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Autor: Edmund Hoefer
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Titel: Im hohen Hause
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 1–4
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Fortsetzungsroman in 4 Teilen // Heft 1–4
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[1]

Im hohen Hause.

Eine Geschichte von Edmund Hoefer.

„Vor dreißig Jahren,“ begann der pensionirte alte Oberst seine Mittheilung, „war ich eben Hauptmann geworden und noch obendrein im Regiment, welches in meiner Vaterstadt garnisonirte, so daß alle meine Wünsche erfüllt waren, da starb mein alter Papa, und meine Mutter, eine gar treue und liebe Seele, folgte ihm auch auf diesen Weg schon nach acht Tagen redlich nach. Meine Schwester und ich waren sehr betrübt; sie mußte ihres Gatten wegen wohl in der Stadt bleiben, mir aber war diese so gründlich verleidet, daß ich alsbald um Versetzung einkam. Und da meine Vorgesetzten wirkliche Theilnahme für mich zeigten, sah ich auch diesen Wunsch schon nach kurzer Zeit und zwar in einer Weise erfüllt, wie ich’s gar nicht zu hoffen gewagt. Ich erhielt eine der beiden Jägercompagnieen, welche damals in E. standen, und reiste an meinen Bestimmungsort mit allem Jubel ab, den ich nach den schweren Unglücksfällen überhaupt nur noch in mir hatte. Waffe und Dienst entsprachen meinen Neigungen viel mehr, als meine bisherige Stellung bei der Linie, und dazu kam endlich noch, daß E. von allen Jäger-Garnisonen bei weitem die angenehmste und behaglichste sein sollte. Ich fand auch gleich anfangs, daß man nicht zu viel gesagt.

„E. war damals nicht einmal eine Mittel-, sondern nur eine kleine Stadt, aber eine der hübschesten und reinlichsten, die ich je gesehen; die Bewohner waren ein ruhiges und freundliches, umgängliches Völkchen, das mit der Garnison im besten Einvernehmen lebte. Die Classe der „Gebildeten“ war ungewöhnlich zahlreich; die Mitglieder des Magistrats, der sich noch nach alter Weise ergänzte und von keiner Städteordnung wußte; die Beamten eines Ober- und eines Untergerichts; die Lehrer des Gymnasiums; die Aerzte, unter denen ein paar einen großen Ruf und ein noch größeres Vermögen besaßen; einige Engroshändler, Kaufleute, Rheder etc.; endlich die Gutsbesitzer der reichen Umgegend – diese alle bildeten einen sehr großen, angenehmen, heiteren und anständigen Kreis, in dem selbst der Anspruchvollste die ihm entsprechenden Elemente und Unterhaltung finden konnte, und in dem wir Officiere uns auf das Behaglichste zu Hause fühlten. Der Ton war der freiste und ungezwungenste von der Welt, die Häuser aller Genannten waren jedem Vorgestellten geöffnet, man kam und ging nach Gefallen, kleine Kreise und größere Gesellschaften machten alle immer bekannter und vertrauter mit einander; von Standesvorurtheilen, von Kastengeist und dergleichen zeigte sich wenig oder nichts, und ein junger Mann, der nicht gar zu grämlich war, konnte in E. ein Leben führen, wie Gott in Frankreich.

„Nun war ich weder alt noch grämlich, aber ich hatte Trauer und zwar ein ganzes Herz voll, und so wird es auch begreiflich sein, daß ich für’s Erste wenigstens dem Gesellschaftstreiben fern blieb, welches freilich damals – wir waren im September – überhaupt noch kaum begonnen hatte. Dafür aber war jetzt die Jagdsaison in vollster Blüthe, und die Umgegend von E. bietet zu Lande und Wasser einem eifrigen Jäger so viel Gelegenheit, seinen Neigungen zu folgen, wie in diesem Umfange vielleicht kein anderer Ort Deutschlands. Eine große Jagd hatten wir Officiere selbst gepachtet, andere wurden uns mit höchster Liberalität zur Disposition gestellt, und ihr mögt daher euch selbst sagen, wie ich leidenschaftlicher Nimrod hier in meinem Elemente war. Ich traf es überhaupt ganz gut. Das Quartier des Cameraden, an dessen Stelle ich kam, war für mich Junggesellen zu groß, ein anderes, das mir gefallen hätte, nicht frei, und so zog ich – was freilich eigentlich nicht sein sollte, jedoch vom Commandeur freundlicherweise gestattet wurde – vor’s Thor, in das sehr hübsche Haus eines pensionirten Majors.

„Dort hatte ich nicht nur Einsamkeit und Ruhe, wie sie meiner [2] noch sehr gedrückten Stimmung zusagte, sondern konnte auch am freisten und unbelästigtsten meiner Neigung zu einsamen Streifereien folgen. In der Stadt würde sich oft genug jemand gefunden haben, der sich mir angeschlossen hätte; hier trat ich aus der Haus- oder Gartenthür und war beinah schon auf dem Jagdterrain. Die Gemeindeweide einerseits, ein großer See und sich anschließende Rohrbrüche auf der andern Seite, ausgedehnte Felder, kaum eine halbe Stunde entfernte Waldungen boten mir nah und fern Gelegenheit zu allem, was mir gerade wünschenswerth war. Ich wurde von niemand belästigt und belästigte niemand. Es waren vor diesem Thor nur drei oder vier Häuser und ein paar Scheuern; die kleine Stadt breitete sich, wie man das ja auch von größeren weiß, mehr gegen Westen und Süden aus, als gegen Osten, wo meine Wohnung lag.

