels aus der ‚Gartenlaube‘ über die ‚Feriencolonien‘, da er in Frankreich Aehnliches, wie die deutschen ‚Feriencolonien‘, zu organisiren beabsichtigt.“ – Dazu wünschen wir unser herzlichstes Glück auf! – Bei dieser Gelegenheit können wir nicht umhin, auf des oben genannten German Mäurer jüngstes Werkchen hinzuweisen. Es ist „Der neue Eulenspiegel, wie er für unsere Zeiten paßt – in deutschen Reimen abgefaßt“ (Paris, Verlag von Wilh. Mauritius) – auch eine Art Laienbrevier, aber mit kräftigen Stacheln. Zu den schärfsten möchte das Gedicht: „Was im Werden ist. Ein Beitrag zur Chronik der Rheinlande etc.“, gehören. Kennzeichnend für den Autor ist schon das Motto seiner Sammlung:

„Schrieb’ ich, ohne zu gefallen
Auch nur Einem, ’s wär’ mir greulich;
Doch gefiel’ dies Werkchen Allen,
Hielt’ ich’s selbst für ganz abscheulich. –“


Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Wikipedia: w:Uexküll
  2. ADB:Lossius, Johannes
  3. Vorlage: Urtel