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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[373]

No. 23.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Engelid.

Novelle von Balduin Möllhausen.
(Fortsetzung.)


„Für zwei Nächte und einen Tag mache ich von Deiner Gastfreundschaft Gebrauch,“ erklärte Knut, indem er der einsamen Schärenbewohnerin die Hand zum Gruß reichte und ihr in die Hütte folgte, „dann findet sich wohl Jemand, der mich nach Frägö übersetzt. Da halten die Dampfschiffe; die bieten mir Gelegenheit, für ein Billiges schnell nach dem Sogne-Fjord hinunter zu kommen.“

„Ich selber werde Dich übersetzen,“ antwortete das Mädchen, – als ein solches glaubte Knut die kräftig gewachsene Gestalt in der unbestimmten Beleuchtung zu erkennen – „doch das eilt nicht. Magst Dich zuvor einige Tage im Hause des alten Saitenspielers ausruhen. Da – setze Dich an den Tisch! Wer am Strande herum hierher kommt, hat sich müde und hungrig gegangen. Ich will Dir ein Mahl bereiten. Auch Wachholderbranntwein hab’ ich noch, und der ist doppelt so viele Jahre alt, wie der Olaf todt ist, und wohl noch älter; er wird Deine Kräfte auffrischen. Der Olaf lobte einen guten, mäßigen Trunk, und deshalb hielt ich braunes Bier seitdem, um es einem Gaste vorsetzen zu können.“

Sie schürte das Feuer und legte dürre Reiser auf, daß die Flammen höher emporschlugen; die Flammen aber erhellten nicht nur das Gemach, sondern verdrängten auch den Rauch, der unter der geschwärzten Balkendecke hing und den Luftlöchern oberhalb der Thür träge zuschlich.

„Nielsen,“ sagte sie nach der anderen Seite des Gemaches hinüber, „geh’ und hole die drei beste Makrelen herein! Nimm von den heute geangelten! Die sind noch nicht gedörrt. Im Vorbeigehen pflücke etwas Lauch – wirst’s ja finden im Dunkeln – das bringe mir!“

Alsbald begann es sich in dem Winkel zu regen, und Knut bemerkte einen gekrümmten Mann mit auffallend langen Armen und wirrem weißem Haar, der unter einer grellfarbig gemusterten wollenen Decke hervorkroch. Der Alte warf ihm einen blöde lächelnden Blick zu und griff nach einem Krückstock; sich schwer stützend, hinkte er zur Thür hinaus.

„Ich nahm ihn zu mir, nachdem der Olaf das Zeitliche gesegnet,“ erklärte die Hausbesitzerin während sie in einer Schüssel Hafermehl mit etwas Ziegenmilch und Wasser zu einem Brei zusammenrührte, dabei aber jede Gelegenheit benutzte, unbemerkt einen Blick ängstlicher Spannung auf ihren Gast zu werfen, „ich that es aus Barmherzigkeit, aber auch, weil ich in der Einsamkeit das Reden nicht verlernen wollte. Nebenbei gebrauchte ich Jemand, der mir beim Fischen und Dörren hülfreiche Hand leistete. Sein Brod verdient er reichlich. Mag es mit seinen Füßen nicht ordentlich bestellt sein, in den Armen besitzt er dagegen große Kräfte. Im Boot arbeitet er für Drei.“

Knut antwortete nicht, und indem er bei der zunehmenden Helligkeit um sich sah, nahm sein ernstes Antlitz einen überaus schwermüthigen Ausdruck an. Er mochte sich fragen, ob in der That so viele Jahre verstrichen seien, seitdem er auf seinen Küstenfahrten den alten Olaf zum letzten Mal besuchte; denn Alles lag und stand noch wie damals. Tage schienen erst darüber hinweggegangen zu sein.

Die rauchgeschwärzten Wände und Tragebalken, von welchen an Drähten mehrere gedörrte, seltsam gestaltete Fische als eine Art Meerwunder niederhingen, hatten nicht die kleinste Wandlung erfahren. Da standen noch der mit phantastischen Schnitzereien verzierte Schrank und die alte Truhe mit den barocken Malereien, standen die schweren Holzschemel, stand der plump gezimmerte Tisch mit den Kreuzfüßen und der breiten Platte, und vor Allem das mit einer farbenreichen, wunderlich gemusterten Decke belegte Bett. Jedes einzelne Stück erkannte er wieder; wie ein alter Freund erschien ihm sogar der oberhalb des Herdes mit der Wand vereinigte rußige Drachenkopf mit dem langen Halse und der sägeförmig ausgezackten Mähne, welche dem Kessel als Träger diente und es ermöglichte, denselben, je nach Bedarf, höher oder niedriger über das Feuer zu hängen. Der greise Olaf – ach! der fehlte zwar, aber die Langeleike lag noch auf ihrer alten Stelle auf einem bunt geschnitzten Tragebrett.

Knut betrachtete das Mädchen, welches sich mit einer gewissen würdevollen Ruhe vor dem Herd einherbewegte und deren Gestalt in der unsteten röthlichen Beleuchtung eine wunderbar einheitliche Beziehung zu der düsteren Umgebung gewann. Jeder Griff der arbeitsgewohnten Hände, jeder Schritt schien genau berechnet zu sein, eine so eigenthümliche Sicherheit offenbarte sich in denselben. Sogar in der Art, wie der kräftige, straff bekleidete Oberkörper sich in den breiten Hüften wiegte, lag etwas wie männliches Selbstbewußtsein, oder vielmehr wie die Ueberzeugung, blindlings nur den jeweiligen eigenen Regungen folgen zu brauchen, um keinen Mißgriff zu begehen. Ihr Antlitz, welches die Bezeichnung einer gereiften Schönheit verdiente, kehrte sich meist dem Feuer zu. Knut sah daher nur wenig von demselben und das Wenige blos flüchtig. Dagegen fesselte seine Aufmerksamkeit das goldblonde Haar, welches, ganz gegen die Landessitte, in zwei schweren Flechten das stolzgetragene Haupt umschlang. Er meinte, ähnliches Haar schon früher gesehen zu haben. Wo, wo?

[374] „Es hat sich in den letzten zehn Jahren hier nichts geändert,“ brach er endlich das Schweigen, und zwar weniger, um seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen, als um dem Mädchen eine Art Höflichkeit zu erweisen, „Alles liegt und steht wie vor Zeiten; damals gab es zuweilen einen lustigen Abend hier, wenn ich mit einem Fäßchen Bier eingetroffen war und der alte Olaf sein Saitenspiel hervorholte. Die ganze Stube war voller Geister, wenn er sang. Alles bebte und webte: die Balken wie die Herdsteine und die vertrockneten Scheusale und Meerdrachen da oben an der Decke. Die ganze wilde Jagd sang er herbei, zumal wenn das Meer draußen siedete und kochte; dann ging es um’s Haus herum, wie mit zehntausend Gespenstergäulen.“

„Ja, der Olaf war ein großer Sänger,“ gab das Mädchen erzwungen gleichmüthig zu; „manche Nacht kosteten seine Gespensterlieder mich den Schlaf, bevor ich mich daran gewöhnt hatte. Jetzt hat der Nielsen die Sorge übernommen, daß die Langeleike nicht dumpf und faulig wird. Wenn ihm der Kopf darnach steht, spielt und singt er stundenlang. Ihm ist es eine Lust, zu dem Saitenspiel zu krächzen, wie ein Seerabe, und ich hör’s gern wegen des Gedächtnisses. Hab’ in jüngeren Jahren manches liebe Mal den Fuß zum Tanz gehoben, wenn der alte Olaf aufspielte,“ und verstohlen sandte sie einen heißen Blick zu dem vor sich auf den Tisch niederschauenden Gast hinüber.

„Hast wohl lange bei ihm gewohnt?“ forschte Knut gleichmüthig, um die Unterhaltung nicht wieder in’s Stocken gerathen zu lassen.

„An die acht, neun Jahre. Nicht eine Stunde gereut mich, die ich bei ihm verbrachte.“

„Da müßt Ihr gute Freunde gewesen sein?“

„Sehr gute Freunde! Wir hatten keine Geheimnisse vor einander.“

„Sprach er jemals zu Dir von einem gewissen Knut, als von Jemand, mit dem er auf einem freundschaftlichem Fuße gestanden, und der vor einer Reihe von Jahren außer Landes gegangen?“

Das Mädchen neigte sich tiefer über eine Pfanne, in welche sie den Haferteig legte und aus einander preßte. Erst nach längerem Zögern und als ob die Arbeit ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen habe, antwortete sie gedämpft:

„Von Allem sprach er, auch von dem Knut Knutsen.“

„Auch von der Ursache, die jenen von dannen trieb?“

„Auch davon.“

„Ich selber bin der Knut.“

„So?“ fiel es eintönig von des Mädchens Lippen.

„Ich gab ihm vor meiner Abreise einen Schlüssel,“ fuhr Knut in seiner ruhigen Weise fort, „einen Schlüssel und – nun – auch andere Dinge in Verwahrung; verlor er jemals ein Wort darüber?“

„Einen Schlüssel hinterließ er mir,“ antwortete das Mädchen. „Er sagte, der Eigenthümer würde selber kommen, ihn zurück zu fordern.“

„So glaubte er an meine Heimkehr?“

„Keinen Augenblick zweifelte er an ihr; es konnte nicht anders sein – Du mußtest ja kommen.“

In dem Ausdrucke, mit welchem sie sprach, offenbarte sich eine eigenthümliche Zuversicht, die Knut überraschte. Schärfer sah er zu ihr hinüber, doch vergaß er den Eindruck ebenso schnell wieder, als Nielsen herein hinkte; der alte Mann legte die bereits geschlitzten Fische, die er sorgfältig gewaschen und gesäubert hatte, sammt dem Lauch auf den Herd, deckte den Tisch vor Knut, stellte ein kleineres und ein größeres Glas vor den Teller und zündete endlich eine auf hölzernem Fuße befestigte Thranlampe an.

Knut, unablässig des verstorbenen alten Freundes gedenkend, beobachtete mit einer gewissen Theilnahmlosigkeit die beiden schweigsamen Gestalten. Obwohl für ihn beschäftigt, schienen dieselben seine Anwesenheit vergessen zu haben, und sogar als das Mädchen die Speisen für ihn auftrug, einen Krug Wachholderbranntwein und eine Kanne Bier neben die Gläser stellte, änderte sich nichts in ihrem ernsten, beinahe finsteren Wesen.

„Nun laß Dir’s schmecken,“ sagte sie; „daß Du Wachholder und Bier in einem Hause findest, in welchem sonst nur kühles Wasser aus den Felsspalten getrunken wird, mag Dir beweisen, wie zuversichtlich Du erwartet wurdest – seit Jahren.“

Knut sah flüchtig zu ihr auf. Sie hatte sich bereits abgekehrt und schritt wieder nach dem Feuerherd hinüber, von wo aus sie ihren Gast mit unverkennbarer Theilnahme beobachtete. Sein guter Appetit erfreute sie sichtbar. Einmal schien es sogar, als ob ihre großen, ernsten, blauen Augen einen feuchten Glanz erhielten, als ob es sich wie ein Zug der Enttäuschung um ihre vollen rothen Lippen lagerte. Doch schon nach einigen Secunden hatte sie die Haltung einer sorgsamen Aufwärterin zurückgewonnen.

Nielsen kauerte wieder in dem Winkel auf seine Decken und schaute vor sich auf die brennende, kurze Pfeife nieder. Und so vernahm man längere Zeit hindurch nichts als das leise Klirren von Gabel und Messer oder das Geräusch, mit welchem Knut das Bier aus der Kanne in sein Glas füllte. Gelegentlich rühmte er auch die Zubereitung der Speisen und meinte, daß es ihm seit Jahren nicht gemundet habe wie heute und daß er gerade jetzt recht wonnig empfinde, wieder in der Heimath zu sein.

„Ich bin sonst kein Schwelger,“ bemerkte er, indem er endlich den Teller zurückschob und nach seiner Tabakspfeife griff, um sie zu füllen, „ein Trunk Wasser, etwas Brod und eine Kleinigkeit dazu ist Alles, was ich zum Leben bedarf. Nicht zehn Schritte geh’ ich nach einem Leckerbissen. Aber um eine echt norwegisch zubereitete Makrele, einen Haferkuchen und eine Schüssel Moltebeeren, Gerichte, bei denen ich groß geworden, da reise ich meine tausend Meilen.“

Ueber des Mädchens ernstes Antlitz zuckle ein Blitz der Freude. Schweigend nahm sie das citherartige Instrument von dem Wandbrett, und es vor Nielsen auf eine leere Kiste legend, forderte sie ihn auf, zu spielen, um die Erinnerungen des Gastes noch mehr anzuregen. Auch nannte sie ihm einige Tänze, nach deren Tact sie in früheren Jahren sich im Reigen gedreht habe.

Während der alte Mann die Langeleike bedächtig stimmte und hin und wieder prüfend einen Accord anschlug, entfernte das Mädchen Teller und Speisereste. Das Tischtuch blieb, ebenso Krug, Kanne und Gläser. Dann nahm sie Knut gegenüber Platz, und als derselbe sie scharf ansah, rötheten ihre Wangen sich tiefer, und ängstlich schauten ihre Augen ihn an. Doch ebenso schnell trat die auflodernde Gluth zurück; matt senkten sich ihre Lider, und eine melancholische Melodie, welche Nielsen in diesem Augenblicke anstimmte, schien sie zu beruhigen; denn sie hob alsbald mit ihrem tiefen Organ an:

„Wenn Nielsen spielt, hört und sieht er nicht, was um ihn her vorgeht. Wir mögen mit einander reden, als ob wir uns allein hier befänden.“

Knut horchte hoch auf, ohne indessen seine Pfeife zu vernachlässigen. Er erwartete nähere Mittheilungen von dem verstorbenen Olaf, und schon schwebte eine darauf bezügliche Frage ihm auf den Lippen, als das Mädchen hastig fortfuhr:

„Vom siebenzehnten bis zum siebenundzwanzigsten Jahre ist ein langer Schritt. Da geht im Menschen eine große Veränderung vor sich – ich meine in seinem äußeren Ansehen. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn Du mich nicht wieder erkanntest.“

Noch immer blickte Knut forschend und zugleich zweifelnd in das schöne, ruhige Antlitz des Mädchens ihm gegenüber. Erinnerungen tauchten wohl in ihm auf, allein er wußte nicht, wohin sie zu bringen seien.

„Begegnet müssen wir uns im Leben sein,“ sprach er sinnend, „denn bekannt genug erscheinst Du mir, aber –“ er stockte und spähte schärfer in die Augen, in welchen es wie Thränen erglänzte, die aber sogleich wieder durch eine trotzige Bewegung geklärt wurden.

„So will ich Deinem Gedächtniß auf den richtigen Weg helfen,“ nahm das Mädchen schnell das Wort, „vergegenwärtige Dir die Nacht im Lyster-Fjord – Deine letzte war’s in diesem Lande – in welcher Du mit dem Jansen –“

„Engelid, so wahr mir Gott helfe!“ fiel Knut lebhaft ein, und er reichte ihr die Hand über den Tisch, zog sie aber nach einem kräftigen Druck gleichmüthig zurück; „ja, Engelid, jetzt erkenn’ ich Dich so gut, als wären wir gestern erst aus einander gegangen – aber Du hast Dich sehr verändert, und dann Deine Anwesenheit hier, so weit fort vom Lyster-Fjord, auf einer Schäreninsel – da ist’s nicht zum Erstaunen, wenn ich auf Dich sah, wie auf eine Fremde, zumal mit meinen Gedanken an den todten Olaf. Wirklich, Engelid, sehr verändert! Bist sogar noch gewachsen, und häßlicher bist Du am wenigsten geworden. Wer hätte geglaubt, daß ich Dir gerade hier noch einmal begegnen würde!“

Engelid’s Antlitz hatte bei diesen kalt-freundlichen Erklärungen einen sorgenvollen Ausdruck angenommen.

[375] „Und ich,“ hob sie an, „ich erkannte Dich am ersten Ton Deiner Stimme trotz der Dunkelheit. Freilich, Knut, weil’s der Olaf beschwor, daß Du eines Tages plötzlich vor mir hintreten würdest, hab’ ich auf Dich gewartet alle die langen Jahre. Wenn nur immer ich sah, daß Jemand in einem Boote sich der Insel näherte, meinte ich, Du müßtest es sein. Im Lyster-Fjord hättest auch Du mich erkannt – das weiß ich so genau, wie der Olaf wußte, daß Du heimkehren würdest. Und nach keinem anderen Orte der Welt konntest Du gehen, als gerade hierher, um Dein Eigenthum wieder an Dich zu nehmen.“

„So hast Du nicht geheirathet?“ fragte Knut wie beiläufig.