„Das Haus des Majors stand ganz frei, dazu noch auf einer kleinen Bodenerhebung, und ich hatte daher aus meinen Parterrezimmern einen weiten Aus- und Umblick. Rückwärts sah ich einen großen Theil des exwähnten Sees, Rohrbruch, Felder und lang hinziehende Waldungen. Vorn hinaus lag rechts ein einzelnes Gehöft, dahinter Felder und die Gemeindeweide, links die Stadt. Viel von ihr sah ich freilich nicht, aber was ich sah, gefiel mir. Die grünberasten alten Wälle hoben sich hoch empor, gekrönt von wirklich prachtvollen Lindenalleen. Hinter denselben zeigten sich in den Zwischenräumen der Stämme Stücke der Stadtmauer und über dieselbe aufragende Giebel der dahinter befindlichen kleinen Häuser. Der wirklich zierliche und schöne Thurm der Marienkirche stieg hoch über die höchsten Wipfel empor und ließ mich in seiner wunderbar feinen Pyramide eine stets neue Freude haben, und endlich präsentirte sich in einer, ich weiß nicht, ob zufälligen, ob absichtlichen Lücke der Allee ein großes, hohes, fast thurmgleiches Haus. – Die von Ziegelsteinen ausgeführten Mauern waren ungewöhnlicher Weise niemals mit Mörtel und Farbe überzogen worden, zeigten vielmehr die natürliche satte, braunrothe Färbung des Materials, und wenn an einem dunstigen Morgen die durchbrechende Sonne die mir zugewendete Hinterseite des Gebäudes mit ihren Strahlen übergoß, sah es genau so aus, als sei dasselbe aus matt glänzendem Kupfer errichtet. In der Stadt aber nannte man es allgemein „das hohe Haus“.

„Das Haus war sichtbar nicht gerade alt, denn es hatte kein Giebel-, sondern ein modernes Querdach; dessen ungeachtet machte aber der ganze Bau einen so festen, soliden und gediegenen Eindruck, wie wir ihn sonst nur vor den Erbhäusern alter reicher Patriciergeschlechter zu empfangen pflegen. Dies Aeußere zog mich unwiderstehlich an, ich beschäftigte mich in einsamen Stunden, wenn ich einmal müßig am Fenster weilte und träumte, viel mit dem Gebäude, beobachtete – studirte, darf ich nicht sagen, da nichts Besonderes daran zu finden war – es von unten bis oben und interessirte mich unwillkürlich für diejenigen, welche es bewohnen, für das, was sie treiben mochten, bevor ich noch von diesen Bewohnern und ihrem Treiben irgend etwas erfahren hatte. Viel Leben herrschte in dem Hause nicht – ihr müßt bedenken, daß es in grader Linie höchstens fünfhundert Schritt von mir entfernt war und daß ich mit meinen ausgezeichneten Augen daher alles, was an seinen Fenstern geschah, gut genug erkennen konnte. Im obersten Stockwerke zeigte sich ein Mann, eine Treppe tiefer eine ältliche Dame und eine jüngere – jedoch auch nicht mehr junge; ein schmuckes Dienstmädchen erschien oben und unten beim Lüften und Reinigen. Das war alles.

„Die Leute wohnten im Hause hierher, nach hinten, hinaus, da die Straße, in der das Gebäude lag, für Gebildete keinen besonders angenehmen, geschweige denn lockenden Anblick gewähren konnte. Es war die äußerste der Stadt, nur auf der einen Seite von einer fortlaufenden Zeile meist kleiner und ärmlicher Häuser gebildet, während auf der andern Seite häufig große Zwischenräume erschienen, welche sich dann nur durch die Stadtmauer selber begrenzt zeigten. Die Straße hieß einfach genug „am Walle“ – jenseits der Mauer und des innern Grabens zog sich dieser hin – und wurde, wie gesagt, von armen Leuten bewohnt, zwischen deren Häuschen das große rothe stattliche Haus noch auffälliger erscheinen mußte.

„Was den Erbauer desselben grade diese Gegend hatte wählen lassen, weiß ich nicht zu sagen, wie ich denn auch von der Vorgeschichte des Gebäudes wenig Anderes erfahren und zu melden habe, als daß das Haus in der Stadt nicht sowohl berühmt als vielmehr berüchtigt war. Alle Familien, die dasselbe bewohnt hatten, sollten durch dies oder jenes Unglück verfolgt und dadurch bewogen worden sein, den Besitz bald wieder an einen nicht abergläubischen Liebhaber abzutreten. Sicher war, daß das Haus, bevor der jetzige Besitzer es erworben, an zwanzig Jahre lang leer gestanden und von den Erben seines letzten Bewohners stets vergeblich zum Kauf ausgeboten worden war. Jetzt bewohnte es ein Rath des Obergerichts, dem Haus und Grundstück so sehr gefallen, daß er es gleich nach seiner Anstellung in E. erkauft und mit Liebhaberei angemessen eingerichtet hatte. Verheirathet war er nicht; seine verwittwete Mutter lebte bei ihm und füllte die Stelle der Dame des Hauses auf das Liebenswürdigste aus. Er hieß Robert Schenk und war, um auch das zu erwähnen, damals etwa dreiunddreißig Jahre alt, also mit mir etwa in gleichem Alter.