„Wen hätte ich heirathen mögen?“ erwiderte Engelid, und Knut, sorglos in seine Pfeife hinabschauend, gewahrte nicht, daß sie die Farbe wechselte.

„So hat’s nur an Dir gelegen?“ fragte er ruhig.

„An mir hat es wohl gelegen, Knut – was soll ich’s leugnen? Hier auf der Insel war ich sicher gegen Anträge. Es lag eine Art Gleichheit in unseren Schicksalen; denn ich wollte mir einen eigenen Herd nicht gründen, und Du konntest es nicht; bei Deinem Umherschweifen auf fernen Meeren und bei dem Gedanken an Deine Heimathlosigkeit war es Dir unmöglich, Dich viel um irgend ein Mädchen zu kümmern. Außerdem trugst Du Dich mit dem Bewußtsein, einen Menschen erstochen zu haben – und doch könnte der Jansen seiner Wunde wegen heute noch leben –“

„Ich hörte davon,“ fiel Knut gelassen ein, „und ich gesteh’s, das Herz ist mir seitdem leichter geworden. Ich möchte sonst wohl ganz fortgeblieben sein, um nicht daheim alle Tage an die Blutschuld erinnert zu werden.“

Engelid betrachtete sein gesenktes Antlitz einige Secunden starr, und mit regerem Eifer fuhr sie dann fort:

„Dein Schicksal hat mich schwer bedrückt alle die langen Jahre hindurch, und darum mied ich den Verkehr mit anderen Menschen. Wenn sie mich ansahen, glaubte ich in ihren Augen einen Vorwurf zu lesen, weil ich Dein Unglück verschuldete. Ich war damals ein junges, einfältiges Ding, und die schönen Worte, welche Du beim Tanz zu mir sprachst, o, die waren mir tief in’s Herz gedrungen, und hätte des Jansen Messer Dich tödtlich getroffen, so hätte ich mich vom nächsten Felsen hinabgestürzt, um neben Dir begraben zu werden, Knut. Ich wiederhol’s, ich gab die Ursache zum Streit, und hätten die Leute mich nicht zurückgedrängt, so wäre ich, als sie Dich mit dem Jansen zusammenschnallten, an Deine Seite geeilt, um jeden für Dich bestimmten Stoß auf die eigene Brust zu leiten. Daß ich Dir eine Sühne schuldig sei, dieser Gedanke hat mich nicht verlassen bis auf den heutigen Tag. Und nun? Was mir Nachts in meinen Träumen kund geworden, was der alte Olaf mir in seinen wilden Liedern gesungen, nun ist es Wahrheit geworden: Du bist heimgekehrt, und ich mag die Bürde von meiner Seele wälzen, ich mag zu Dir sprechen: Knut, um meinetwillen bist Du so viele lange Jahre in der Welt umhergeirrt; um meinetwillen hast Du unter dem Bewußtsein eines Mordes Dich so lange gewunden – nun verzeihe mir um des Leids willen, welches ich selber ebenso lange erduldete! Ja, Knut, ich wußte, wie Alles kommen würde; ich hätte es gewußt, ohne daß der Olaf es mir prophezeite. Und der war ein weiser Mann; der kannte viele Geheimnisse, war klüger, als andere Menschen; denn er hatte als Kind von seiner Aeltermutter Runenzeichen kennen gelernt. Um Dich herbeizurufen und Dir den Weg zu zeigen, schnitzte er einen Zauberreim in den Balken oberhalb der Thür. Ja, blick’ hinüber! Du kannst ihn heute noch sehen, schwarz, wie er allmählich vom Rauche geworden. Da steht’s mit Zeichen geschrieben, die kein Anderer mehr deutet: ‚Willkommen, Knut! Durch diese Thür sollst Du einziehen zu Deinem Glücke.‘ Statt des todten Olaf ruf’ ich Dir nun zu, wie er mir’s vorschrieb: Willkommen, Knut, tausendmal willkommen! So oft willkommen, wie Sterne in klaren Winternächten am Himmel stehen, so oft willkommen, wie das Meer im Sturme Schaumperlen abwirft!“

Sie sprach es mit dem vollen Tone der Leidenschaft; hastig ergriff sie seine Hand und blickte ihm in die Augen, so innig, so liebevoll und doch so bange; ihre Wangen rötheten sich tief vor Freude und heimlicher Angst, als ob sie von seinen Lippen eine endgültige Entscheidung zwischen namenlosem Glücke und jähem Tode erwartete.

Wie ein Schlaftrunkener hatte Knut seine Hand in die Engelid’s gelegt. Er wagte nicht, wie zuvor, sie sogleich wieder zurückzuziehen. Räthselhaft, dunkel war ihm der Sinn von dem, was er gehört. Der Zeiten, deren Engelid erwähnte, entsann er sich zwar, nicht minder aller zwischen ihnen gewechselten Worte, aber sie hatten ihm nicht mehr gegolten, als harmloses Geplauder, wie es sich uns wohl auf die Lippen drängt, wenn Musik und Tanz uns das Blut schneller kreisen machen. Und was er damals – vor langen Jahren – so obenhin gesprochen, das hatte sie so tief genommen und bis heute treu gehegt? Ihr Glück hatte sie verscherzt um seinetwillen, sie, die da geschaffen war, Licht um sich zu verbreiten, wo sie nur erschien? Mitleid mit ihrem Schicksale beschlich ihn. Und wie schön war sie heute noch, heute, da ihre Reize voll erblüht waren! Wie rührend stand ihr das ernste, zuversichtliche Wesen!

Schweigend, aber noch immer Hand in Hand, saßen die beiden Jugendgefährten einander gegenüber, Engelid mit tödtlicher Spannung, Knut mit sich zu Rathe gehend, was er am besten antworten werde. Grübelnd starrte er vor sich auf den Tisch, aber er fühlte, wie die Blicke aus den großen blauen Augen mit Seelenangst an seinen Lippen hingen.

Noch immer erklangen die wild melancholischen Weisen des alten Nielsen. Es war etwas Geisterhaftes in den sich seltsam an einander reihenden Molltönen. Sie standen im Einklange mit der äußeren Erscheinung des langarmigen gnomenhaften Spielers, mit der düsteren Umgebung, auch wohl mit den Gedanken, welche die beiden stillen Gestalten an dem Tische beseelten.

Trübe schwälte die Lampe. Die letzten Reiser über der Herdgluth flackerten noch, und mit ihnen flackerten und tanzten sonderbare, unförmliche Schatten an den Wänden, die Umrisse der alten Möbel und Geräthe des Gemachs. Der Drachenkopf mit dem gemähnten Halse glühte in der rothen Beleuchtung. Die Schnitzereien an den Möbeln wanden sich durch einander; es grinsten und schielten die von den geschwärzten Balken niederhängenden Ungethüme mit den gespreizten Flossen, den breiten Mäulern und den stacheligen Bartfäden, als wollten sie sich, des sie umschwebenden ätzenden Rauches überdrüssig, mit Gewalt von den Drähten losreißen, an denen sie hafteten.

Endlich sah Knut wieder empor; er blickte in die regungslos auf ihm ruhenden Augen Engelid’s. Es drängte sich ihm die Empfindung auf, er werde von dem Mädchen als unveräußerliches Eigenthum betrachtet; das kränkte sein Selbstbewußtsein, und zugleich erwachte in ihm ein Gefühl des Verdrusses. Mit einer Bewegung des Gleichmuthes zog er seine Hand aus der Engelid’s, und dann sagte er ruhig, jedoch nicht unfreundlich:

„Es klingt gar wundersam, was Du mir da erzählst, Engelid, wundersam, daß ich’s nicht begreife. Wie mochtest Du leichtfertigen Worten, die auf dem Tanzplatze, wenn die Köpfe brennen, zu Dutzenden fallen, so großen Werth beimessen –?“

„Knut!“ rang es sich von Engelid’s bebenden Lippen. „Deine Worte, so innig, so heiß – und gleich darauf Dich mit dem Jansen zusammengeschnallt zu sehen, in den Händen die Messer, in den Augen wilde Feindschaft, und dies Alles um meinetwillen – das gab meinem Herzen einen Stoß: ich trug die Schuld an Deinem Schicksal – ich! O, ich meinte, nie wieder froh werden zu können – und ich bin’s auch nicht mehr geworden.“

„Engelid,“ nahm Knut, die Brauen runzelnd, wieder das Wort, „spiele nicht länger mit Trugbildern aus Deinen Kinderjahren! Und wenn’s bisher geschah, so ist’s am wenigsten meine Schuld. Denn Dir mit Liebesschwüren die Ruhe zu verkümmern, kam mir nie in den Sinn –“

„Nein, nein, Knut, das weiß ich,“ warf Engelid unsäglich herbe ein.

„Und Schuld an meinem Schicksal,“ fuhr er fort, „trägst Du auch nicht, Engelid. Der Jansen hatte mich beleidigt, nicht Dich. Hätte er meinen Stuhl fortgenommen oder mit Willen mein Bier umgestoßen, wär’s nicht anders gekommen, als nachdem er die Hand an meinen Tanzpartner gelegt. Also sei vernünftig und rede nicht von einer Gewissenslast, von der ich nichts weiß, auch nicht von Sühne oder Verzeihung!“

„Armer Knut,“ versetzte Engelid weich, „wie hast Du doch Alles vergessen! Aber es konnte nicht anders sein; denn zehn Jahre lang bist Du mit der vermeintlichen Blutschuld auf dem Gewissen in der Welt umhergeirrt. Die Heimath mit Allem, was Du hier zurückließest, lag Dir so fern, daß Du sie kaum noch mit [376] den Gedanken erreichtest, und da ist’s nicht zum Erstaunen, wenn Manches Deinem Gedächtniß entfiel. Vielleicht streichest Du es auch mit Gewalt aus, um Ruhe zu finden. Daraus macht Dir Niemand ein Arg; Du handeltest sogar klug. Aber hättest Du gelebt wie ich, wärest Du mit Deinen Gedanken so viele Jahre allein gewesen, so möchte es Dir verständlicher sein, daß Dein Unglück an meinem Gewissen nagte. Du bist eben ein wenig verhärtet – das höre ich an Deiner Stimme, und jetzt, da Du weißt, daß kein Blut an Deinen Händen klebt, wird Dir’s schwer, Dich schnell wieder zu ändern; zu lange Zeit ist darüber hingegangen. Doch es wird kommen, Knut, ja es muß kommen über kurz oder lang, daß Du wieder lachst, wie ehedem, auch wohl Jemand findest,“ und ihre Stimme wurde unsicherer, „der Dich liebt und verehrt; Dein Herz wird erwachen wie die Birken drüben in unseren Thälern, wenn nach dem langen kalten Winter die Sommersonne ihr Licht entfaltet.“

„Engelid,“ unterbrach Knut sie mit einer Geberde der Ungeduld, „wenn Du meiner freundlich gedachtest alle die langen Jahre, so danke ich Dir’s. Aber das Andere laß’ bei Seite! Mich sollte Jemand lieben und verehren, meinst Du? Was Du in diese Worte legst, errath’ ich so halb und halb, und da gestehe ich, damit Du’s auch Anderen sagen magst: So wenig ich damals daran dachte, mich nach einer Frau umzusehen, ebenso wenig denke ich heute daran. Mußte ich nicht außer Landes, möcht’s vielleicht anders gekommen sein; jetzt hingegen paß’ ich zum Ehestand wie der alte Spielmann dort. Der Gedanke daran ist mir schon ein Gräuel. Aber Du, wahrhaftig, Du hättest einen Mann nehmen sollen.“

„Was Du sprichst, Knut, klingt hart, sogar feindselig, aber kränken kann es mich nimmermehr,“ sagte Engelid ruhig. „Suchte ich die Einsamkeit und wollte keines Mannes Weib werden, so ist das meine Sache. Sollte ich mich Jemand zu eigen geben, der mir zuwider, Jemand dienen und ihm unterthan sein, der mir so gleichgültig, wie die Nebelwolken, die um unsere Berge hängen? Da war ein Corporal, ein Sohn guter Leute im Gulbrandsdal, der warb um meine Hand in rechtschaffener Weise, doch ich wies ihn ab, weil ich – nun – weil ich meinte, wir gehörten nicht zusammen. Der ist denn fortgegangen – Gott weiß wohin. Dann kam Ornesen, der Müller aus dem Lärdal – Du mußt ihn noch im Gedächtniß haben – ein reicher älterer Mann, ein Wittwer. Der meinte es ebenfalls ehrlich und bot mir an, daß ich seine Frau werden solle, aber auch ihn schlug ich aus. Hätte mein Leben auf dem Spiel gestanden, ich wäre nicht zu ihm gegangen. Mich für Geld und Gut verkaufen –.“

Engelid schwieg; zwei schwere Thränen rollten über ihre Wangen.


(Fortsetzung folgt.)


Andreas Achenbach.

Von Fr. Pecht.

Ist es die Aufgabe des Genies, den Weg von überlebter Cultur zur Natur zurückzuzeigen und durch sein Schaffen neue Wege zu ihr zu öffnen, so kann Andreas Achenbach mit vollem Rechte auf den Besitz dieser edelsten Naturkraft Anspruch erheben; denn nicht nur unter den zahlreichen Düsseldorfer, sondern unter sämmtlichen deutschen Landschaftern nimmt dieser glänzendste Vertreter realistischer Richtung seit einem halben Jahrhundert noch immer die erste Stelle ein. Daß er sich darin zu behaupten vermochte, trotz aller Wechsel des Geschmackes und der kolossalen Umwandlungen der jeweils herrschenden Technik, darf man wohl der unvergleichlichen Gesundheit seines physischen wie geistigen Naturells und ihrer Verbindung mit einem Fleiße, einer kolossalen Arbeitskraft zuschreiben, wie sie in allen Zeiten zu den seltensten Ausnahmen gehörten. Ist er doch jetzt bereits weit im zweiten Tausend seiner oft sehr großen, fast immer aber mit bewunderungswürdiger Sorgfalt durchgeführten Bilder! Aus der Zahl derselben giebt die hier mitgetheilte Abbildung (S. 385) eines seiner neuesten und reizendsten Aquarelle wieder, das auf der vorjährigen Düsseldorfer Ausstellung alle Welt entzückte. Es stellt eine Scene aus dem Judenviertel in Amsterdam dar und zeigt uns das geschäftige Gewühl auf den Canälen dieses niederländischen Venedigs. Die durch einander wirbelnden Figuren sind hier ebenso charakteristisch, wie die kleinen holländischen Häuser, das von Luft und Wasser eingerahmte Ganze aber athmet einen Zauber des Lichts und der Farbe, der es zu einem wahren Juwel macht.

Stehen wir also hier vor einer productiven Begabung ersten Ranges, wie man sie sonst nur bei den alten Meistern und auch da nur sehr selten in diesem Maße zu finden gewöhnt ist, so fragt man unwillkürlich, wie es die Natur anfing, ein solches Talent hervorzubringen? Sie schien dazu in der That nicht die entfernteste Absicht zu haben; denn die aus dem Siegenschen stammende Familie Achenbach zählte unter ihren Gliedern, so viel man zurückblicken konnte, außer Pastoren blos Kaufleute. Auch der Vater unseres Andreas gehörte der letzteren Classe an und kam früh zu einem Tabakfabrikanten Zilch nach Kassel. Ein unstäter Charakter, aber ebenso intelligent als rührig und mannigfach gebildet, ward er bald Associé, dann Schwiegersohn seines Principals, der ein großer Kunstliebhaber und eifriger hessischer Patriot war. Die eben florirende liederliche Wirthschaft unter König Jérôme sah dieser daher nur mit Grauen und kaufte bei der Verschleppung und Verschleuderung der herrlichen Kunstsammlungen des hessischen Hauses einen großen Theil dieser Schätze um ein Spottgeld. Es geschah in der Absicht, sie dem rechtmäßigen Herrscher, an dessen Wiedereinsetzung er fest glaubte, seiner Zeit zurückzustellen, was er denn auch bei der Rückkehr des Kurfürsten sofort ausführte, indeß ohne irgend einen Dank dafür zu erhalten.

Einweilen aber füllten die herrlichen Bilder alle Zimmer und Gänge des Hauses, in welchem die junge Frau Achenbach der Geburt ihres Erstlinges entgegensah. Von jeher voll Liebe für die Kunst, hatte sie aber doch nie einen so unsäglichen Genuß, solch süßen Trost in ihrer Betrachtung gefunden, wie in dieser erwartungsbangen Periode. Stundenlang konnte sie vor den Bildern sitzen und das Leid der Gegenwart wie die eigene Angst in ihrem Anblicke vergessen, bis sie am 29. September 1815 unserem Andreas das Leben gab und zugleich, dank ihrer Kunstliebe, die köstlichste Ausstattung für dasselbe; denn alsbald zeigte sich, daß der Junge für nichts so sehr Interesse hatte als für Form und Farbe der Dinge und sie immer nur darauf ansah.

Die Wiedereinführung der allen Verkehr hemmenden Zollschranken sammt dem ganzen verzopften Regiment hatte inzwischen die Fabrik ruinirt und den Vater bewogen, erst nach Mannheim, dann, als es auch dort nicht glückte, 1818 gar nach Petersburg als Fabrikdirector zu ziehen. Bis auf diese Reise gehen nun die ersten Erinnerungen unseres Knaben zurück, der sich noch ganz genau entsinnt, wie ihm der sammetartige Glanz der dunklen Ostseewogen auffiel. Sobald er einen Bleistift halten konnte, das heißt schon mit drei Jahren, fing er nun alles, was er sah, mit solchem Geschick zu zeichnen an, daß Jedermann darüber erstaunte. Als der Knabe sechs Jahre alt war, bekannte der Zeichenlehrer, den ihm der Vater hielt, er könne ihm nichts mehr lehren; der Junge leiste mehr als er.

Wenn die wissenschaftlichen Fortschritte des Wunderkindes mit den künstlerischen nicht Schritt hielten, so lag das jedenfalls nicht an mangelnder Begabung, da Andreas später die verschiedensten Sprachen mit großer Leichtigkeit lernte, sich überhaupt die reichste Bildung spielend aneignete, sondern daran, daß er jetzt einstweilen nichts als zeichnen mochte.

Nach fünf Jahren vertauschte der Vater, der alles geschickt anfaßte, aber nirgends aushielt, Petersburg, wo das Geschäft nicht mehr florirte, erst mit Elberfeld, dann mit Düsseldorf, wo er eine Brauerei anfing und eine Gartenwirthschaft damit verknüpfte, die bald an den Künstlern der eben neu aufgeblühten Akademie ihre durstigsten Kunden fand. Unser bei dem ewigen Herumfahren in der Welt zu einem ausbündigen Rangen voll Mutterwitz und Schalkheit aufgeblühter Andreas fand nun außerordentliches Gefallen an den schwarzen Sammetröcken und ausgeschlagenen Hemdenkragen der Maler und eröffnete seine eigene künstlerische Laufbahn einstweilen damit, daß er dem Herrn Director Cornelius und seinen langhaarigen Jüngern die Kegel aufsetzte, wenn gerade kein Kegeljunge [377] da war. Im Uebrigen aber erregte er so viel Skandal in der Schule durch seine Manie, die Lehrer an die Wand zu malen, und durch seine Unlust bei allem, was nicht Zeichnen hieß, daß ihn der Vater im zehnten Jahre von dort wegnahm und die Akademie besuchen ließ.

Andreas Achenbach.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Er bekam da als Lehrer einen kleinen buckligen Sachsen Namens Kolbe, der ein Maler großer Historien und ein noch größerer Pedant war. Andreas bereitete diesem Herrn Kolbe durch seine Tollheiten unsäglichen Verdruß und wurde darum während seines dreijährigen Studiums ein halbdutzendmal fortgejagt, aber seines auffallenden Talentes halber immer wieder zu Gnaden aufgenommen. Der pedantische akademische Unterricht mit dem fortwährenden Nachmalen von Gypsköpfen war es, den er durchaus nicht ertrug. Er beobachtete und zeichnete zwar den ganzen Tag, wo er ging und stand, in der Akademie speciell war er immer am Fenster, das die Aussicht auf den Rheinhafen hatte, und skizzirte die Lastträger und Schiffer wie die Schiffe selber in allen möglichen Stellungen, wenn dann aber der Professor kam, so stand nichts auf dem Reißbrett – so ward der junge Künstler fortgejagt.

Es war nach einer solchen Scene des Fortjagens, daß er [378] eines Tages auf den Gedanken gerieth, die Malerei lieber auf eigene Faust zu erlernen; er kaufte sich frischweg Farben und fing ohne jede Anleitung an, kleine Landschaften auf Brettchen und Buchdeckel zu malen. Diese Erzeugnisse, die er an seine Cameraden verschenkte oder „verklopfte“, um sich Taschengeld zu machen, erregten indeß bald solche Aufmerksamkeit, daß sie den inzwischen 1826 an Cornelius’ Stelle getretenen Schadow bewogen, unsern jungen Musensohn wieder aufzunehmen und, mit Uebergehung der verhaßten Gypsclasse, gleich in die von Schirmer geleitete Landschafterschule zu geben. Schadow producirte gern solche phänomenale Talente, durch die er die Aufmerksamkeit der Welt auf die Schule lenken konnte, wie er denn um dieselbe Zeit auch den gleichalterigen Alfred Rethel herausfand, der bald unseres Achenbach’s intimster Freund werden sollte.

Unter Schirmer’s Leitung entwickelte sich nun des Knaben Talent, wenn auch ganz im Widerspruch mit der stilisirenden Richtung des Lehrers, so rasch, daß er schon mit fünfzehn Jahren sein erstes Bild malte. Es war eine angeblich schwedische, in Wahrheit ganz componirte felsige Seeküste, die solches Aufsehen machte, daß sie der gerade durchreisende bekannte Kunstliebhaber Graf Raczynski kaufte, in dessen Sammlung sie sich noch heute befindet. – Schon hier bethätigte Achenbach also, was er später immer festhielt, daß er trotz alles Realismus des Details niemals ein bloßer Abschreiber der Natur, ein Vedutenmaler, sondern immer ein freier Dichter blieb. Jener erste glänzende Erfolg steigerte natürlich sein Selbstgefühl sehr; jetzt kam dazu auch eine Reise seines Vaters nach Schweden, auf die ihn dieser mitnahm. Die neue Welt entzückte ihn so, daß er, zeichnend und malend, noch blieb, als der Vater abreiste, und dann sechszehnjährig, wie er es war, mit früher Selbstständigkeit allein über Holland zurückkehrte, wo er endlich die Werke der alten niederländischen Meister mit Entzücken kennen lernte, um sie fortan zu seinen Leitsternen zu machen. – Unter ihrem Einfluß malte er noch dort einen Strand von Malmö, der bei seiner Rückkehr alle Welt entzückte. Dann begann er gleich ein großes Bild „Schwedische Strandscene bei heftigem Sturme“, das solchen Beifall fand, daß es der in Düsseldorf residirende Prinz Friedrich kaufte und er nunmehr bereits als eines der ersten Talente der Schule zu gelten anfing.

Mit dem ganzen Uebermuthe des Genies, mit dem schärfsten Witze und der Unduldsamkeit der Jugend ausgestattet, trat er jetzt an die Spitze einer rheinländischen Opposition gegen die Akademie, die unter den jungen Künstlern schon lange im Geheimen gährte, ja verließ mit Rethel und einigen anderen Anhängern ostentativ die Anstalt, von der sich Lessing schon vor längerer Zeit getrennt hatte. Das Ganze war eine Kinderei, die aber damals viel mehr von sich reden machte, als solche ewig wiederkehrende Auflehnung der Jugend gegen die Alten werth war. Indeß veranlaßte sie doch den jetzt zwanzig Jahre alt gewordenen Künstler, 1835 nach München zu gehen, wo er durch seine Genialität, seine grenzenlose Schaffenslust wie seinen sprudelnden Humor ein Aufsehen machte, dessen sich die Zeitgenossen heute noch erinnern, obwohl Rottmann damals gerade auf der Höhe seines Ruhmes stand. – König Ludwig, der große Freude an Achenbach hatte, erwarb damals einen Seesturm von ihm, der noch, in der neuen Pinakothek hängend, uns einen deutlichen Begriff von des Künstlers damaligen Leistungen giebt. Kommen sie seinen jetzigen an Gediegenheit nicht im Entferntesten gleich, so erscheinen sie doch immer noch bedeutend durch die seltene Feinheit der Naturbeobachtung, die aus ihnen spricht.

Nach seiner Rückkehr von einem Besuche in Tirol wurde er im Sommer 1836 von der Cholera befallen, was ihn veranlaßte, München mit Frankfurt zu vertauschen, wohin sich auch Rethel inzwischen gewandt hatte. Dort blieb er ein halbes Jahr, malte jenen großen Seesturm, der noch im Städel’schen Institute zu sehen, kehrte dann aber doch wieder nach Düsseldorf zurück, wo er als die wahre Incarnation eines Rheinländers, mit all dem leichten Blute und dem gesunden Mutterwitze eines solchen, sich auch am wohlsten fühlen mußte. Als ein schon weitberühmter Künstler richtete er sich jetzt ein großes Atelier ein und entfaltete wie immer die unglaublichste Thätigkeit, was ihn aber nicht hinderte, England und Frankreich wie die Niederlande zu besuchen und dort die alte wie die zeitgenössische Kunst zu studiren, indeß ohne daß irgend ein Moderner auf ihn gewirkt hätte. Dagegen zahlte er jetzt der in Düsseldorf noch immer herrschenden Romantik seinen Tribut dadurch, daß er, der arge Spötter und ein anscheinend so unverwüstliches Weltkind, 1843 zum Katholicismus überging.

Bald darauf besuchte er zum ersten Mal Italien, was seiner Kunst eine ganz neue Wendung gab. Rom entzückte ihn, und er blieb dort ein volles Jahr, hauptsächlich die pontinischen Sümpfe und das Tyrrhenermeer schildernd, ohne indeß die von Düsseldorf mitgebrachte noch immer etwas kleinliche und magere Art der Malerei ganz los werden zu können. Eine neue Seite gewann er der südlichen Natur erst in Sicilien ab, wo es ihm nunmehr gelang, den ganzen ernsten Zauber des Südens mit seinen einfachen und großartigen Farbencontrasten in einer Landschaft am Strand von Catania wiederzugeben.

Leider verfolgte er diesen durchaus neuen Weg nicht, sondern ließ sich von Freunden verleiten, in’s Innere zu gehen, wo er wohl den Thalkessel von Corleone in der Mittagsgluth mit großer Bravour malte, aber die durch das erwähnte Strandbild errungene ideale Höhe nicht wieder erreichte. So ist denn seine italienische Reise eine glänzende Episode ohne weitere Folgen geblieben; denn als er im Jahre 1846 endlich zurückkehrte, gab er die Darstellung südlicher Natur bald wieder auf, um sich der des Nordens zuzuwenden. Es blieb seinem zwölf Jahre jüngeren Bruder Oswald überlassen, den so fruchtbaren Weg, den er einst eingeschlagen, weiter zu verfolgen und Italien ebenso erfolgreich und ausschließlich zu cultiviren als er fortan die Heimath. Sie fesselte ihn jetzt um so mehr, als er sich 1848 mit einem ebenso schönen wie reichen Mädchen verheirathete und sich so bald den glücklichsten Familienkreis schuf.

Es ist das Privilegium solch reicher Talente, daß Alles das, was Andere gar leicht abhält, ihre Fruchtbarkeit nur steigert. So entfaltete er gerade von jetzt an eine immer erhöhte, nur durch zahlreiche Reisen unterbrochene Thätigkeit. Sah ihn fast jeder Sommer in Ostende oder Scheveningen, in Norwegen oder am Canal, um der Nordsee immer neue Seiten abzugewinnen, so hielt ihn dies nicht ab, den stillen westfälischen Thälern seine Aufmerksamkeit zuzuwenden oder mit vortrefflichen Figuren reich staffirte Städtescenen in großer Zahl zu malen, wozu ihm die so malerischen niederländischen Orte reichen Stoff boten. Immer aber blieb es seine Stärke, mit blitzschneller Auffassung, grenzenlosem Gedächtniß, die rasch vorübergehende Flucht der Erscheinungen und elementaren Vorgänge festzuhalten. Er ist darum von allen deutschen Landschaftsmalern der dramatischste; Luft und Wasser mit ihrem ewigen Wechsel gelingen ihm am besten, obwohl er alles Andere mit nicht geringerer Virtuosität malt; sein proteusartiges Talent schreibt heute mit ebenso unendlicher Liebe und spitzem Pinsel all das tausendfache Detail eines niederländischen Bauernhofs hin, wie es morgen mit breiter Meisterschaft den Sturm wiedergiebt, der die felsigen Küsten Norwegens peitscht.

Nur eigentliche Stimmungslandschaften, das heißt solche, in denen der Künstler die Vorgänge des eigenen Innern im Bilde widerspiegelte, kennt er nicht; ganz wie die alten Meister, verhält er sich der Natur gegenüber durchaus objectiv; er lauscht ihr all ihre Geheimnisse ab, ohne deswegen die seinigen der Leinwand anzuvertrauen. Rückschlüsse von seinen Bildern auf seinen Charakter zu machen, ist daher bei ihm fast unmöglich, schon weil sie so ungleich sind, ihre Behandlung immer dem Gegenstande angepaßt ist. Sie würden oft nüchtern erscheinen bei diesem Mangel an Subjectivität und ihrem Realismus, wenn dieser letztere nicht stets von jeder Trivialität frei wäre. Eine edle Vornehmheit sichert den Gemälden Achenbach’s schon ihr classischer Ton, in dem unser Künstler den alten Meistern näher gekommen ist, als irgend ein anderer deutscher Landschafter.

Dabei ist Achenbach’s künstlerische Constitution von unverwüstlicher Frische; ihm ist das Malen weder eine Beichte noch ein Fieber, sondern eine so natürliche Function wie Athmen und Sprechen. Indeß sieht man der mittelgroßen, festen und untersetzten Gestalt, die einen mächtigen blonden Kopf auf starkem Nacken trägt, den Künstler keineswegs sofort an, den auch die blauen Augen mit ihrem ruhig durchdringenden Blick, die vollen Wangen mit ihrer kerngesunden Farbe kaum verrathen würden, den nur die edle Stirn mit der Adlernase allenfalls ahnen läßt. Mit Auszeichnungen, Orden und Medaillen auf allen Ausstellungen wurde er ebenso überhäuft wie mit Reichthümern; indeß bei aller Lebenslust hat ihn weder diese Auszeichnung noch sein großes geselliges Talent jemals der Kunst abtrünnig machen können. Nach fünfzig Jahren [379] rastloser Thätigkeit steht ihn im Gegentheil der früheste Morgen noch ebenso sicher an der Staffelei, wie der Abend bei frohen Festen im fürstlich eingerichteten eigenen Hause. Ist er dort der gastfreieste Wirth, so bleibt er auch ein lustiger Zecher in dem berühmten Künstlercasino des „Malkasten“, das er 1856 mit Leuze gestiftet und dem er durch Abtretung eines ihm gehörigen Grundstücks jenes unvergleichliche Heim geschaffen hat, das von so unendlichem Werthe für die Düsseldorfer Künstlerschaft ist, indem es ihren Verkehr mit den gebildeten Classen der dortigen Gesellschaft, wie mit allen fremden Besuchern hauptsächlich vermittelt.

Ohne selber je Schüler gehabt zu haben – außer seinem Bruder – hat Achenbach doch mehr auf alle Düsseldorfer Landschafter eingewirkt, als irgend ein Anderer. Aber nicht nur durch seine Bilder trug er zu der jetzt so viel größeren Naturwüchsigkeit dieser Schule mächtig bei, sondern nicht minder durch die ebenso berühmte wie gefürchtete Schärfe seines Urtheils, den beißenden Spott, mit dem er alles Kranke oder innerlich Hohle zu verfolgen pflegt. Er hat dadurch unzähligen jungen Künstlern wieder auf den rechten Weg geholfen; denn wie alle genialen Naturen hat er einen unfehlbaren Instinct für das Echte und Gesunde. Darum trug er noch mehr als Knaus dazu bei, die süßliche und schwächliche Romantik zu beseitigen, welche in Düsseldorf früher fast unumschränkt herrschte.


Die deutschen Polar-Expeditionen 1882 und 1883.

Von den internationalen Stationen, mit denen im Laufe dieses und des nächsten Jahres die Polargegenden unserer Erde umgürtet werden sollen[1], wird Deutschland die drei Punkte: Cumberland-Sund, Süd-Georgien und Labrador-Küste besetzen. Wohl wird Mancher beim Lesen dieser drei Namen eine leise Verwunderung nicht unterdrücken können, daß das mächtige deutsche Reich mit seiner hervorragenden wissenschaftlichen Stellung sich damit begnügt, in so relativ niedrigen Breiten zu bleiben, während andere Nationen, wie z. B. die Vereinigten Staaten von Nordamerika, fast um zehn Breitegrade – also etwa um die Entfernung zwischen Kopenhagen und Venedig – dem Pole näher gerückt sind. In der That ist der langgewohnte frühere Begriff der Polarforschung uns so tief in Fleisch und Blut gedrungen, daß wir das jetzige internationale Unternehmen noch häufig genug vom früheren Standpunkte aus betrachten, während es doch durchaus davon verschieden ist. Diese Auffassung wird namentlich dadurch genährt, daß einzelne Staaten, unter ihnen wieder in erster Linie Nordamerika, bei ihren Stationen ein combinirtes System in Anwendung bringen und neben der neuen, programmmäßigen wissenschaftlichen Beobachtung auf festem Posten noch das alte System der Polarforschung, das Vordringen in höchste Breiten, betreiben. Für Deutschland aber und Oesterreich, von wo aus die neue Aera der Polarforschung ihren Ursprung genommen hat, ziemt es sich, innerhalb des auf den internationalen Polarconferenzen sattsam berathenen Programms zu bleiben und der Welt zu zeigen, warum gerade diese Einschränkung das Richtige ist.