„Schenk galt bei Allen, welche dergleichen beurtheilen konnten, für einen der befähigtsten Köpfe unter den Juristen des Staats und sollte zumal für sein specielles Fach, das Criminalwesen, die eminenteste Begabung besitzen und auch bewiesen haben. Bisher war er in der Residenz angestellt gewesen und nur auf sein besonderes Ansuchen in die Provinz versetzt worden. Man wußte nicht, was ihn zu diesem Schritt veranlaßt hatte, jedenfalls freuten sich desselben aber nicht nur seine neuen Collegen, sondern auch bald die ganze Gesellschaft von E., der er sich nach allen Seiten hin und in jeder Weise beliebt zu machen wußte und von jedermann auf’s Höchste geachtet, von allen ihm so oder so Untergebenen geradezu verehrt wurde. Man konnte in Wahrheit von ihm sagen: er hatte keinen Feind, und seit seine Mutter angelangt war und er sein Haus eröffnet hatte, fanden ihn selbst die jungen Damen mehr als erträglich, welche ihn trotz all’ seiner Vorzüge anfänglich etwas zum alten Register gezählt und mit einer gewissen Sorge daran gedacht hatten, er könne vielleicht um eine von ihnen anhalten. Sie wußten, daß er von den Eltern keinen Korb bekommen hätte. Nun aber, wo sie sahen, wie angenehm es eine Frau in diesem Hause, an der Seite dieses Mannes haben würde, waren sie selber entschieden, einen etwaigen Antrag nicht abzulehnen. Ein solcher blieb aber aus; Schenk war jetzt, nach anderthalb Jahren, nicht nur unverheiratet, sondern man wußte auch nicht einmal eine einzige Dame zu nennen, der er mehr Aufmerksamkeit erwiesen hätte, als allen andern bei Gelegenheit gleichfalls. Denn er war ein artiger, galanter Mann.

„Es mochte etwa vierzehn Tage nach meiner Ankunft sein, und ich wußte damals natürlich schon von den Bewohnern des großen Hauses, als ich Schenks Bekanntschaft machte. Ich war Abends zufällig ziemlich zeitig auf die „Harmonie“ gegangen, um ein paar Zeitungen zu lesen, und fand im Lesezimmer nur einen Mann am nächsten Tisch sitzen, der bei meinem Eintritte flüchtig auf– und mich anschaute. Ich kehrte mich nicht weiter daran, sondern sah die umherliegenden Blätter durch, um mir ein zusagendes zu wählen. Da stand er plötzlich neben mir und sagte: „In der kleinen Stadt müssen wir uns doch kennen lernen, zumal wir ja beinah Nachbarn sind. Ich bin der Gerichtsrath Schenk.“ Und während ich mich wie üblich verbeugte, setzte er lächelnd hinzu: „Sie kennen mich wohl nicht mehr, Herr Hauptmann?“

„Ich sah ihn an und – war sogleich orientirt. Man konnte auch diese markirten und doch angenehmen Züge, dies geistvolle und zugleich freundliche braune Auge, dies schwarze leicht gelockte Haar – es sind diesmal keine Roman-Locken, sondern wirkliche – mit einem Wort, man konnte diesen Mann nicht vergessen, wenn man mit ihm einmal in Verkehr gewesen; seine ganze Erscheinung war nichts weniger als eine gewöhnliche. Man mußte augenblicklich erkennen, daß man es in ihm mit einem bedeutenden so gut wie mit einem liebenswürdigen Menschen zu thun habe. Wir waren uns vor zwölf Jahren, er als Referendar und ich als zur Kriegsschule commandirter junger Lieutenant, in P. bei einer widerwärtigen Geschichte zwischen einem seiner Collegen und einem Cameraden von mir begegnet – als Secundanten – und sein Benehmen und Auftreten hatte schon damals uns jungen Burschen die höchste Achtung eingeflößt. Bald nachher waren wir uns freilich wieder aus den Augen gekommen, nun aber erinnerte ich mich, zumal auf seine Frage, an alles und bot ihm herzlich die Hand.

„So war die Bekanntschaft erneuert. Wir plauderten viel an dem Abend, einige Tage darauf ging ich zu ihm, kam er zu mir, wir gefielen einander je länger desto besser und waren bald so gute Freunde, daß wir fast alle Tage einmal, häufig genug ganze [3] Abende bei ihm oder bei mir zusammen saßen. Seine Mutter und ihre Gesellschafterin, ein Fräulein Beck, störten uns nicht, ließen mich vielmehr nur um so lieber einen Abend in diesem Kreise zubringen. Beide Damen waren anspruchslos und voll warmer Theilnahme, dazu gebildet, und die Alte besonders erinnerte mich häufig an meine selige Mutter und ihr stilles, herzliches, feines Walten.

„Schenk war sehr wohlhabend, während er und die Seinen doch im Grunde gar wenige Bedürfnisse hatten. Er verwendete daher einen bedeutenden Theil seiner Einkünfte auf die behagliche und stattliche Einrichtung seines Hauses, auf die Verbesserung und Ausschmückung des dazu gehörenden Grundstücks und hatte trotz der kurzen Zeit darin schon viel geleistet. Das Gärtchen hinter dem Hause war noch jetzt voll Grün und Blüthen; ein Altan auf der Stadtmauer, unter dem dichten Laubdach einer alten Kastanie, gewährte einen wirklich hübschen Ausblick über den Wall in’s Land, auf den See; und im großen Garten, der sich jenseits der Mauer im alten Graben hinzog, – der Besitzer des Grundstücks hatte die ungewöhnliche Vergünstigung einer Pforte durch die Stadtmauer – waren ein paar Treibhäuser angelegt, das meiste Land aber zu einer ausgebreiteten Rosencultur bestimmt. Er liebte diese schönen Blumen leidenschaftlich, und es vereinte uns noch mehr, daß auch ich von meines Vaters Gartenbeschäftigung her eine Vorliebe für dieselben hatte und, bei gelegentlicher Erwähnung verschiedener Sorten und ihrer Namen, ihm doch nicht immer unwissend und theilnahmlos gegenüberstand. Und so muß ich denn auch hier wiederholen, was ich vorhin gesagt – wir waren so freundschaftlich mit einander, wie es bei Menschen, die sich zuerst und wirklich in einem Alter, wie unser damaliges war, begegnen, nur irgend möglich sein dürfte.