Als die deutsche Polarcommission zu Beginn dieses Jahres behufs Organisation der deutschen Expeditionen aus Reichsmitteln die Summe von 300,000 Mark angewiesen erhielt, fiel der Blick zunächst auf Ostgrönland, wo auf Pendulum-Insel der Schauplatz zahlreicher früherer wissenschaftlicher Arbeiten einen genügenden Anknüpfungspunkt für neue Untersuchungen bot. Somit wurde es in Aussicht genommen, hier eine Station anzulegen. Aber die Anfragen, die bei deutschen und außerdeutschen Rhedern, welche Schiffe auf den Walfischfang entsenden, betreffs Ueberführung der Expeditionsmitglieder gehalten wurden, hatte so exorbitante Preisforderungen zur Folge, daß hierdurch allein die zur Verfügung stehenden Mittel fast aufgewendet worden wären. Hierzu kam noch als zweiter Uebelstand, daß Niemand die absolute Garantie dafür übernehmen wollte, die Expeditionsmitglieder im Herbste nächsten Jahres abzuholen, da die gefürchteten Eisverhältnisse an der Ostküste Grönlands, der tragische Untergang der „Hansa“ und die schaurige Schollenfahrt der „Hansa“-Männer noch in Jedermanns Gedächtniß standen. Somit erschien es geboten, von der Ostküste Grönlands vorläufig abzusehen.

Es mag dahingestellt sein, ob nicht vielleicht dennoch die Ostküste von Grönland, wenigstens in ihrem südlichen Theile, in Betracht gekommen wäre, wenn damals schon die Details über die ausgezeichnet erfolgreiche Untersuchungsfahrt nach der Ostküste Grönlands, welche der Missionär der Brüdergemeinde, J. Brodbeck, vom 2. bis 12. August 1881 unternommen hat, bekannt gewesen wären. Wenn er auch nur wenige Meilen nördlich vom Cap Farewell auf der Ostküste vordrang, so constatirte er daselbst doch eine von zahlreichen heidnischen Eskimos bewohnte Küstenregion, die verhältnismäßig leicht von seiner bekannten Missionsstation Friedrichsthal aus zu erreichen war und auf der er unter Anderem eine Normannenruine entdeckte. In meteorologischer Beziehung würde gerade dieser Theil der Küste von großer Bedeutung gewesen sein.

Ursprünglich, noch ehe die Betheiligung des deutschen Reiches an der internationalen Polarforschung überhaupt officiell feststand, war von deutscher Seite die Insel Jan Mayen als Stationsort in Aussicht genommen worden, aber als Deutschland wegen ablehnender Haltung seiner obersten Behörden von der vorjährigen internationalen Polarconferenz zu St. Petersburg fern bleiben mußte, nahm Graf Wilczek, der generöse Freund des verstorbenen Weyprecht, die Insel Mayen für Oesterreich-Ungarn in Aussicht, und jetzt befindet sich die österreichische Polarexpedition unter Führung des Lieutenant Wohlgemuth voraussichtlich bereits auf dieser Insel.

Deutschland mußte sich also nach einer anderen leicht erreichbaren Localität umsehen, und so fiel der Blick der Commission zunächst auf die Davisstraße; man wählte hier den Cumberland-Sund, welcher in das Baffinsland bis über den nördlichen Polarkreis eindringt, zur Anlage der nördlichen Station. Es vereinigten sich manche Umstände, um gerade diese Wahl herbeizuführen. Wenn der Cumberland-Sund auch nicht in hervorragender Weise für die meteorologischen Verhältnisse Europas von derselben Wichtigkeit ist, wie die Ostküste Grönlands oder wie noch näher liegende Punkte, beispielsweise die Insel Island, so hat er doch wegen seiner großen Nähe zum magnetischen Pol eine andere, sehr hohe Bedeutung und ist somit für einen der wesentlichsten Theile des internationalen Programms der neuen wissenschaftlichen Polarforschung wie geschaffen. Ferner ist Cumberland-Sund auch noch nicht so genau bekannt und in allen seinen Theilen erforscht, daß es dort in geographischer Beziehung gar nichts mehr zu erforschen gäbe; im Gegentheil, es kann dort durch kleinere Schlittenexpeditionen noch manches Neue entdeckt werden. Endlich aber ist Cumberland-Sund auch gerade nicht so unbekannt, daß er nicht von Walfischfängern fast alljährlich besucht würde.

Es hatte nun der bekannte Kaufmann Albert Rosenthal in Bremerhaven, dieser leider am 20. Mai dieses Jahres verstorbene eifrige und opferwillige Förderer der deutschen Polarforschung, der seit mehr als einem Jahrzehnt dem deutschen Walfischfang neue Jagdgründe zu erringen trachtete, das vielgenannte Nordpolschiff „Germania“, das schon 1870 bis 1871 unter Capitain Koldewey die zweite deutsche Polarfahrt nach Ost-Grönland ausgeführt hatte, der deutschen Polarcommission für einen sehr billigen Preis zum Kauf angeboten. Dieses auf der J. C. Tecklenborgischen Werft in Bremerhaven erbaute Schiff hatte seitdem mit dem Afrikareisenden Th. von Heuglin eine Polarfahrt nach den Eingängen des Karischen Meeres gemacht, war dann in den Dienst des Walfischfanges zurückgetreten, aus einem Dampfschiff in einen Schooner verwandelt worden und hatte bereits als solcher eine glückliche Fahrt nach Cumberland-Sund bestanden. Dieses Schiff kaufte also die deutsche Polarcommission.

Als Südstation des deutschen Reiches wurde Süd-Georgien, welches östlich vom Cap Horn einsam im weiten Ocean liegt, in Aussicht genommen. Diese Insel ist namentlich in Bezug auf die meteorologischen Verhältnisse jenes gewaltigen Gebietes auf der Südhälfte unserer Erde vom höchsten Interesse. Sie ist noch fast ganz unbekannt, wenngleich sie wiederholt von Robbenschlägern besucht worden ist.

Die neueste und vollständigste Beschreibung von Süd-Georgien nebst Karte verdanken wir dem österreichischen Zeichner und Geometer Heinrich W. Klutschak, welcher in allen Polarmeeren zu Hause ist. Er hat seine interessante Publication in der „Deutschen Rundschau für Geographie und Statistik“ (Wien, Hartleben’s Verlag) [380] veröffentlicht. Die Insel ist erst seit dem Jahre 1797 bekannt, wurde durch den Capitain Cook gelegentlich seiner Weltumsegelung entdeckt und seither von mehreren Entdeckungsreisenden nur flüchtig besucht. Die Küstenstriche sind durch Franzosen, Engländer und Amerikaner, von letzteren freilich erst seit nicht langer Zeit, erforscht und bekannt geworden. Das Innere derselben ist aber noch immer unbekannt und mit Ausnahme einer sehr engen Stelle am westlichen Ende der Insel noch von Niemand bereist worden.

Seinen Höhenverhältnissen nach ist Süd-Georgien ein Gebirgsland von vier- bis fünftausend Fuß Höhe, eine Reihe einst mächtiger, jetzt todter Vulcane, die nur noch in den spitzen Kegelformen und den großen Lavabecken ihre einstige Thätigkeit bekunden. Zwischen dem südwestlichen und nordöstlichen Theil der Insel besteht ein großer klimatischer Unterschied. Der Höhenrücken von Süd-Georgien steigt, einer Felswand gleichend, am südwestlichen Theil der Insel nahe der Seeküste auf und bricht wie ein Schutzwall die mächtigen Wogen, welche die Südweststürme auf ihn werfen. Die Meeresströmung, die Luftströmung, der Zug des Masseneises, alles kommt von Südwesten her, läßt seine Elementarkräfte gegen diesen Theil der Insel spielen, und die natürliche Folge dieser Vorgänge ist, daß der niedere nördliche Theil ein viel freundlicheres und milderes Klima aufzuweisen hat. Zahlreiche Gletscher steigen von dem hoch mit Eis überdeckten Gebirgsrücken des unerforschten Innern auf allen Seiten der Insel bis direct in’s Meer hinab; der Wind heult fast ununterbrochen durch die Schluchten der Felsen; jeden halbwegs schönen Tag bezahlt der Reisende hier mit einer ganzen widrigen Woche. Plumpe See-Elephanten, die Walrosse des südlichen Polarmeeres, See-Leoparden, Albatrosse, Pinguine, Cap Horn-Tauben und Ratten sind die einzigen Bewohner der Insel.

Hier wird die zweite deutsche Polarstation errichtet werden. Da das Meer bis Süd-Georgien eisfrei ist, so bedarf es keines besonderen Expeditionsschiffes, welches sich unter Gefahren bis zu seinem arktischen Ziele hindurcharbeiten müßte; es können vielmehr die ganze Hin- und Rückreise der Expeditionsmitglieder und der Transport der Sachen auf beliebige Weise erfolgen, und in Bezug hierauf hat die deutsche Polarcommission die Unterstützung der kaiserlich deutschen Admiralität sowie der Hamburg-Süd-Amerikanischen Dampfschiffs-Gesellschaft gefunden. Die letztgenannte wird in diesen Tagen, Anfangs Juni, die gesammte Expedition nebst Ausrüstung bis nach Montevideo schaffen, wo die Corvette „Moltke“ den Transport bis Süd-Georgien weiterführen und, am Ziele angelangt, den Expeditionsmitgliedern noch kurze Zeit bei Errichtung der Station behülflich sein wird, um alsdann wieder abzufahren.[2]

Außer diesen beiden Stationen wird noch an der Labrador-Küste eine dritte errichtet werden, welche jedoch nicht den Charakter einer vollen Station im Sinne des Programms der internationalen Polarforschung besitzen, sondern ausschließlich meteorologischen Forschungen dienen wird. Diese Station soll eine der Hauptfragen der Wetterkunde von Europa der Lösung nahe führen.

Es ist allgemein bekannt, daß unser Erdtheil sein Wetter meist vom atlantischen Ocean her empfängt, und in gewisser Beziehung könnte man die Insel Island geradezu für die „Sturm- und Wetterfabrik von Europa“ halten; denn von hier aus werden jene Wirbelstürme entsendet, welche die Küsten Großbritanniens so oft verheerend heimsuchen, welche die Nordsee zu einem nicht ungefährlichen Meere machen und das Wasser der Elbe oft viele Fuß hoch in Hamburg aufstauen. Dieser Stürme wegen drängt sich an unseren deutschen Küsten Rettungsstation an Rettungsstation; sie sind es auch, welche vor der Nordseeküste ein Eiland nach dem andern mit gierigen Wellen überfluthen und das Bestehen unserer ohnehin bescheidenen Inselwelt gefährden.

Durch sorgfältige meteorologische Beobachtungen an der Küste von Labrador hofft man nun, eine Erklärung für das Entstehen dieser Wirbelstürme zu finden.

Die Nebenstation an der Labrador-Küste wird nur durch eine einzige Person versehen werden (und zwar durch den Privatdocenten Dr. Koch aus Freiburg im Breisgau), welche sich, dank der von der Herrnhuter Brüdergemeinde freundlichst gewährten Unterstützung, auf einem der Schiffe dieser Gemeinde mit einer größeren Anzahl vortrefflicher meteorologischer Instrumente zunächst nach der Missionsstation Nain in Labrador begeben und dort längs der Küste an die Missionäre, deren gütige Mithülfe erwartet wird, die Beobachtungsinstrumente und kurze Instructionen vertheilen wird. Es gehört zum Beobachten nämlich keineswegs ein fachwissenschaftlicher Meteorologe, sondern nur ein gewissenhafter Ableser der Instrumente.

So genau sich nun auch die beiden Hauptstationen Cumberland-Sund und Süd-Georgien an das Programm der internationalen Polarconferenzen anschließen, so werden sie doch bezüglich ihres Arbeitsgebietes jede für sich noch ein besonderes charakteristisches Gepräge erhalten. Cumberland-Sund wird vorwiegend eine magnetische, Süd-Georgien hauptsächlich eine meteorologische Station sein. Zu diesem Zwecke wird die nördliche Station auch mit einer vollständigen Einrichtung zur Beobachtung der ganz neuerdings in den Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses getretenen sogenannten (magnetischen) „Erdströme“ versehen werden. Zum Studium dieser Frage war aus dem Elektrotechnischen Verein im vorigen Jahre ein „Erdstrom-Comité“ zusammengetreten, welches die so häufig durch sogenannte Erdströme hervorgerufenen Störungserscheinungen in elektrischen Drahtleitungen (Telegraphen etc.) zu untersuchen bestrebt ist, und auf dessen Anordnung die nördliche Polarstation zweckentsprechend ausgerüstet werden wird. Außerdem werden natürlich die Polarlichter einen sehr bedeutenden Gegenstand der Untersuchung bilden, namentlich wird die neueste geistvolle Hypothese A. E. von Nordenskiöld’s geprüft werden, laut welcher unsere Erdkugel fast beständig von einem geschlossenen Nordlichtring umkränzt ist, der einfach, doppelt oder vielfach sein kann.

Aber nicht nur diese Hypothese wird die Polarstation Cumberland-Sund zu prüfen haben, sondern auch die Richtigkeit der überraschenden, erst vor Kurzem vom Ingenieur Fritz gemachten Angaben über die Höhe, in welcher die Erscheinung des Nordlichtes stattfinden soll. Fritz berichtete nämlich im Gegensatze zu den bisher bekannten Beobachtungen an die internationale Polar-Commission, daß am 15. März 1872 zu Toigtat in Süd-Grönland – also in der Nähe von Cumberland-Sund – ein Nordlicht nur 650 Fuß über dem Wasserspiegel und 1700 Fuß vom Beobachter entfernt stand; ein anderes Mal fand er die Höhe eines Nordlichtes gar nur 170 Fuß über dem Wasserspiegel und seine Entfernung vom Beobachter nur 350 Fuß.

Die Südstation wird ihr Augenmerk natürlich auf die Südlichter zu richten haben; denn für letztere gilt Alles, was über die Nordlichter gesagt ist. Die Gleichzeitigkeit der Beobachtungen wird zugleich eine sehr gute Controlle über die Gleichzeitigkeit beider populären Phänomene geben. Auch wird auf der Südstation der diesjährige Venusdurchgang beobachtet werden. Ueberhaupt ist unserer guten Mutter Erde noch niemals mit solcher Gründlichkeit an den Puls gefühlt worden, wie dies in der bevorstehenden internationalen Polarcampagne der Fall sein wird.

Natürlich ist die Ausrüstung unserer beiden Hauptpolarstationen eine den großen wissenschaftlichen Aufgaben, zu deren Lösung sie beitragen sollen, entsprechende, und es ist an den ausgezeichnetsten Instrumenten, wie sie mit Hülfe unserer hervorragendsten Präcisionsmechaniker hergestellt werden können, nichts gespart worden. Somit dürfen wir uns der Hoffnung hingeben, daß derjenige Theil der Polarforschung, welcher innerhalb der meteorologischen und magnetischen Gebiete fällt, in ausgezeichneter Weise erledigt werden wird. Ganz anders sieht es dagegen mit den übrigen naturwissenschaftlichen Disciplinen aus; denn es verlautet noch nichts darüber, ob für die Forschungszwecke derselben genügende Vorkehrungen getroffen worden sind. Hoffen wir indessen, daß es gelingen wird, diesmal unserer Mutter Erde mehr als eines ihrer Geheimnisse abzulauschen!

A. Woldt.

[381]

Literaturbriefe an eine Dame.

Von Rudolf von Gottschall.
XXIX.

Unsere neue Romanliteratur, verehrte Freundin, schielt zum Theile wieder etwas nach der Seine. Obschon wir durchaus nicht im Schlepptau der Franzosen sind, abgesehen von vielen hauptstädtischen Theatern und ihrem Gefolge, so wirkt doch jede neue Richtung, die in Paris von einem tonangebenden Autor eingeschlagen wird, immer auf die deutsche Dichtung zurück. Diese Wirkungen sind oft leise, aber doch dem aufmerksamen Auge wohl bemerklich. Besonders wenn ein Autor in Frankreich sich eines großen Erfolges rühmen darf, so sucht man in Deutschland dahinter zu kommen, auf welchen Grundlagen dieser Erfolg sich aufbaut, und ist rasch bei der Hand, den gleichen oder ähnlichen Grund zu legen. Die Unterhaltungsliteratur ist ja von der Mode abhängig, und die Mode wird in Paris gemacht.

Die Versuchung der Katze.
Nach dem Oelgemälde von A. Rotta.


Ich glaube nicht, verehrte Freundin, daß Sie zu den Frauen gehören, welche in Zola’s „Nana“ französische Sprachstudien gemacht haben. Das Buch eignet sich freilich dazu; denn es bringt eine beträchtliche Zahl neufranzösischer Wendungen, welche allerdings zum Theil der Zigeunersprache der Liederlichkeit angehören: es ist ein unangenehmes Buch; es ist dem Autor nicht gelungen, aus den Bestandtheilen der Pariser Cloaken Eau de mille fleurs der Poesie zu bereiten. Gleichwohl ist es in Deutschland viel gelesen und gekauft worden und hat auch diesseits des Rheines einen Skandalerfolg erlebt. Der neueste Roman Zola’s „Pot-Bouille“ zeigt denselben brüsken Ton wie „Nana“, dieselbe das Gebiet der fixen Idee streifende Vorliebe für den Schmutz der Existenz. Diese Vorbilder sind indeß zu craß, um in deutschen Originalromanen nachgeahmt zu werden. „Was ist die deutsch Sprak für ein plump Sprak,“ sagt Riccaut de la Marlinière, und diese Plumpheit der deutschen Sprache macht sie ungeeignet, Situationen von haarsträubendem Cynismus mit der nöthigen Lebenswahrheit zu schildern. Was im Französischen noch immer leidlich klingt, würde sich im Deutschen allzu empörend ausnehmen. Einem deutschen Schriftsteller würde die Entrüstung des Publicums begegnen, wenn er die organischen Basen der Zola’schen Romandichtung auch nur in verdünnten homöopathischen Dosen überreichen wollte. So kann bei uns von eigentlicher Nachdichtung der neufranzösischen Muster nicht die Rede sein; wohl aber findet man in neueren deutschen Romanen kühne Streiflichter, welche wenigstens beweisen, daß die Sonne Zola’s auch bei uns leuchtet.

Doch Zola ist nicht blos ein Romanschriftsteller von herausfordernder Keckheit; er hat auch in einer Reihe von Essys seine Theorie vertreten, und die Einwirkung dieser kritischen Thätigkeit [382] macht sich in Deutschland schon fühlbar. Nicht nur die einfachste Naturwahrheit ohne alle Einschränkung gilt ihm für das höchste Gesetz der Kunst, welchem er in seiner dichterischen Praxis mit der Aufnahme des Widerwärtigsten und Ekelhaftesten in den Kreis seiner Darstellung huldigt, er will auch nichts wissen von einem harmonisch gegliederten und abgeschlossenen Kunstwerke: eine Lehre, die er in die Rumpelkammer der Aesthetik wirft; jedes Stück Leben, abphotographirt, wie es gerade sich giebt, soll im Stande sein, einen Roman zu bilden; wo man dabei anfängt oder aufhört, das gilt ganz gleich; poetische Erfindung ist überflüssig und störend, künstlerische Gruppirung und Architektonik ein Attentat gegen die Lebenswahrheit. Diese Lehren haben etwas Verführerisches für unsere deutschen Realisten und finden hier ein geneigtes Ohr; ein leises Echo derselben tönt uns aus einigen neuen Romanen – ja, bisweilen selbst aus den besten unter denselben – entgegen.

Sie schätzen mit mir, verehrte Freundin, Hans Hopfen’s schönes und liebenswürdiges Talent, das in Vers und Prosa eine markige Eigenart zur Schau stellt: seine Darstellungsweise hat etwas Apartes; man kennt sie stets wieder heraus, und dies ist immer ein Vorzug, sobald die stereotype Manier vermieden wird. Freilich trotzt der Dichter mitunter auf seine Originalität, welche alles Landläufige vermeidet, und dieser Trotz giebt seinen stets interessanten Zeichnungen bei allem dichterischen Werthe bisweilen etwas Hartes, etwas Herbes. Hierin berührt er sich leise mit Zola, dessen Theorie er, wie eine Stelle in seinem neuesten Roman „Die Einsame“ (2 Bände, Dresden und Leipzig, Heinrich Minden) beweist, zum Theil adoptirt: da erklärt er es für die höchste Kunst, der Natur nachahmend nahe zu kommen; es sei eine Kinderei, an der Menschennnatur Schönfärberei zu treiben und das gerade für Poesie zu halten; er erklärt sich gegen die „schönen Abschlüsse“ der Romane und zieht es denn auch gelegentlich vor, seinem Roman gar keinen Abschluß zu geben. Im Uebrigen ist freilich keine Spur jener ästhetischen Verirrungen Zola’s in dem trefflichen Romane dieses bedeutenden Schriftstellers zu finden, nirgends eine Speculation auf die Wirkungen brutaler Scenen; ja es fehlen selbst die gewagten Situationen, die bisweilen in den früheren Werken des geistvollen Dichters einen prickelnden Reiz ausübten.

Ein Hauch echter poetischer Empfindung durchweht das Ganze: besonders ist die Jugendliebe der Einsamen, der sie aus Gehorsam gegen die Eltern entsagt, mit dichterischem Reize geschildert. Mit Recht nennt der Dichter selbst die Geschichte ihres Lebens „ein wunderliches Märchen voll Sehnen und Thränen, voll ungestillter Liebe. Ein tyrannischer Vater, verblendet von der Gier nach Besitz, eine harte Mutter, dem eigenen Kinde wenig hold, das Ideal der Jugendliebe ein stolzer Mann, der, ihre Seelenkämpfe geringschätzend, über’s Meer geht und die Hülflose sich selbst überläßt, der Gatte ihrer Wahl plötzlich wie von einem Zauberschlag verwandelt, das Glück, das er versprochen, nicht zu gewähren fähig, ein dem Tode frühverfallenes Herz. Sie selbst mit dem besten Willen ein Spielball höhnischer Mächte. Zum Glück geboren, unselig durch Anderer Schuld, der Liebe fähig wie kein anderes Geschöpf, gemacht, um im Beglücken selig zu sein, und doch mit Willen vereinsamt, von aller Welt begehrt, Jedwedem abhold und sich selbst ein Gräuel.“

Das ist das Frauenbild, wie es uns der Dichter entwirft; möglich, daß es der Leser hier und dort etwas anders retouchirt. Jedenfalls ist diese Einsame ein höchst fesselnder, wenn auch widerspruchsvoller Charakter; ganz vortrefflich, obgleich hin und wieder im Barockstil, ist der Vater Fabian gezeichnet, ebenso der junge Kaufherr, der um ihretwillen seiner Braut untreu wird.

Einige Reflexe Zola’scher Theorie zeigen sich auch in dem neuen socialen Roman von Hans Wachenhusen „Was die Straße verschlingt“ (3 Bände, Berlin, A. Hofmann u. Comp.). Der Autor hat früher mehrfach pikante Schilderungen des Pariser Lebens veröffentlicht; er ist also mit der neuesten französischen Literatur vertraut. Ganz mit demselben Ausdruck wie Hopfen spricht Wachenhusen von der Schönfärberei unserer romantischen Schule; aus Ueberdruß an derselben sei er mit diesem Stoff einmal aus dem romantischen Gehege des Idealismus ausgebrochen; er will ganz wie Zola keine Erfindung geben, sondern „ein wahres Lebensbild ohne Retouche“. Was uns Wachenhusen erzählt, das erinnert freilich stark an französische Muster; das sind Lebensläufe in absteigender Linie; die Ernte der Missethat steht in voller Blüthe; die Vergehungen und Sünden gegen das Sittengesetz häufen sich von Capitel zu Capitel, und das Ende der beiden Hauptheldinnen, der Mutter und Tochter, ist ein Ende im Pfuhl des Elends und der Verderbniß. Doch wie Wachenhusen erzählt, das unterscheidet ihn wieder von den Vertretern der Zola’schen Schule: bei aller Anschaulichkeit und Lebendigkeit vermeidet er doch das verweilende Ausmalen üppiger oder widerwärtiger Bilder und verzichtet damit auf den Ruhm der Meisterschaft in grellen und crassen Nachtstücken, wie ihn Zola sich errungen hat. Gleichwohl ist die Lebenswahrheit, auf welche das Werk Anspruch macht, eine trübe und niederdrückende. Wäre der Dichter nicht „aus dem Gehege des Idealismus ausgebrochen“, so würde er doch für eine mehr künstlerische Vertheilung von Licht und Schatten im Interesse des Gesammteindrucks Sorge getragen haben. Die Lebenswahrheit à tout prix kümmert sich freilich nicht um künstlerische Contraste. Der brave Richter und der schwache Karl Holstein, selbst die tüchtige Helmine wiegen zu gering in der Wagschale, um ein Gegengewicht gegen die allgemeine Verworfenheit zu geben. Freilich will uns Wachenhusen ein Bild geben von der zunehmenden Entwerthung des weiblichen Geschlechts durch die Unnatur unserer gesellschaftlichen und bürgerlichen Verhältnisse, durch eigene Schuld, durch Vernachlässigung der Erziehung, durch das Bedürfniß nach Luxus und das steigende leichtfertige Angebot auf dem Markte des Lebens, doch das Bild würde durch eine Verwebung mit dem Gegenbilde wesentlich gewonnen haben. Davon abgesehen, spricht aus dem Romane eine wohlerprobte Kenntniß der Menschen und Verhältnisse; die Darstellungsweise des Autors ist gewandt und lebhaft, oft pikant; sie hat einen gewissen weltmännischen Schliff, ein resolutes leichtgeschürztes Wesen. Auch fehlt es ihr nicht an poetischen Momenten, namentlich in den Schlußcapiteln.

Nicht an Zola, verehrte Frau, eher an die romantische Schule Frankreichs und ihren gefeierten Meister erinnert der neue Roman Wilhelm Jensen’s „Versunkene Welten“ (2 Bände. Breslau, Schottländer). Doch hat er auch soviele deutsch-romantische Züge, daß eigentlich jeder Vergleich mit französischen Werken ausgeschlossen ist. Traumhaft und visionair ist die Beleuchtung, die über dem Ganzen schwebt; „ein Schattenspiel“ nannte Jensen seine letzte interessante Erzählung in „Unsere Zeit“; ein Schattenspiel könnte man seine meisten Erzählungen nennen, besonders aber „Versunkene Welten“; denn wie von ahnungsvollem Lichte angeglüht bewegen sich hier alle Gestalten, in Haß und Liebe, bis der Ocean sein Riesengrab aufthut und ganze Städte verschlingt. Die Handlung spielt um das Jahr 1300 in Nordfriesland, in den beiden feindlich gesinnten Nachbarstädten Weddingstedt und Rungholt; der Bischof von Ripen zieht mit Heeresmacht gegen die rebellischen Friesen, mit ihm Herzog Woldemar von Schleswig, der Vormund des jungen Königssohnes Erich Menwed, des Thronerben. Als die Schlacht in der Nähe von Weddingstedt tobt, da bricht der Ocean herein, begräbt die Kämpfer, die Städte und das ganze Land in seinen Fluthen.

Hochpoetisch ist das großartige Naturereigniß geschildert, und die Vorgänge und Menschen in den Städten vor der Katastrophe sind ebenfalls in warme dichterische Beleuchtung getaucht, namentlich die Liebe Edrum Holding’s zu Hemmo Hemmen in der Venusgrotte. Drei Gestalten des Romans aber erinnern an Victor Hugo: der halb irrsinnige Priester Roluf Ulfarts mit seinen mechanischen Erfindungen, der auf dem Wolfshund reitende Zwerg Thiomken, der, von des Ripener Bischofs Buhlerin geschlagen, dieselbe bei dem Hereinbruch der Sündfluth grausam martert, und der Riese Jork Gerkens mit seinem trotzigen Heidenthum, seiner eddahaften Poesie; es sind groteske Gestalten, wie sie eine Zauberlaterne an der Wand abschattet. So kräftig und treu die Volkssitten gezeichnet sind, der Thing bei Weddingstedt, der Heereszug der Bischöfe und Ritter, so meisterhaft die Landschafts- und Marinemalerei ist: es schwebt um alles und über allem ein phantastisches Licht, das aus der Tiefe einer die Welt und das Leben als Traum und Schattenspiel betrachtenden Weltanschauung hervorbricht.

Ich weiß nicht, verehrte Freundin, ob Sie bereits einen Roman oder eine Erzählung von E. Vely gelesen haben, die unter den neuen Erzählerinnen einen hervorragenden Rang einnimmt? Was mich an ihr anzieht, ist die Wärme und Lebendigkeit ihrer Darstellung und die verschwenderische Hand, mit der sie ihre Gestalten und Motive ausstreut. Es giebt manche, auch recht namhafte Autoren, die hiermit sehr ökonomisch umgehen und „ihre Armuth sehr zu Rathe halten“, wie es in der bekannten Xenie heißt.

[383] Ich habe wenig Sympathie mit einer Meisterschaft, die aus der Noth eine Tugend macht; Kargheit der Phantasie und Kühle der Empfindung kann ich nie für Vorzüge halten, selbst wenn sich die ganze Modenwelt entschlossen hat, für Autoren zu schwärmen, welche beides in ihren Werken zur Schau tragen. E. Vely hat mehrere Novellensammlungen herausgegeben, so auch neuerdings eine solche unter dem Titel: „Südlicher Himmel“ (Herzberg und Leipzig, Verlag von C. F. Simon). Von den zwei Novellen der Sammlung verdient die erste: „Joca Davis“, den Vorzug; sie kam zuerst in „Unsere Zeit“ zum Abdruck und erregte damals durch ihr warmes, südliches Colorit – sie spielt in Dalmatien –, durch die Lebendigkeit der Schilderung und die spannende Handlung Aufsehen in der Lesewelt. Außer diesen Novellen hat E. Vely einen größeren Roman in vier Abtheilungen veröffentlicht: „Drei Generationen“ (drei Bände, Herzberg und Leipzig, C. F. Simon). Sie glauben vielleicht, daß „Die Ahnen“ von Freytag, die uns einen ganzen Stammbaum durch lange Jahrhunderte herunterturnen lassen, den Anlaß zum Roman der Frau Vely gegeben haben, doch in den Romanen eine Familienchronik mehrerer Geschlechter zu geben, ist schon früher üblich gewesen: ich erinnere Sie nur an die Romane von Henrik Steffens: „Walseth und Leith“ und Andere, besonders an den Roman der Fanny Lewald: „Von Geschlecht zu Geschlecht“, mit welchem das neue Werk der Frau Vely einige Aehnlichkeit hat; denn es beginnt ebenfalls mit Bildern aus der französisch-frivolen Cultur des vorigen Jahrhunderts.

Von den Freytag’schen „Ahnen“ unterscheiden sich diese Romane dadurch, daß sie nicht, wie diese, über Jahrhunderte hinwegvoltigiren, sondern die Familienchronik dreier Geschlechter in ihrem inneren Zusammenhange darstellen. So greift in dem Vely’schen Roman die jugendliche Heldin der ersten Generation noch als Großmama in die Geschicke der dritten ein. Es ist einleuchtend, daß jeder dieser Romane eigentlich aus einem Romancyklus besteht, indem jede Generation ein begründetes Recht auf selbstständige Behandlung ihrer Erlebnisse hat.

Fanny Lewald hat in der That für ihren Cyklus acht Bände gebraucht, während E. Vely die Chronik dreier Geschlechter in drei Bänden erzählt. Das liegt in der Darstellungsweise der beiden Schriftstellerinnen; Fanny Lewald liebt das epische Verweilen, ja eine gewisse Langathmigkeit, während der schriftstellerische Puls der Frau Vely sehr beschleunigt geht; Fanny Lewald analysirt ihre Charaktere und die Entwickelung ihres Seelenlebens bis in’s Detail; Frau Vely begnügt sich oft mit einzelnen erhellenden Lichtern. Bei Fanny Lewald überwiegt die Verstandesthätigkeit, bei E. Vely das Gefühl, das sich oft in anmuthigen lyrischen Schilderungen und Ergüssen ergeht.

Sie erwarten gewiß, verehrte Freundin, daß in einem solchen Familienroman jene Frage der Erblichkeit der Anlagen und Charaktereigenschaften, wie ich selbst sie in meiner „Erbschaft des Blutes“ poetisch zu behandeln versuchte, eine Rolle spielt. Dies ist indeß nicht der Fall; Frau Vely scheint ein solches Gesetz der Vererbung nicht anzuerkennen. Da ist in der ältesten Generation eine kokett-graziöse Baronin von Ungleich, welche keine größere Ehre kennt, als die Maitresse ihres Fürsten zu werden; sie selbst ist ebenso wie ihr Mann, der zuletzt Minister wird, ganz grundsatzlos und von der frivolsten französirenden Richtung. Der Sohn aus dieser Ehe, Werner, ist aber ein tüchtiger Charakter, der sich an demagogischen Umtrieben betheiligt, zum Tode verurtheilt, zu langer Gefängnißhaft begnadigt wird und dann zugleich mit seiner Geliebten Hildegard sich vergiftet. In der anderen Linie ist der Wolf Ungleich der ersten Generation eine Kraftnatur, Anhänger revolutionärer Grundsätze, der seinen Adel ablegt, seinem Fürsten herausfordernd gegenübertritt. Sein Sohn aber, obgleich er die Befreiungskriege mitmacht, ist von schwächlicher Art. Zu Darwin’s Theorien hat Frau Vely keinerlei Beiträge geliefert. Den Hintergrund der ersten Abtheilung bildet die französische Revolution, welche die Pomadentöpfe der Rococowirthschaft in ganz Europa in Scherben schlägt; in die zweite fallen die Befreiungskriege und die demagogischen Bewegungen, in die dritte die liberalen Bestrebungen der vierziger Jahre.