„So verging der Herbst und der größte Theil des Winters, und Schenk und ich freuten uns schon auf die jetzt bald erscheinenden schönen Tage, wo wir die Gartengeschäfte beginnen könnten. Seine Leidenschaft hatte auch mich ergriffen, und wir saßen oft und oft vor den saubern Plänen der neuen Anlagen, beriethen, zeichneten, verbesserten, zeichneten wieder, bis alles in bester Ordnung war.

„Im Anfang des December war zu einem großen Ball ein Camerad aus der nächsten Garnison zu uns herübergekommen, hatte sich beim Tanzen versehn und lag schon folgenden Tags so krank darnieder, daß man lange Zeit an seinem Wiederaufkommen zweifelte. Seine Genesung verzögerte sich auch von Woche zu Woche, und erst am zweiten März bestieg er den Postwagen, um zu seinem Regiment zurückzukehren. Wir hatten den armen Burschen alle lieb gewonnen, ihn gepflegt und später unterhalten, so gut wir’s vermochten, und da er nun abreisen wollte, ein Abschiedsessen arrangirt, von dem aus wir ihn dann in corpore zur Post begleiteten. Von eigentlichen größeren Gesellschaften hatte ich mich bisher ferngehalten, von dieser Vereinigung konnte und wollte ich mich nicht ausschließen, und hielt wacker und verhältnißmäßig fröhlich mit den Andern aus und rief mit ihnen dem Davonfahrenden mein Lebewohl nach.

„Das war um drei Uhr Nachts, und da wir auseinander gingen, zog mich der Commandeur noch im Gespräch mit sich fort und bis zu seiner Wohnung, welche in der Nähe des rothen Thors lag. Von dort aus konnte ich auch über den Wall nach Hause gelangen, und da ich mich begreiflicherweise doch etwas heiß und aufgeregt fühlte, zog ich den weiteren Weg durch die frische Luft dem durch die schmutzigen Straßen vor, passirte das Thor und spazierte leise pfeifend und in bester Laune auf dem Walle hin. Da ich am Pfaffenthor, dem nächsten vor dem meinen, vorüberkam und drüben eben die letzte Wallstrecke betrat, schlug es vom Marienthurm halb Vier, und ich beeilte meinen Schritt, um endlich ins Bett zu kommen, weil ich am nächsten Tage viel Dienst hatte. Es war eine dunkle, nicht kalte Nacht, und in der mir zunächst liegenden Straße „am Wall“ noch eben so still wie in der ganzen Stadt und Umgegend. Selbst die mir jetzt sichtbar werdenden Fenster von Schenk’s Schlaf- und Arbeitszimmer waren dunkel, und ich nahm mir vor, ihn damit etwas zu necken. Er behauptete nämlich, daß er fast ausnahmslos gegen vier Uhr schon am Schreibtisch sitze, und hatte meine bescheidenen Zweifel mit der Aufforderung zurückgewiesen, ich möge mich bei Gelegenheit durch den Augenschein davon überzeugen.

„Während ich so ging und schaute – ich muß hinzufügen, daß der Weg feucht und ziemlich erweicht war, sodaß meine Schritte fast unhörbar sein mochten – tauchte plötzlich neben mir, auf der Seite von Schenk’s großem Garten, hinter einem Baume eine Gestalt empor, wandte den Kopf gegen mich, von mir ab, und schoß so hastig vorüber und fort, daß ich, der ich doch auch nicht langsam war, sogleich weit zurückblieb und nach wenig Secunden schon nichts mehr von ihr erblicken konnte. Das alles ging so schnell, daß ich nichts weiter erkannt hatte, als einen anscheinend großen Mann im Mantel und hohen schwarzen Hut. Er mußte hinter einem der dicken Lindenstämme gestanden haben, und war durch mein rasches und leises Nahen vermuthlich ebenso überrascht worden, wie ich durch seine plötzliche Erscheinung. Doch dachte ich nicht weiter darüber nach, da man ähnlichen Nachtvögeln ja gar nicht so selten begegnet, und als ich erst daheim war, machte ich, daß ich ins Bett und in den Schlaf kam.

„Am nächsten Morgen hatte ich um acht Uhr Compagnie-, um neun Uhr Abtheilungs Exerciren; Wachparade, Appell und dergleichen währten bis zwölf Uhr; dann gingen wir zu Tisch. Nachmittags um zwei Uhr folgte eine Revision der Kammer, und so ging der Tag hin, ohne daß ich wußte wie, und es war schon nahe an Fünf, als ich endlich daran denken konnte, zu dem Kaffee zu gehen, zu dem die Gerichtsräthin Huber mich und ein paar Andere eingeladen hatte. Leybold, der in der Nacht abgereiste Camerad, war ein Freund ihres Mannes und hatte seine ganze Krankheit in ihrem Hause überstanden, sodaß wir alle dort sehr bekannt geworden waren.

„Bringen auch Sie Schenk nicht mit?“ rief mir die freundliche Wirthin beim Eintreten entgegen, und da ich mich verwundert darüber, daß der Genannte noch fehlen sollte, unter den Anwesenden umsah, fuhr sie fort: „Er kann die Einladung gestern doch nicht überhört oder falsch verstanden haben, und es ist heut auch kein Sessionstag. Ich dachte, er würde mit Ihnen kommen, lieber Hauptmann; jetzt wird’s mir aber unbegreiflich. Er ist sonst so pünktlich.“

„Ich will hingehen,“ sagte meine Mütze wieder aufnehmend, „und werde ihn tüchtig ausschelten.“ Und lachend setzte ich hinzu: „Es scheint überhaupt mit ihm bergab zu gehen, denn heut Morgen gegen vier Uhr muß er noch geschlafen haben wie ein Murmelthier, statt gebührender Weise bei der Arbeit zu sitzen, der Renommist!“