Die landschaftlichen Bilder, wie die Liebesscenen des Romans durchweht ein echt poetischer Hauch. Alles in demselben ist freilich nicht niet- und nagelfest. Die Bekehrung der Gertrud durch den alten Juden hat etwas allzu Plötzliches und wenig Glaubhaftes, und daß die Baronin Aglaë dem wildfremden Mann, dem sie zufällig begegnet, die Papiere ihres Mannes ausliefert, erscheint mir durchaus unmotivirt, und doch giebt diese Handlung den Ausschlag für das tragische Ende Werner’s und Hildegard’s.

Sie sehen, verehrte Freundin, Sie haben die Wahl, in welches dieser Werke Sie sich vertiefen wollen, und wenn Sie am Strande sitzen und der von den fernen Horizonten des baltischen Meeres herüberwehende Wind Ihnen in den aufgeschlagenen Büchern blättern hilft, so gedenken Sie auch wohl des fernen Freundes, der in die endlose Fluth der Literatur untertaucht, um einige Perlen für Sie heraufzuholen.




Recht und Liebe.

Novelle von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


„Und dann wäre ja Alles wie es soll, Alles gut,“ unterbrach der Baron Regine. „Ich könnte mit Euch gehen, und Ihr Beide pflegtet mich; ich ließe mir von Benning eine Rente senden, und im Uebrigen möchte aus Dortenbach werden, was da will. Nicht wahr,“ wandte er sich an den Doctor, „auch damit sind Sie einverstanden – Sie sind einverstanden, daß Regine nie mehr mit dem Worte Dortenbach gequält werde, daß man ihr nie wieder von ihren Erbansprüchen rede …“

„Nein,“ sagte Leonhard ruhig. „Damit kann ich nicht einverstanden sein. Regine ist meine Braut, und ich habe als Verlobter das Recht und die Pflicht, Einspruch wider ein so thörichtes Verzichten zu erheben.“

„Nun sehen, nun hören Sie es selbst, Oheim!“ rief Regine zitternd vor Aufregung.

Der Baron sah ihn verwundert an, dann sagte er:

„Ich höre es selbst, Kind – ich höre es mit Verwunderung. Aber eigentlich – weißt Du, daß er eigentlich Recht haben wird, wenn wir ihn nur ausreden lassen?“

„Wozu noch viele Worte darüber verlieren?“ fuhr Regine fort. „Das Recht, Einspruch gegen meinen festen Entschluß zu erheben, hat Niemand; das Wort, welches ich gegeben, habe ich längst im Stillen zurückgenommen und nehme es hier laut zurück. Und nun lassen Sie mich gehen, Onkel!“

Leonhard sah sie, abwechselnd erröthend und erbleichend, an.

„Regine,“ sagte er, sich zur Ruhe zwingend; „das können Sie nicht …“

„Weshalb nicht? Habe ich nicht das Recht dazu?“

„Das Recht, ja – tausendmal das Recht. Aber nicht die Macht. Wie Sie das Recht, aber nicht die Macht haben, auf Ihr Erbe zu verzichten.“

„Was soll mich hindern?“

„Das, was uns an jedem Tage in unserem Leben hindert, unser volles Recht zu behaupten. Wehe der Welt, wenn das Recht in ihr herrschte, wenn das Höchste das Recht wäre! Die Liebe steht höher, und Liebe gewinnen ist ein fortwährendes Verzichten auf Rechte und Rechthaben.“

„Liebe!“ sagte Regine mit unsäglicher Bitterkeit.

„Ja, Liebe. Sie können mir die Liebe mit dem Munde aufkündigen, aber Sie können sie nicht aus dem Herzen reißen, höchstens sie in die lügenhafte Maske des Hasses kleiden. Das ist Alles, Alles, was Sie können. Und das ist auch Alles, was ich kann. Wir sind einfache, volle und ganze Naturen, Regine; Sie wie ich. Wir können uns nicht hingeben, ohne es ganz, voll und für immer zu thun. Als solche haben wir uns gefunden und in uns unsere Schicksale. Sie mögen verzichten können, auf was Sie wollen, auf Ihre Natur können Sie nicht verzichten, nicht auf das, was das Große und Edle Ihrer Natur ist.“

„Und darauf trotzen Sie?“ fragte, ungeachtet ihrer inneren Erschütterung wie verachtungsvoll die Lippen aufwerfend, Regine.

[384] „Ich trotze nicht darauf, ich tröste mich damit. Denn den Gedanken, Sie wirklich zu verlieren, kann ich nicht fassen. Es wäre wie ein Aufhören meines Lebens. Wer glaubt an das Aufhören seines Herzschlages, an das Stillstehen seines Athems – Niemand – und wie mein Herz nicht aufhören kann, zu dem Ihren hinüber zu schlagen, wird auch das Ihre …“

Regine wandte sich rasch. Es war etwas in ihr, was sie zur Flucht vor Leonhard’s Worten, zur Flucht vor sich selber trieb. Sie wollte fest bleiben, und wozu dann noch seine Worte, die so dämonisch klar und überzeugend in ihr nachzitterten, und die doch nur Trug und Täuschung waren, anhören? Es war nicht gut, noch länger den groß und mit einem eigenthümlichen Leuchten auf sie gerichteten Blicken Stand zu halten – Blicken voll eines verrätherischen Zaubers, als ob sie von Seelengröße und Geistesadel nur so zu glänzen und zu flammen verständen. Noch hätte sie gern, ehe sie schied, sich dem armen Oheim da vor ihr an die Brust geworfen, zum Lebewohl – aber dann wäre sie gewiß nicht Herrin über sich selber geblieben; sie wäre in krampfhaftes Schluchzen ausgebrochen, und davon sollte Er nicht Zeuge sein. Weinen sollte Er sie nicht sehen; Er nicht, nein – eisern wollte sie ihm erscheinen. O, sie haßte ihn so, haßte ihn um so mehr jetzt aus dem tiefsten Grunde des Herzens, seit er von diesem Herzen und von seinem ewigen Gebundensein ihr mit kühlster Ruhe Dinge gesagt, die so empörend wahr waren, daß sie ganz unmöglich sie sich sagen lassen konnte! Und so ging sie stolz aufgerichtet rasch davon.

„Ihr entsetzlichen Menschen!“ stöhnte, als sich die Thür hinter ihr geschlossen, der Baron auf. „Welche Scenen sind dies! Ihr bringt mich um damit. Ihr alle seid verschworen mich umzubringen.“

Leonhard hörte nicht auf ihn. Er stand wie versteinert, den Boden anstarrend.

„Gehen Sie doch – folgen Sie ihr nach, Klingholt – sprechen Sie zu ihr! Sie haben ihr ja kein einziges Wort zu Ihrer Vertheidigung gesagt – gehen Sie und schwören Sie ihr, daß …“

„Was soll ich schwören?“ fiel ihm Leonhard in’s Wort. „Daß ich ein ehrlicher Mensch bin und unfähig, Liebe zu lügen, wo ich sie nicht empfinde? Daß ich nicht um alle Schätze der Welt mein Herz verkaufe? – Nein, Baron, das werde ich ihr nicht schwören – das nicht, und machte es mich für immer unselig, ich werde solch ein Wort nicht über meine Lippen bringen … lassen Sie mich gehen, lassen Sie mich frei nur eine halbe Stunde! Vielleicht gelingt es mir, zur Besinnung und Fassung über dies Alles zu kommen!“

Und auch er stürmte hinaus und ließ den alten Herrn in seiner Hülflosigkeit allein.



14.

Der Abreise von Fräulein Regine stand diesmal nichts im Wege. Das feindliche Lager war ja zwiespältig geworden; es schien auf jedes Vorgehen verzichtet zu haben. Andreas war nach Leonhard’s Auftrag um Damian beschäftigt, und so ging der andere Diener statt seiner und kam nach einer Weile zurück, um ihren Koffer zu nehmen und zum Wagen zu bringen. Regine folgte ihm; mit heftigem Herzpochen schritt sie die Treppenstufen in diesem für sie nun auch so verhängnißvoll gewordenen Hause hinab und trat in die graue nebelerfüllte Luft, die trüb und beengend über dem Hofe und den Thürmen und Dächern von Dortenbach lag.

Sich enger in ihren Mantel hüllend und dicht den blauen Schleier vorziehend, bestieg sie den Wagen, der wenige Augenblicke darauf über die längst wieder friedlich niedergesunkenen Bohlen der Zugbrücke rollte. Und dann ging es raschen Trabes unter den feuchten Wipfeln einer Ulmenallee über eine chauffirte Straße dahin – raschen Trabes auch noch auf den ungepflasterten Wegen zwischen Ackerfeldern und durch kleine Gehölze weiter und weiter. Regine war zu tief in ihre Gedanken versunken, um dieser Wege irgend zu achten.

Endlich, als der Wagen langsamer sich durch den Wald bewegte, schlug sie den Schleier zurück und blickte um sich. Es waren offenbar weithin sich dehnende Waldgründe, in denen sie sich befand. Leiser grauer Nebel wallte in einzelnen Flockenmassen unter den hohen Baumstämmen dahin, langsam in eine Thalsenkung zur Linken hinabziehend; eine rege Phantasie hätte sich Gestalten daraus bilden können, langbärtige graue Mantelträger, im Zuge schweigsam dahinwallend, Priester einer Waldgottheit, Druiden, zu ihrem innersten Waldheiligthum ziehend. Regine war zu erschüttert, zu schmerzlich und stürmisch bewegt, um sich Gebilden ihrer Phantasie hinzugeben, aber dennoch wirkte der eigenthümliche Zauber der Stille unter dem grünen Laubgewölbe uralter Stämme auf ihr Gemüth. Der Eindruck einsamster Weltentrücktheit, in feuchter schlummeriger Luft, kam ihr wie etwas Wohlthätiges, das jeden, auch den schmerzlichsten Herzschlag in der Menschenbrust abzudämpfen, zu beschwichtigen vermag, wenn man nur nie wieder aus solchem Wald-Bering hinaustritt und in seinem Banne verweilt.

Das war nun freilich gerade das Entgegengesetzte von dem Drang, der sie fort und in die Welt zurücktrieb. Sie war auch nicht mehr möglich, solche Romantik, solch ein Leben einer Genoveva, der ja auch im tiefsten Walde der Schmerz und die Sehnsucht nicht vergangen. Sie hätte obendrein auch die souveraine Herrin solch eines Waldgebietes sein müssen, um darin nicht täglich gestört zu werden. Die Herrin hätte sie nun allerdings sein können – gewiß gehörte der Wald noch zu Dortenbach; es hätte ihr dann nur ein Wort gekostet und …

Regine mußte plötzlich an die Wirkung solch eines Wortes denken. Wenn sie jetzt, wo sie mit Leonhard für immer gebrochen, die Erbin von Dortenbach wurde, welche Strafe war dies für ihn, wie rächte sie sich dann an seiner Falschheit! Verführerischer Gedanke! Jetzt, ja jetzt war es Zeit, seine abscheuliche Hinterlist so grausam zu bestrafen und ihn fühlen zu lassen, was er verloren; denn dann würde er es fühlen, was er in dieser Stunde vielleicht noch leichten Herzens ertrug. Aber das war ein thörichter Gedanke. Sie konnte ja nicht, durfte nicht, wollte nicht sich selber untreu werden. Doch war der Gedanke nicht so leicht gescheucht. Wie zerstreut fragte sie den Kutscher:

„Gehören diese Wälder noch zu Dortenbach?“

Der Mann antwortete ihr, ohne den Kopf zu wenden, mit einem lakonischen: „Ja!“

Aber war sie denn bei der Herreise durch einen so ausgedehnten Wald gekommen? Sie entsann sich dessen nicht. Es war Abend gewesen; sie hatte darauf auch damals nicht geachtet. Aber so geschüttelt war sie damals nicht worden, wie jetzt, wo die Pferde langsamer gingen und Mühe zu haben schienen, in den tief ausgefahrenen, offenbar selten benutzten Geleisen weiter zu kommen.

Eine Weile noch schwieg sie, indem sie um sich blickte und in ihrer Erinnerung suchte. Aber nichts kam, worauf ihr Auge schon einmal, so viel ihr bewußt war, geweilt hatte. Der Wald um sie her wurde dichter und dichter; der Wagen schwankte weiter, von einer Seite auf die andere.

Erschrocken rief sie endlich den Kutscher an:

„Dies ist unmöglich der Weg zur Eisenbahnstation. Wohin fahren Sie denn, wo sind wir?“

„Bald wieder auf dem richtigen Wege,“ lautete die Antwort; „ich habe mich ein wenig in diesen Waldwegen geirrt, aber ich kenne die Richtung, und wir werden bald wieder auf dem Fahrdamm zur Station sein.“

„Verirrt? So halten Sie doch! Sie gerathen nur immer weiter in die Irre,“ rief sie aufspringend. Ein ganz unsäglicher Schrecken hatte sie erfaßt bei der Vorstellung, tief im Walde mit dem Menschen allein zu sein, und noch mehr bei dem eigenthümlichen Klange der Stimme des Kutschers, der fortfuhr, ihr den Rücken zuzuwenden, dessen Stimme ihr aber, obwohl sie verstellt klang, doch nur zu bekannt vorkam.

Er peitschte[WS 1] auf die Pferde und fuhr weiter.

„Halten Sie – wenden Sie augenblicklich!“ rief Regine in ihrer Angst, „oder ich springe aus dem Wagen.“

Der Kutscher wandte ihr jetzt halb sein Gesicht zu – er hatte es bisher durch den aufgeschlagenen Kragen seines Mantels verborgen gehalten. Regine sah, daß sie sich nicht getäuscht, daß es wirklich und in der That Sergius von Sander war, der da vor ihr auf dem Bocke saß und die Pferde in diese Waldwildniß hinein gelenkt hatte. Er war geflissentlich mit einer wahren Schurkenabsicht in die Irre gefahren. Das schoß ihr durch’s Hirn, während er sagte:

„Springen Sie nicht aus dem Wagen, Fräulein Regine! Sie allein würden sich aus diesen Waldgründen nie wieder herausfinden. Vertrauen Sie sich ruhig meiner Führung an, theure Cousine, oder vielmehr, fahren Sie fort, mich unter Ihren Schutz

[385]

Das Judenviertel in Amsterdam. 0Nach dem Aquarell von Andreas Achenbach.

[386] zu nehmen – ich mache Ihren Kutscher ja nur um dieses Schutzes willen, nur um mich zu flüchten und unaufgehalten davon zu kommen.“

Regine hatte das Leder der Halbchaise, in der sie fuhr, schon zurückgeworfen, um im nächsten Augenblick den Wagen verlassen zu können.

„Unter meinen Schutz? Was soll das heißen?“ fragte sie heftig.

„Das soll heißen, daß ich mich flüchten muß, weil ich meinen Vetter in einem Duell schwer verwundet habe – sehr schwer – um Ihretwillen, Cousine, habe ich mich geschlagen; nun muß ich fliehen, um nicht verhaftet zu werden, und kein besseres Mittel, unbeachtet davon zu kommen, gab es, als an des Kutschers Stelle mich auf den Bock zu schwingen.“

„Ich glaube Ihnen von dem Allem nichts, gar nichts –“

„Auch nicht, daß ich mich Ihretwegen geschlagen und mein Leben auf’s Spiel gesetzt habe?“

„Was geht es mich an, wenn Sie sich mit Ihrem Vetter raufen – Sie sollen jetzt halten, wenden und mich zurückbringen, oder –“

„Oder – was werden Sie thun, wenn ich Ihnen nicht gehorche?“

„Ich springe aus dem Wagen und suche mir selbst meinen Weg zurück!“

„Sie werden ihn nicht finden. Seien Sie vernünftig, Cousine!“ sagte Sergius, der die Pferde im Schritte immer weiter gehen ließ. „Ich habe mir die Gelegenheit verschafft, vernünftig und ruhig, ohne eine Störung wie am gestrigen Abende befürchten zu müssen, mit Ihnen zu reden. Sehen Sie nicht da vor uns am Ende dieses Weges ein kleines Gebäude? Ich kenne es. Wir fahren einem verlassenen Jagdpavillon zu, den ich und Damian zuweilen benutzt haben, wo es sich gut ruhen und in der weltabgeschiedenen Waldstille friedlich reden läßt –“

Einem Jagdpavillon zu! Diese Ankündigung fehlte nur noch, um Regine vollends zu erschrecken. Sie schwieg, überlegte; wenn dieser verwegene Mensch sie da einsperrte – ihre aufgeregte Phantasie malte sich alles Fürchterliche einer solchen Lage aus – wenn er nichts scheute, seine Absichten durchzusetzen – mit ihrer schwachen Kraft war sie verloren – es war hundertmal besser, sich so lange, als sie frei war, auf ihre Füße zu verlassen und auf und davon zu gehen.