„Bleiben Sie nur,“ versetzte sie jetzt gleichfalls lachend. „Mein Mann wurde eben noch zum Präsidenten gerufen und versprach auf dem Heimwege bei Schenk vorzusprechen; denn wir warten ja schon anderthalb Stunden auf Sie und ihn. – Huber muß jeden Augenblick wieder kommen.“

„So nahm ich denn Platz bei den Uebrigen, trank einen vortrefflichen frisch bereiteten Kaffee, plauderte und scherzte und war guter Dinge, bis die Thür sich öffnete und der Hausherr eintrat – gleichfalls allein. „Aber Ernst,“ rief ihm die Gattin entgegen, „was heißt denn das? Kommt Schenk denn nicht? Aber mein Gott,“ brach sie ab und sprang auf, „wie siehst Du aus? Was gibt es?“

„Sie hatte wohl ein Recht zu der Frage so gut wie zum Schreck, denn Huber sah in der That so bleich und angegriffen aus, daß es uns alle bestürzte. Er fuhr mit der Hand über Stirn und Augen, allein es ward dadurch nicht anders, und als er nun sprach, wurde seine Erschütterung noch merkbarer, so schwer und dumpf, ja fast bebend klang die sonst klare fest Stimme. „Schenk ist verhindert, Kind,“ sagte er; „er kann heut nicht erscheinen.“

„Um Gotteswillen, Mann, was hast Du?“ forschte sie angsthaft: wir alle waren athemlos. Es mußte etwas sehr Ernstes, vielleicht etwas Schreckliches sein, was den ruhigen festen Mann da vor uns so bewegte, daß wir jetzt sogar eine Thräne in seinem Auge sahen. Und da legte er den Arm um seine Frau und faßte ihre beiden Hände in seine Rechte und sprach mit mühsam erhaltener Fassung: „Kinder, ich kann’s Euch nicht länger verbergen – Freund Schenk wird niemals wieder zu irgend Jemand von uns kommen, – er ist todt.“

„Todt?“ riefen wir entsetzt ihm nach und zuckten zusammen und auf und starrten ihn an wie betäubt. Todt? War denn das ein Scherz? Aber kann und darf ein Ehrenmann mit so etwas scherzen, und war das Scherz, was uns aus Hubers Auge, aus seiner Stimme, seinem ganzen Wesen entgegentrat? Und doch – Ernst? Aber wie war es denn möglich? Schenk war ja ein gesunder, rüstiger, noch junger Mann, so viel ich wußte, ohne die entfernteste [4] Anlage zu irgend einer rasch verlaufenden Krankheit. Ich erinnerte mich sogar von seiner Mutter und ihm selbst gehört zu haben, daß er seit den gewöhnlichen Kinderkrankheiten nie auch nur eine Stunde darnieder gelegen oder wirklich unwohl gewesen. Das schoß mir alles durch den Kopf, und dazu der Freund verloren, der mir in kurzer Zeit so nahe getreten – und dazu der Jammer der bejahrten Mutter, deren einziges Kind er war – ! – Ich wandte mich stumm ab und steckte den Degen an und langte nach der Mütze.

„Bleiben Sie da, Hauptmann,“ sagte Huber, der meine Absicht verstand, während er seine noch immer ganz betäubte Frau zu ihrem Stuhl führte und sie sanft darauf niedergleiten ließ. „Sie sind dort jetzt nichts nütz. Seine arme Mutter ist nicht gefaßt genug, um schon Jemand zu sehen, und dazu ist jetzt gerade das Gericht im Hause.“ Und da bei diesem seltsamen Wort seine Frau so gut wie wir alle von Neuem zusammenfuhren, ergriff er die Hand der Ersteren und setzte gepreßt hinzu: „Ja, das Gericht, denn Schenk ist keines natürlichen Todes gestorben, sondern – ermordet.“

„Seht, ihr Grasaffen,“ unterbrach sich der sichtbar erschütterte alte Erzähler, der wie mancher Seinesgleichen seiner Bewegung Meister zu werden suchte, indem er gegen seine Umgebung rauher und barscher auftrat, als er es sonst jemals in der Gewohnheit hatte, – „seht, Ihr Grasaffen, Ihr habt es jetzt leicht. Ihr wißt, daß ich Euch etwas Besonderes erzählen will, und die Menschen, von denen Ihr hört, gehen Euch so gut wie nichts an. So hört Ihr mir mit voller Gemüthsruhe zu oder amüsirt Euch gar an meinem Bericht, wundert Euch vielleicht über den Alten, der heut, nach dreißig Jahren, noch so ergriffen ist. Aber Ihr könnt mir glauben, wenn man so etwas hört und erlebt, von einem Freund, in der Wirklichkeit, in der Gegenwart, so plötzlich, – da ist es um solche Nachricht ein seltsam Ding; sie geht dem männlichsten Mann durch Mark und Bein, und ich schäme mich nicht zu sagen, daß wir bei des Raths Worten alle käsebleich wurden und unsere Kniee zittern fühlten, wir Männer so gut wie die Weiber.

„Ich will uns aber nicht länger mit solchen Redensarten aufhalten,“ sprach er weiter, auch nichts von unserm Einsehen sagen, sondern nur melden, daß eine gute Zeit verstrich, bis wir gefaßt genug waren, den Bericht Hubers zu hören. Es war begreiflicherweise wenig genug und nur, was man auf den ersten Anblick wahrgenommen hatte. Die genauere Untersuchung war, wie ihr wißt, jetzt jedoch schon im Gange. Nach des Raths Mittheilung war der Sachverhalt folgender: Schenk hatte gegenwärtig mehrere sehr verwickelte Fälle vorliegen und dadurch so viel Arbeit, daß er nicht nur früher aufstand als sonst, sondern auch an Tagen, wo keine Sitzungen und Verhöre stattfanden, jede Störung verboten und mehr als einmal erst zum Mittagsessen um ein Uhr oder noch später sein Zimmer verlassen und seiner Mutter guten Morgen gesagt hatte.

„Es war daher nicht weiter aufgefallen, als er auch heut über die Speisestunde hinaus auf sich warten ließ – er war, wie ich schon berichtet, ein sehr frugaler Mensch, der außer seinem Kaffee, den er sich selbst bereitete, Morgens nur ein Stück Brod genoß, das er gleichfalls im Zimmer vorräthig hielt, um eben von der Tagesordnung der Seinen in Geschäften nicht gestört zu werden. Heut war die Uhr aber Drei geworden, wo sich denn die Mutter endlich bewogen fand, nach ihrem Sohn zu sehen. Die Thür war auffälliger Weise verschlossen, was sonst niemals der Fall, und es blieb auf alles Pochen und Rufen drinnen todesstill, so daß die alte Dame wohl ein Unglück ahnen mußte und zugleich zum Schlosser und Arzt schickte. Als man eindrang, zeigte sich das Unglück viel schrecklicher, als sie irgendwie gefürchtet. Schenk lag todt auf dem zerwühlten Bett, mit mehreren Wunden am Kopf und in der Brust. – Die alte Frau wurde ohnmächtig. Der Arzt versicherte sich des Schweigens der übrigen Anwesenden, schloß die Thür und ging zum Präsidenten, Meldung zu machen. Das war alles, was Huber uns einstweilen mittheilen konnte.

„Wir gingen nach einiger Zeit still auseinander, und ich machte mich zu dem theuren Hause, um die arme Frau und den geschiedenen Freund zu sehen; mir war noch immer zu Muth, als sei alles Gehörte nur ein wüster unheimlicher Traum gewesen, der schier unmöglich zur Wahrheit werden konnte. Allein es war leider eine nur zu schreckliche Wahrheit. – Die alte Dame ließ sich nicht sprechen, jedoch um meinen Besuch am folgenden Morgen bitten. Die Leiche sah ich auch nicht, da man bereits die Section vornahm. Und so ging ich dumpf und stumpf nach Hause und starrte von meinem Fenster nach dem hinüber, hinter welchem ich so oft das Licht von Schenk’s Lampe erblickt und von demselben mich zu einem Besuch bei dem theuren Freunde hatte fortziehen lassen. Erst spät, nach neun Uhr, ging ich zum Abendessen auf die Harmonie, – Hunger hatte ich nicht, aber ich mußte Menschen sehn, ich mußte über das Unglück reden, womöglich Näheres erfahren. Es war am Mittwoch, dem gewöhnlichen Gesellschaftsabend, und die Gerichtsbeamten waren dann, so weit sie Mitglieder, gewöhnlich alle da. Ich hatte nur nicht daran gedacht, daß die meisten schon um neun Uhr nach Hause zu gehen pflegten.

„So traf ich denn nur noch ein paar Cameraden und wenig Andere, unter diesen jedoch zu meiner großen Freude den Rath Huber. Er wußte noch nichts Näheres, sagte aber zu mir im Auf- und Abgehen leise, ich möge mich zu ihm halten. Er wisse, daß der mit der Untersuchung beauftragte College – es war ein Assessor Sterning – nach Beendigung der dringendsten Geschäfte herkommen und zu Nacht essen werde; man halte ihm die Speisen bereit. Dann solle er uns mehr von dem traurigen Fall berichten. – Ich ergriff diesen Vorschlag natürlich mit beiden Händen, und als ich selber kaum gegessen, trat Huber, der inzwischen mit dem Wirth geredet, wieder zu mir und flüsterte mir zu, Sterning sei bereits da, in einem kleinen Hinterzimmer, weil er nicht in Gesellschaft sein möge, werde uns Beide jedoch gern bei sich sehen. Wir machten uns also hin.

„Der Assessor drückte uns ernst, fast finster die Hand. „Ich bin heut Abend, nach dem Unglück, nicht umgänglich,“ sagte er, „aber Sie Beide sind mir willkommen. Sie waren mit Schenk genau bekannt und haben vielleicht irgend etwas von ihm und seinem Leben erfahren, was uns in der Verfolgung dieser unseligen Geschichte förderlich sein kann. Mit einem Wort, meine Herren, alles, was man bisher erkundet, deutet auf nichts weniger als auf einen eigentlichen Raubmord oder dergleichen hin. Vielmehr ist das Verbrechen sichtbar auf das Vorsichtigste eingeleitet und mit einer Ueberlegung, mit einer Kenntniß und Benutzung der Localität, der Lebensweise, der Gewohnheiten des Opfers ausgeführt worden, wie man sie bei einem Menschen gewöhnlicher Extraction weder annehmen darf, noch jemals finden wird. Sie sind ja auch ein alter Criminalist, Herr Rath; urtheilen Sie selbst!“ Und damit erzählte er, was ich jetzt kurz zusammenfassen muß, auf das Eingehendste und Klarste, und zeichnete uns sogar den Grundriß des Locals auf, um Alles noch deutlicher zu machen.