Schnell band sie den Schleier fest um ihren Hut, zog ihren Ueberwurf um die Schultern, erhob sich und sprang aus dem Wagen.

Als sie im Sturze die Erde berührte, fiel sie in die Kniee, raffte sich wieder auf, machte einige rasche Schritte und empfand einen heftigen Schmerz am linken Knöchel; sie verbiß ihn und eilte rückwärts den Weg, den sie gekommen, davon.

Sergius stieß einen Fluch aus, hielt an, kletterte vom Bocke und schlang behende seine Zügel um eins der Wagenräder. Dann eilte er ihr nach.

„Regine – ich bitte Sie, Cousine, so hören Sie doch –“

Sollte sie stehen bleiben, um erst den Schmerz an ihrem Knöchel zu überwinden? Er wurde so furchtbar heftig. Aber nein, es war ihr ja, als höre sie ferne Schritte – ferne, durch das vorjährige Laub raschelnde Schritte – kam ein Mensch, irgend ein Mensch heran, so war sie ja gerettet – und da, eine Strecke vor ihr sprang ein Jagdhund von rechts her aus dem Gebüsche auf den Weg – vielleicht war es der Förster, der Vater Leonhard’s, den ihr der Himmel in ihrer Noth entgegensandte – sie stieß den lauten Ruf: „Hülfe, Hülfe, zur Hülfe!“ aus.

In diesem Augenblicke hatte Sergius sie eingeholt. Er umspannte ihren Oberarm, und heftig rief er:

„Begehen Sie doch keine Thorheiten, Regine! Bei Gott, ich dulde es nicht; ich sehe ja, daß Sie sich verletzt haben – Ihren Fuß – Sie sollen – kommen Sie sogleich zum Wagen zurück! Aber zum Teufel – wer kommt denn da?“ fügte er, vor Zorn erblassend und mit den Zähnen knirschend, hinzu.

Ein Hund stand schnuppernd vor der Gruppe, und um sich blickend sah Sergius die Gestalt eines kräftig gebauten Mannes von rechts her auf einem Seitenwege herankommen – er war nicht hundert Schritte mehr entfernt und stapfte zwischen den grauen Stämmen her hastig heran.

Der Förster Klingholt war es nun doch nicht – er, von dem sich Regine in ihrer Noth am liebsten hätte retten lassen – aber gleichviel! es war Benning, der Rentmeister, und auch er kam in diesem Augenblicke wie ein Himmelsbote.

„Kommen Sie mir zu Hülfe – hierher zu meiner Hülfe, Benning!“ rief ihm Regine außer sich entgegen; „dieser Mensch will mich gewaltsam an einen Ort bringen, wohin ich nicht will; stehen Sie mir bei, daß ich zurückkomme!“

„Das Fräulein ist völlig unvernünftig,“ rief dagegen Sergius dem Rentmeister zu; „sie begreift nicht, daß ich bei ihr den Kutscher machen und sie weiter fahren muß, um mich in Sicherheit zu bringen; die Polizei fahndet auf mich – wegen des Duells, wissen Sie –“

Benning stand jetzt vor ihnen – mit ziemlich verblüfftem Gesicht. Er nahm den Hut ab, wischte sich mit dem Taschentuche über die Stirn und ließ dabei seine umherfahrenden Blicke forschend vom Einen zum Andern irren.

„Helfen Sie mir, das Fräulein in den Wagen zu bringen!“ eiferte Sergius weiter, „sie hat sich den Fuß verstaucht; sie kann gar nicht gehen; ich werde sie ganz sicher führen –“

„Und ich,“ rief Regine, „ich befehle Ihnen, mir beizustehen, und mich von diesem Menschen zu befreien …“

Benning hatte offenbar Zeit gehabt, sich zu besinnen. Es zuckte etwas um seinen Mund wie ein boshaftes Lächeln – dann sagte er:

„Sie befehlen mir, Fräulein, und Herr von Sander befiehlt mir auch. Sie hören, wie er mir befiehlt. Nur leider nicht dasselbe, was Sie mir befehlen. Da können Sie mir nicht übel nehmen, daß ich mich frage, wem ich zu gehorchen habe.“

„Wie,“ fuhr Regine über diese Antwort auf’s Aeußerste empört ihn an, „Sie sehen eine Hülflose in Noth und Bedrängniß und können noch zaudern, können noch fragen –“

„Eh!“ unterbrach Benning sie achselzuckend, „ich bin kein fahrender Ritter, sondern ein abhängiger Diener meiner Herrschaft, welcher in Geschäften dieser Herrschaft bei einem Pächter revidiren geht. Ich muß dem gehorchen, Fräulein, der das Recht hat, mir zu befehlen! Das müssen Sie doch einsehen und können mir’s nicht verübeln. Wenn Sie fortreisen wollen, weil, wie Andreas mir erst vor einer Stunde gesagt hat, weil Sie mit Dortenbach nichts zu schaffen haben mögen –“

„Sie werden wissen, daß ich Ihre Herrschaft, Ihre künftige Herrschaft bin, daß Sie mir zu gehorchen haben, Benning,“ rief Sergius dazwischen.

Regine war immer empörter geworden über den Menschen, der ihr in ihrer Lage den Beistand versagen konnte; es war eine unglaubliche Schlechtigkeit. Dazu kam das Gefühl absoluter Hülflosigkeit, kamen die sich steigernden Schmerzen des Fußes – sie hätte laute Wehe- und Hülfeschreie ausstoßen mögen, wenn nur irgend eine Hoffnung dagewesen wäre, daß diese etwas anderes bewirkt hätten, als das Echo der Stämme in dem weiten todtenstillen Walde zu erwecken. Ihr blieb in der Welt nur Eines übrig, und in ihrer nicht zu beschreibenden Aufregung ergriff sie dieses Eine:

„Nun,“ sagte sie, „so hören Sie denn – hören Sie es – ich sehe ja, ich kann nicht anders, und bei Gott, so will ich denn auch nicht anders – hören Sie, daß Andreas Ihnen die Unwahrheit gesagt hat: ich will mein Erbrecht auf Dortenbach behaupten, behaupten gegen wen es sei auf Erden – nicht einen Halm von Dortenbach, nicht einen Buchstaben von meinem Rechte will ich aufgeben für Leute wie Herr von Sander! Und nun wehe Ihnen, wenn Sie nicht mir gehorchen –“

„Ah bah!“ schrie Sergius dazwischen, „Ihr Erbrecht ist eine thörichte Voraussetzung, da –“

Benning sah ihn mit seinem boshaften Lächeln und einer eigenthümlich verschmitzten Miene an.

„Das,“ unterbrach er ihn, „kann ich nun hier aber doch nicht untersuchen, Herr von Sander – das müssen auch Sie einsehen, und mir schon zu Gute halten, wenn ich zunächst doch das Fräulein als meine künftige Herrschaft betrachte und ihr gehorche. Sie ist unseres Herrn nächste Verwandte, und also – bitte, steigen Sie nur wieder ein, Fräulein, stützen Sie sich auf meinen Arm! Oder befehlen Sie, daß ich Sie trage?“

„Nein, nein!“ wehrte Regine ab – „aber Ihren Arm habe ich nöthig.“

Mit Widerstreben stützte sie sich auf den dargebotenen Arm des ihr verhaßt gewordenen Menschen. Er brachte sie zum Wagen [387] und hob sie hinein. Dann erkletterte er den Bock, fuhr noch eine kleine Strecke, um Raum zum Wenden zu gewinnen, und lenkte den Wagen rückwärts.

Reginens Blicke suchten Sergius; mit bleichen, wuthverzerrten Zügen stand er noch an derselben Stelle, wo sie ihn verlassen; er starrte dem Wagen nach. Doch schien ihm eine abermalige Begegnung mit der energischen, schönen Cousine nicht wünschenswerth – er wandte sich rasch um und ging auf demselben Wege, auf welchem Benning gekommen war, in den Wald hinein.

Regine verband sich mit ihrem Taschentuch den verletzten Knöchel, ohne daß die Schmerzen darum viel geringer wurden.

Benning fuhr, so rasch es anging, auf dem Waldwege zurück. Die Aufregung, die Schmerzen ließen Regine nicht zur Besinnung über ihre Lage kommen. Sie fühlte nur in sich das Fortzittern des Zornes. Nun wollte sie auch ganz das sein, wozu Alles sich verschworen zu haben schien, sie zu machen. Halbheit lag nicht in ihrem Charakter. Mußte sie nun einmal die Erbin, die Herrin von Dortenbach sein, war es nun einmal wie ein unentrinnbares Schicksal, ein dämonisches Muß – nun wohl denn, so hatte sie die Kraft, es ganz zu sein, und es zu zeigen, es empfinden zu lassen, daß sie es war.

Die Schmerzen, welche die Stöße des Wagens ihr verursachten, steigerten nur die Bitterkeit, mit der sie solchen Entschlüssen nachhing. Zum Glücke zeigte sich nach etwa einer Viertelstunde Fahrens rechts vom Wege eine Wasserquelle, die unter den Wurzeln einer alten Buche hervorquoll und einen winzigen, aber klaren Teich zwischen Gestein, Moos und Farrenkräutern bildete. Sie ließ halten. Benning mußte ihr beistehen, auszusteigen; dann ließ sie sich neben der Quelle auf dem Wagenkissen, das Benning herbeibrachte und auf das feuchte Moos legte, nieder und begann, während Jener, discret abgewendet, bei den Pferden stand, ihren Fuß zu kühlen.

Im Anfange schien Herr Benning nicht recht den Muth zu finden, mit dem aufgeregten Fräulein eine Conversation zu beginnen. Endlich aber, nachdem er sich mehrmals geräuspert, siegte sein Mittheilungsbedürfniß.

„Sie waren da in einer üblen Lage, Fräulein,“ begann er, „mit diesen verwogenen Herrn Sergius. Daß er sich flüchten müsse, flüchten wegen eines Duells, von dem doch noch Niemand etwas gehört haben kann, das war nur …“

„Eine Lüge!“ unterbrach ihn laut Regine.

Ganz sicherlich eine Lüge! Wir haben weder Gerichte noch Polizei hier so dicht in unserer Nähe. Können’s dem lieben Gott danken, Fräulein, der mich just im rechten Augenblick dahersandte. War wahrhaftig, als ich ausging, nicht darauf gefaßt, daß ich das Glück haben würde, Ihnen einen solchen Dienst zu leisten.“

„Das schienen Sie allerdings nicht. Gefaßt auf eine Dienstleistung für mich! Es bedurfte viel Zeit, ehe Sie zu so viel Fassung gelangten!“

Benning überhörte den Vorwurf, der in diesen Worten lag, und fuhr nach einer kurzen Pause fort:

„Lassen Sie mich Ihnen noch einen Dienst leisten, Fräulein, wenn man mit einem guten Rathe das kann! Darf ich? Wenn etwas an dem ist, was Andreas mir gesagt hat, daß Sie von Dortenbach nichts wollten, so kann es nur sein, weil man Sie geflissentlich irre geführt und Ihnen die Angst erweckt hat, Sie würden mit den anderen Verwandten theilen und wegen der Theilung dann lange kostspielige, ärgerliche Processe führen müssen. Das könnte doch nur der Grund sein. Lassen Sie sich aber auf solche Reden nicht ein, Fräulein, hören Sie nicht darauf – das ist mein Rath, Fräulein Horstmar! Es ist ganz gewiß nicht an dem. Dortenbach ist ein ganz freies Gut. Wenn der alte Herr, Ihr Onkel, die Augen schließt, so fällt es Ihnen als der allernächsten Verwandten zu. Daran ist ganz und gar kein Zweifel. Und wenn Sie es haben, so können Sie damit machen, was Sie wollen. Können es behalten, können es verpachten, können verkaufen …“

Benning, der noch immer abgewandt bei den Pferden stand, hielt eine Weile inne. Da er aber vergeblich auf eine Antwort wartete, fuhr er fort:

„Sie werden es wohl verkaufen wollen. Natürlich! Was soll eine junge Dame hier sich in unserer Einsamkeit vergraben! In der Stadt, wenn man Geld hat, wohnt es sich so viel plaisirlicher. Da sieht man Menschen, hat Vergnügen; jeden Tag ein neues. Werden ein hübsches rundes Sümmchen sich zahlen lassen können für Dortenbach, Fräulein – ein hübsches Sümmchen; ich weiß, was es werth ist. Ich hoffe auch, Fräulein …“

„Was hoffen Sie, Herr Benning?“ fragte Regine kühl, während sie jetzt ihr Tuch, zu einer Compresse gefaltet und von dem kalten Naß triefend, um ihren Knöchel band, „was hoffen Sie von mir?“

„Daß Sie, wenn Sie es verkaufen, mich dabei nicht übergehen –“

„Sie – übergehen – Sie, Benning? Haben Sie denn Lust, Dortenbach zu kaufen? Sind Sie im Stande dazu?“ fragte Regine überrascht aufschauend.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Die „Gartenlaube“ und der deutsche Lehrerstand. Seit ihrem Bestehen hat die „Gartenlaube“ sich einer Reihe von Widersachern und Angriffen – wir sagen mit vollem Ernste –: zu erfreuen gehabt; denn gerade sie stellten uns unsern Lesern gegenüber das Zeugniß aus, daß wir mit unserem Streben auf dem rechten Wege seien. Da werden in jüngster Zeit brieflich und in der Presse Stimmen aus einem Berufskreise gegen uns laut, den wir vorher nur auf unserer Seite sahen und den die „Gartenlaube“ seit nun fast einem Menschenalter in allen seinen Bestrebungen unablässig unterstützt hat: Stimmen aus dem deutschen Lehrerkreise!

Und warum? Warum dieser plötzliche Wandel? Warum diese offen und schroff ausgesprochene Feindseligkeit gegen unser Blatt? – Weil die „Gartenlaube“ eine humoristische Erzählung abgedruckt hat, in welcher ein Mitglied des Lehrerstandes eine komische Rolle spielt: die Erzählung, „Ein Friedensstörer“ von Victor Blüthgen[3], im Jahrgang 1881.

Wir wollen nicht des Breiteren die am nächsten liegende Frage erörtern: wie man sich die Möglichkeit einer humoristischen Literatur vorstellen könne, wenn aus keinem Stande eine Figur genommen werden dürfte, welche die besonderen komischen Seiten, an denen es bekanntlich keinem Stande fehlt, zur Darstellung bringt. Man nenne uns einen Stand, der dazu nicht seine Opfer für den Volkswitz wie für die mannigfache poetische Gestaltung zu liefern hätte! Und wird ein Stand dadurch an seiner Ehre verletzt, dadurch in der wahren Würdigkeit der ganzen Berufsclasse herabgesetzt, wenn man einer ihm entnommenen Romanfigur eine komische Rolle anweist? Die Verständigen aller Classen gönnen der Heiterkeit ihren Spielraum, wenn es auch auf Kosten ihres Standes geschieht, und die Klugen lachen mit.