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Autor: Edmund Hoefer
Titel: Im hohen Hause
aus: Die Gartenlaube 1861, Heft 2, S. 17–20
Fortsetzungsroman – Teil 2

[17] „Das Schlafzimmer Schenk’s lag auf der äußersten rechten Seite des Hauses und war nur durch das daneben liegende Wohn- und Arbeitszimmer zugänglich. Links lagen noch zwei weitere Stuben, die nur bei einer der Herrengesellschaften, welche Schenk zuweilen gab, benutzt wurden, und in deren vorderster auch die Bücher aufgestellt waren, deren der Ermordete sich nur selten bediente. Beide Stuben waren von innen verschlossen, und die Schlüssel steckten noch in den Schlössern, so daß der Mörder hier weder herein noch hinaus gelangt sein konnte. Die Thür des Arbeitszimmers war, wie ihr schon wißt, heut gleichfalls verschlossen gewesen, etwas das sonst nie geschah. Schenk war im Ganzen sehr sorglos, und überdies wurde Abends die Hausthür stets zeitig verschlossen, auch wohnte jetzt, damit er stets bei der Hand, ein Gerichtsdiener in einem Parterrezimmer und versah gewissermaßen Portierdienste, so daß es wenigstens nicht leicht war, das Haus zu betreten, ohne von ihm gesehen zu werden.

„Der Schlüssel des Arbeitszimmers steckte nicht im Schloß, sondern fand sich nach Eröffnung der Thür auf dem nächsten Stuhl liegend und war, während einige andere Gegenstände, die der Mörder berührt, blutige Fingerspuren zeigten, vollkommen sauber, ebenso wie die Thürklinke, obgleich dieselbe nothwendig berührt und geöffnet sein mußte, um den Schlüssel, der stets draußen steckte, hereinholen zu können. Dies erklärte sich jedoch dadurch, daß der Thäter vor seinem Weggange sich die Hände gewaschen hatte, wie das blutige Wasser im Waschbecken und Spuren am Handtuch bewiesen.

„Daß der Mörder durch die Thür hinausgegangen, mußte man nothwendig annehmen, obgleich es nicht erklärlich war, weshalb er sich die Mühe gemacht, sie hinter sich durch einen Nachschlüssel abzusperren. Hierin offenbarte sich zugleich eine Unbekanntschaft mit einer der Gewohnheiten seines Opfers, die um so mehr auffallen mußte, da er alle übrigen sichtbar nur zu gut gekannt hatte. Und man hätte doch annehmen sollen, daß die Eigenheit Schenk’s, sein Zimmer Nachts nicht zu verschließen und den Schlüssel draußen stecken zu lassen, gerade am allermeisten in die Augen fallen mußte.

„Der Mörder hatte, wie es fast schien, seinen Weg verbergen wollen; darauf deuteten wenigstens die geöffneten Doppelfenster des Schlafzimmers hin. Doch konnte sich niemand dadurch täuschen lassen, denn da die Stockwerke des Hauses sehr hoch waren und Schenk, wie gesagt, im dritten wohnte – ich rechne das Parterre mit – so war das Fenster mindestens vierzig Fuß über dem Pflaster des Hofes, in einer fast ganz glatten Mauer, deren saubere Fläche überdies nicht die geringste Spur zeigte, daß ein Mensch hier auf irgend eine Weise hinauf oder hinab gelangt sei. Ein Seil hätte solche Spuren hinterlassen müssen und nachdem es zum Hinuntersteigen benutzt, sich oben ohne fremde Hülfe nicht mehr ablösen lassen. Eine Leiter, wäre eine so lange auch in der Nähe vorhanden gewesen, ließ sich nicht ohne Geräusch und auch schwerlich von einem Menschen allein aufrichten. Alles wies aber nur auf einen Thäter hin, und die Mutter Schenk’s hatte, obgleich sie, wie häufig, auch in dieser Nacht viel gewacht, nichts Ungewöhnliches vernommen. Sie hatte aber freilich auch nicht gehört, daß jemand die Treppe passirte, obschon ihr Gehör sonst noch gut und ihr Schlafzimmer unmittelbar neben der Treppe lag.

„Daher erwog die Behörde auch so genau, ob der Mörder einen andern Zugang als die Thür überhaupt habe benutzen können. Denn es war fast unmöglich, daß die ängstliche alte Frau einen Schritt auf der Treppe, das Schließen der oberen oder einer andern Thür nicht vernommen haben sollte, zumal es nachweisbar war, daß sie gerade während der Ausübung des Verbrechens gewacht haben mußte.

„Es gibt kein wahreres Sprüchwort als: es ist nichts so fein gesponnen, es kommt ans Licht der Sonnen, – und es bleibt eine gewissermaßen beruhigende Thatsache, daß nicht ein Verbrechen schlau genug eingeleitet oder vollbracht wird, um nicht durch irgend etwas, und wäre es auch anscheinend das Allerunbedeutendste und Gleichgültigste, ein Licht auf den Thäter und sein Thun fallen zu lassen. Ein solches Etwas fand sich auch hier.

„Es stand im Schlafzimmer ein altes Schränkchen, ein Ding wie ein kleiner Secretair – über vier hohen, spindeldürren Beinen eine Schublade, darüber der mit der niederzuschlagenden Klappe verschlossene Raum für allerlei Fächer, Schublädchen und so weiter. Diese Klappe war geöffnet worden – Schenk hatte in dem Möbel seine wichtigsten Papiere, alten Familienschmuck und Erbstücke und was dergleichen mehr ist – und da sie, wie ich von dem Freunde selber gehört hatte und den andern beiden Herren mittheilen konnte, neuerdings seltsamer Weise gequollen war und sehr schwer aufging, so mußte das ganze alte wackelige Möbel, vollends wenn ein Uneingeweihter die Oeffnung versuchte, stark erschüttert werden. Durch diese Erschütterung war eine alterthümliche Uhr, gleichfalls ein Erbstück, die oben auf der Platte stand, umgeworfen worden – das Glas über dem Zifferblatt war zerbrochen, und die polirte Platte zeigte nicht nur ein paar Schrammen, sondern es fanden sich dort [18] auch noch kleine Glassplitter. Der Mörder hatte sie wieder aufgerichtet und den Perpendikel natürlich doch wohl angestoßen. Derselbe war aber gleich oder bald darauf dennoch stehen geblieben, die Uhr zeigte ein Viertel nach Drei, und gerade von vor Drei bis nach Vier hatte Schenk’s Mutter gewacht; sie hatte alle Glockenschläge gehört.