Oder halten die Lehrer ihre Ehre für so besonders leicht verletzbar, daß der harmloseste Scherz einer Erzählung sofort die Würde des ganzen Standes beeinträchtigt, das Ansehen desselben im ganzen Volke gefährdet? Unglaublich! Und doch stellt der von einer Lehrerzeitung zur andern wandernde Anklage-Artikel „Die ‚Gartenlaube‘ und der Dichter Victor Blüthgen“ dieser Annahme ein offenkundiges Zeugniß aus. Da steht mit dürren Worten: „mit solchen Veröffentlichungen verleumdet man einen ehrenwerthen, gebildeten Stand und schädigt mit dessen Ansehen die hohe Sache der Volksbildung.“

Und so etwas thut die „Gartenlaube“, die seit nun fast dreißig Jahren unablässig und oft zu ihrer eigenen Gefahr und mit manchen Opfern für diese hohe Sache der Volksbildung gearbeitet! Gewiß wohl auch unglaublich! – Wir enthalten uns jedes Wortes über und gegen diese Behauptung eines Lehrers; wir können das Urtheil darüber unserm Leserkreise innerhalb und außerhalb des Vaterlandes ruhig anvertrauen. Dagegen dürfen wir eine andere Stelle der Anklage nicht ohne Anmerkung lassen. Bezüglich des unterthänigen und unterwürfigen Gebahrens des in der Erzählung geschilderten Dorfschullehrers behauptet der Verfasser:

„Wer vor hundert Jahren so etwas schrieb, hatte dazu eine gewisse Berechtigung; denn er war nicht weit neben die Wahrheit gerathen und erreichte einen sittlichen Zweck, wenn er die Sonde an die socialen Schäden seiner Zeit legte. Beide Momente jedoch müssen solchen Veröffentlichungen heutzutage abgesprochen werden.“

Dieser stolze Satz ist leider nicht ganz richtig. Allerdings ist es durch die Hebung der Allgemeinbildung der Nation seit hundert Jahren in allen Ständen besser geworden und haben namentlich die Riesenfortschritte auf allen Gebieten menschlicher Thätigkeit in den letzten Jahrzehnten viele alte Schwächen und Mängel der einzelnen Stände beseitigt. Trotzdem ist auch diese Regel nicht ohne Ausnahmen und kann kein Stand behaupten, daß er in allen seinen Gliedern nun unantastbar dastehe, und das gilt auch für den Lehrerstand. Wir bitten unsere ehemaligen Freunde und jetzigen

[388] Feinde dringend, die folgende Mittheilung nicht mit dem schiefen Blicke der Gehässigkeit, sondern mit dem geraden der theilnehmenden Einsicht zu betrachten. Ihre Widersacherschaft zwingt uns, das, was wir soeben aufgestellt haben, auch zu beweisen.

Auf dem Repositorium unserer Redaction befindet sich auch eine „Zur Wohlthätigkeit“ überschriebene Abtheilung. Sie enthält je ein Fach für „Kriegs-Invaliden“, „Vermißte“, „Eisenbahnbedienstete und Subalternbeamte“, „Waisenversorgung“ und auch ein Fach mit der einfachen Ueberschrift: „Lehrernoth“. Hätte jener Verfasser einen Blick in diese Briefe, Zeugnisse und Actenstücke voll Klagen und Jammer geworfen, der Muth zu seiner Behauptung würde ihm geschwunden sein. Er würde erkannt haben, wie groß die Noth, wie gedrückt die Stellung noch vieler Dorfschullehrer in nicht wenigen Landstrichen des deutschen Reiches ist. Er würde aber auch mit Schrecken gesehen haben, wie Druck, Sorge und Entbehrung nicht selten das Mannesgefühl der Bittenden erstickt und sie zu Ausdrücken verleitet, welche dem „unterthänigen und unterwürfigen Geschrei“ jenes „Schulmeisters“ sehr nahe stehen. Aber auch diese „Enthüllung“ gereicht nicht den Lehrern zur Unehre; nicht Liebedienerei und Knechtssinn treibt die Unglücklichen soweit, sondern die bittere Noth, welche oft genug selbst die Kraft starker Charaktere nach und nach aufzehrt. – Da ist noch viel zu helfen, ehe man sich überhebt und den alten Mithelfer zur Seite stößt. – Nie ist eine Silbe darüber von uns verrathen; es ist so oft wie möglich den Beklagenswerthen still geholfen worden, oder wir schlugen die Angelegenheit an unser „Schwarzes Brett für die Volksschule“, das doch wahrhaftig auch nicht gegen die Ehre des Lehrerstandes von uns aufgestellt worden ist.

Lassen wir aber sogar das Hereinziehen gerade dieser Schulmeisterfigur in unsere Erzählung einen Mißgriff sein – die große Aufregung vieler Lehrer dagegen zeugt ja für eine solche Auffassung derselben –, berechtigt das den ganzen deutschen Lehrerstand, wie wenigstens die Lehrerzeitungen behaupten, im Handumdrehen aus dem Gedächtnisse der dermaligen Lehrergeneration Alles wegzuwischen, was die „Gartenlaube“ in so langer Zeit und bis zu ihren letzten Nummern für sie geleistet? Glauben die Lehrer, daß die deutschen Familien dies- und jenseits der Meere, in deren Besitz wir untrüglich über drei Millionen Bände der „Gartenlaube“ wissen, auch so rasch, wie die Herren Lehrer selbst, vergessen haben, daß unser Blatt wie kein zweites in Deutschland die Sache der Schule und der Lehrer in den schlimmsten Zeiten gegen oben und unten fest und treu vertreten hat? Und wie wollen sie sich nun die Frage beantworten, was ihre Ehre, ihr Ansehen beim Volke mehr schädigt, eine komische Schulmeisterfigur in einer humoristischen Erzählung, oder ein solches Beispiel von plötzlicher Gehässigkeit aus so kleinlichem Grunde gegen ein Blatt, das so oft in ihren eigenen Reihen „eine treue Freundin der Schule und der Lehrer“ genannt worden ist?

Uns schmerzt diese traurige Erfahrung bitter, aber wahrlich nur um der Lehrer willen. Uns wird sie von dem uns vorgezeichneten Wege nicht ablenken; wir werden auch ohne die Lehrer für sie und die freie Schule fortwirken, indem wir dem alten Banner treu bleiben, das uns in die Hand gegeben ist mit den Wahlsprüchen: „Alles für das Volk!“ und „Nur Bildung macht frei.“

D. Red.


Edmund Höfer todt! Auf dem durch so manches Dichtergrab geweiheten Friedhofe zu Cannstatt senkte man in diesen Tagen den Sarg eines Todten ein, der, wie sein Name zu den geachtetsten gehört, welche die neue deutsche Erzählungsliteratur kennt, so auch in den Reihen der Novellisten der „Gartenlaube“ eine hervorragende Stellung einnimmt: Edmund Höfer ist todt! Er starb am 22. Mai im dreiundsechszigsten Lebensjahre. Unser Blatt dankt ihm die Erzählungen „Im hohen Hause“ (Jahrgang 1861), „Der Junker von Hohensee“ (1862) und „Die Herrin von Dernot“ (1867), Prosadichtungen, welche ihm die ungetheilte Liebe und Verehrung unserer Leser eingetragen. Höfer’s Talent wird namentlich durch zwei Merkmale gekennzeichnet, deren Vereinigung eine ebenso seltene wie glückliche genannt werden muß: in ihm geht echte und ungekünstelte Gefühlswärme im Erfassen dichterischer Stoffe mit gesundem, mannhaftem Realismus im Gestalten der einmal ergriffenen Charaktere Hand in Hand, was namentlich von seinen älteren Erzählungen gilt. Zumal seine derben, starknervigen nordischen Gestalten tragen ein warm schlagendes Herz im Busen und das Roth des wirklichen Lebens auf den Wangen; sie heben sich von dem bei Höfer beliebten Hintergrunde der alten giebel- und erkergeschmückten Patricierhäuser unserer Hansastädte ebenso plastisch wie lebensvoll ab und erfreuen nicht minder durch fesselnde Eigenart im Wesen und Naturell wie durch einheitlich künstlerisches Gepräge in Zuschnitt und Haltung. Diese schätzenswerthen Eigenschaften haben auch die Leser der „Gartenlaube“, namentlich die älteren unter ihnen, an Edmund Höfer’s liebenswürdigem Talente kennen gelernt, und so wird gewiß auch Mancher aus ihrer Zahl sich mit uns einig wissen in dem zugleich schmerzlichen und erhebenden Gefühle: mit diesem jüngsten Todten der deutschen Dichtung ist wieder Einer von Denen hingegangen, welchen wir nachrühmen müssen: sie waren eine Zierde unseres Schriftthums, und ihre Werke werden sie überleben.





Vierter internationaler Alpiner Congreß zu Salzburg. Viele unserer Leser werden es mit Interesse vernehmen, daß vom 11. bis 15. August dieses Jahres zu Salzburg der vierte internationale Alpine Congreß und gleichzeitig eine Alpine Ausstellung stattfinden wird. Wie aus dem Circular des „deutschen und österreichischen Alpenvereins“ zu ersehen, wird sich das Ganze durch die Mannigfaltigkeit der zu verhandelnden Fragen und durch die Fülle der in Aussicht genommenen Vorträge sehr anregend und interessant gestalten. Die Ausstellung selbst umfaßt nachstehende fünf Gruppen: 1) Alpine Publicationen der Presse, 2) Kartenwerke, 3) Bau- und Hüttenpläne (Entwürfe, Pläne, Modelle, Kostenberechnungen, Abbildungen von Hütten und alpinen Bauten), 4) Bildliche Darstellungen (Ansichten alpiner Landschaften, Panoramen, Trachten etc. in Zeichnung, Photographie, Licht-, Schwarz- oder Farbendruck mit Ausnahme von Gemälden) und 5) Alpine Ausrüstungsgegenstände. Wenn man bedenkt, was in den letzten Jahren für die Erforschung der Alpenwelt und für die Erleichterung des Touristenverkehrs geleistet worden ist, so muß man den Gedanken an eine derartige Ausstellung nicht nur als einen sehr glücklichen, sondern auch als einen höchst zeitgemäßen betrachten. Leider gestattet uns der beschränkte Raum nicht, ausführlicher auf diesen Gegenstand einzugehen, und wir verweisen daher Alle, die sich für denselben besonders interessiren, an den Vorstand der „Section ‚Salzburg’ des deutschen und österreichischen Alpenvereins“, Herrn Professor Eduard Richter in Salzburg.





Goetzinger’s Reallexicon der deutschen Alterthümer. Ein Hand- und Nachschlagebuch. Abtheilung I und II. Leipzig. Woldemar Urban.

Der praktische Gedanke der „Nachschlagebücher hat nunmehr nach den klassischen und französischen auch die deutschen Alterthümer in lexikalische Form zusammen gedrängt. Nach dem bedeutenden Aufschwunge, den die deutsche Geschichts- und Sprachforschung genommen hat, konnte es nicht ausbleiben, daß über die Kreise der Fachgelehrten hinaus der Gebildete überhaupt sich einer gewissen Bekanntschaft mit den Ergebnissen jener großartigen Leistungen auf dem Gebiete der deutschen Alterthumsforschung nicht entziehen konnte. Besonders seitdem der Deutsche sich von Neuem als Glied einer großen Nation hat fühlen lernen, wendet er sich naturgemäß wieder der deutschen Urzeit und jenen Zeiten des Mittelalters zu, wo Deutschland eine gleiche Machtstellung einnahm wie jetzt. Und mit Recht; denn in jener Urzeit liegen schon die Grundzüge deutscher Art und deutscher Gesittung, und in uns leben jene Culturanlagen noch fort. In diesem Sinne ist das vorliegende Werk geschrieben. Die einzelnen Artikel sind kurz und allgemein verständlich geschrieben, beruhen aber auf den Forschungen unserer hervorragendsten Germanisten und Historiker und umfassen besonders die Alterthümer des Staatslebens, des Krieges, der Literatur und des häuslichen Lebens. Zur weiteren Orientirung ist bei jedem Artikel die entsprechende Literatur angegeben. Das Ganze athmet einen so intimen Geist deutscher Forschung, daß das Buch jedem, der nur einiges Interesse für die Culturentwickelung unserer Vorfahren hat, ein nützliches und willkommenes Hülfsbuch sein wird.




Kleiner Briefkasten.



W. Z. in New-York. Wir dienen Ihnen mit dem größten Vergnügen, wie es uns überhaupt eine Freude ist, unseren Mitarbeitern und Abonnenten mit Rath und That zur Seite stehen zu können. Also haben Sie die Güte, uns näher zu benachrichtigen!

Frau S. Sch. geb. I. in Kassel. Befremden wider Befremden! Vergegenwärtigen Sie sich gefälligst den Gang unserer Correspondenz! Sie senden uns einen längeren novellistischen Beitrag und erhalten denselben nach Ablauf von sechs bis acht Wochen mit einem eingehend motivirenden Dankschreiben zurück, welches die Arbeit als nicht geeignet für die „Gartenlaube“ in den höflichsten Worten ablehnt und um weitere gefällige Beiträge bittet. Wir hätten die Angelegenheit, wie dies bei anderen Redactionen üblich, auch einfach geschäftlich-summarisch behandeln können. Das thaten wir nicht. Und was ist der Lohn für unsere Galanterie? Eine beleidigte Epistel Ihrerseits, in der Sie sich über unseren „langsamen Geschäftsgang“ als eine Ihnen widerfahrene „grobe Unzulänglichkeit“ bitter beklagen. Alle Rücksichten der Höflichkeit unsern Mitarbeitern gegenüber in Ehren, zumal wenn diese dem schönen Geschlechte angehören! Aber, geehrte Frau, gegen eine Sprache, wie Sie sie zu führen belieben, müssen wir denn doch auf das entschiedenste protestiren. Keinem unserer geehrten Correspondenten dürfen wir gestatten, die Dehors des journalistischen Verkehrs uns gegenüber aus den Augen zu lassen. Soviel gegen die Form Ihrer Zuschrift! — Was den Inhalt derselben betrifft, so bitten wir Sie, uns gefälligst die Frage zu beantworten: Woher soll eine vielbeschäftigte Redaction, der täglich mindestens sechs bis acht Beiträge von dem Umfange des Ihrigen zugehen (die zahllosen weniger voluminösen gar nicht mitgerechnet!), die Zeit hernehmen, dieses Material neben den zeitraubenden laufenden Arbeiten zu bewältigen, wenn man ihr für umfangreiche Erzählungen nicht mehrere Wochen Lesefrist gewährt? Verehrte Frau, der Tag hat auch in Leipzig nur vierundzwanzig Stunden.

D. K. in Riga. Verfügen Sie ganz über uns, geehrte Frau! Trotz unserer sehr in Anspruch genommenen Zeit werden wir Ihrem so liebenswürdig ausgesprochenen Wunsche gern entsprechen.

C. H. in Toledo, Ohio. Herzlichen Dank für Ihre freundliche Mittheilung und Ihre Sympathie für unser Blatt! Das Mittel, über welches Sie von uns Auskunft zu erlangen wünschen, ist uns nicht bekannt. Man kann aber fast mit Sicherheit annehmen, daß die Anpreisung desselben auf Schwindel beruht, da es gegen das erwähnte Uebel keine Heilmittel dieser Art giebt.

M. B. in G. Redactionsgeheimniß.

H. K. Ein Werk über Kryptographie, das für jede Sprache brauchbar ist, existirt nicht. Das des Herrn V. Niethe (Buchdruckereibesitzer in Berlin) hat den Titel: „Das bei der Chiffrir-Abtheilung des deutschen Reichskanzleramtes eingeführte Chiffrirsystem. Berlin, 1874. Druck und Verlag von H. Niethe. Preis 20 Mark.“

A. Z. in Palermo. Sehr gern!

Hermann B. Die deutsche Handelsflotte ist die drittgrößte der Welt und wird nur von den Handelsflotten Englands und der Vereinigten Staaten von Nordamerika übertroffen. Im Jahre 1879 zählte sie 351 Dampfer und 4453 Segelschiffe, deren Tonnengehalt 1,129,129 betrug, wovon auf die Dampfschiffe 179,662 Tonnen entfielen. Im Jahre 1881 erreichte unsere Handelsflotte bereits eine Leistungsfähigkeit von mehr als 1,600,000 Tonnen.



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Vergl. Nr. 9 „Die neue Aera der Polarforschung“.
  2. Das Personal dieser Stationen ist aus den wissenschaftlichen Kreisen verschiedener Theile Deutschlands gewählt worden. Es setzt sich folgendermaßen zusammen: Für die nördliche Station in Cumberland-Sund: Chef der Expedition Dr. Giese aus Colberg, ferner Astronom Leopold Ambronn aus Meiningen, Astronom Dr. Ludwig Rösch aus Oettingen, Dr. Abbes aus Bremen als Physiker und Mathematiker, Dr. Böckler aus Eßlingen als Ingenieur, Dr. Schliephacke aus Wiesbaden als Naturforscher, K. Seemann aus Hamburg als Mechaniker. Für die südliche Station auf Süd-Georgien: Chef der Expedition Dr. Schrader aus Braunschweig, Assistent an der kaiserlichen Sternwarte in Hamburg, ferner Studienlehrer Dr. Vogel aus Uehlfeld in Franken, Lehrer der Physik Dr. Will aus Erlangen, Lehrer der Physik Dr. Klauß aus Mannheim, Ingenieur Eugen Mosthof aus München, Dr. med. von den Steinen aus Berlin als Arzt und Naturforscher, Adolf Zschau aus Dresden als Mechaniker. Außerdem wird noch jede der beiden Stationen je vier gediente Leute der Marine zur Bedienung erhalten.
  3. Die Angabe der „Mecklenburgischen Schulzeitung“, daß Victor Blüthgen „Mitredacteur der ‚Gartenlaube‘“ sei, beruht auf einem Irrthum. Herr Blüthgen war längst aus der Redaction freiwillig ausgeschieden, als er die Erzählung einsandte, die wir abdruckten.
    D. R.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: peitsche