„Schenk war durch zwei tiefe Messerstiche in der Brust, die aber beide das Herz verfehlt hatten, tödtlich verwundet worden, hatte aber jedenfalls noch mit dem Mörder gerungen, wie der Zustand des Bettes und seine blutigen, zerschnittenen Hände bewiesen. Ein Schlag auf den Kopf hatte den Schädelknochen durchbrochen und dem Leben des Armen vermuthlich ein schnelles Ende gemacht. Das Mordinstrument – oder waren es mehrere? – war nicht zu finden, überhaupt nichts, was mit der Person des Mörders in Verbindung gewesen oder auf dieselbe hindeutete, als ein mit Erde oder Staub beschmutzter Handschuh, der zusammengedrückt in dem Winkel zwischen Bett und Secretair gefunden wurde. Er war fein, wenig gebraucht und von dunkelbrauner Farbe, unten auch mit Knöpfchen zu schließen, was damals noch keineswegs gewöhnlich. In E. wenigstens fanden sich schwerlich bei den Händlern solche Paare vorräthig. – Endlich waren aus dem Schränkchen anscheinend mehrere Papiere und Kostbarkeiten verschwunden – nach Angabe der Mutter von bedeutendem Werth und doch für den Räuber ziemlich nutzlos oder gefährlich, da es nur Gegenstände von alterthümlicher Façon sein sollten, meistens von den Groß- und Urgroßeltern Schenk’s herstammend, und daher nach einigermaßen deutlicher Beschreibung augenblicklich wieder zu erkennen. – Das war alles.

„Auch im Hause hatte sich nichts weiter gefunden – darüber werde ich aber noch zu sprechen haben. – Die Hausthür war Morgens verschlossen gewesen, und von dem Riegel der Hofthür behauptet das Mädchen, welches um 6 1/2 Uhr zum Brunnen gegangen, das Gleiche. Dies blieb aber unwahrscheinlich, da es dem Thäter diesen Weg, den einzigen anscheinend möglichen, versperrt hätte. Die Thür in der Stadtmauer dagegen war verschlossen; der Schlüssel hing unberührt im Zimmer Schenk’s. Aber man konnte vom Hofe auch ohnedies in den Nachbarhof, und wenn man denselben passirt hatte, auf einen unbebauten Fleck an der Mauer und auf die Straße gelangen.

„Es ist nur seltsam,“ schloß unser Berichterstatter seine lange Mittheilung, „daß auch die weißgetünchte Grenzmauer des Schenk’schen Hofes keine Spur von einem angestemmten Fuß oder einer angelegten Leiter zeigt, daß im Mittelsteige des Hauptgartens zwei oder drei sehr sichtbare Abdrücke eines feinen Stiefels, aber nur bis zu dem kleinen Rondel mit dem Bassin zu verfolgen sind.“

„Dies Letztere kann auch ich nicht erklären – ich muß das Terrain und die Spuren wenigstens erst sehen,“ sagte ich jetzt nach einer Pause, und das Herz klopfte mir, als sei ich ein blöder Schuljunge, der zum ersten Mal den Muth faßt, eine allgemeine Frage zu beantworten. – „Es wäre immerhin nicht unmöglich, daß der alte Jäger etwas fände, was ihr übersehen, und am besten würde der Garten überhaupt bis zu näherer Untersuchung noch verschlossen gehalten.“

„Das geschieht auch,“ versetzte der Assessor halb pikirt, halb verwundert. „Wo aber wollen Sie hinaus, Herr Hauptmann? Ich seh’s, Sie haben noch etwas Anderes.“

„Allerdings,“ erwiderte ich. „Der Mörder ist nicht über die Hofmauer, sondern durch den Garten entflohen. Ueber den Altan – haben Sie da schon nachgesucht? – kann man meines Wissens ziemlich leicht hinab, vielleicht dort auch hinauf kommen. Ich möchte darauf schwören, daß ich den Thäter auf seinem Rückwege gesehen habe. – Brauche ich es euch zu sagen, wie die Beiden auffuhren, mich anstarrten? Wie sie lauschten, als ich jetzt das anscheinend so unbedeutende, in Wirklichkeit vielleicht so überaus bedeutungsvolle Begegniß in der vergangenen Nacht mittheilte?

„In der That,“ sprach der Assessor, als ich geendet, „ich fange an, an Ahnungen und Instinkte im Menschen zu glauben! Es war mir widerwärtig, heut Abend noch mit jemand, selbst mir Ihnen Beiden, meine Herren, zu reden, und doch trieb mich etwas dazu; mir war als müsse ich irgend eine Aufklärung erhalten. Und nun dies, die erste Stufe, auf der man wirklich Fuß fassen kann! Nicht wahr, Hauptmann – die Nachtposten an den Thoren stehn bis nach vier Uhr? Der Mensch muß also gesehen worden sein.“

„Ich zuckte die Achseln. „Ja,“ sagte ich, „die Posten stehn sogar jetzt noch bis sechs Uhr, allein ob sie trotzdem den Burschen gesehen haben, ist eine andere Frage, ich möchte wenigstens nicht darauf schwören. Und überdies – wer sagt uns, daß der Mensch in die Stadt gegangen? – Doch das können wir alles morgen früh sogleich erfahren. Ich verspreche Ihnen bis neun Uhr die genaueste Nachricht, da meine eigene Compagnie die betreffenden Posten gestellt hat.“ – Und nachdem wir noch eine Weile fortgeredet, gaben wir uns für alle Fälle und selbst, wenn auch nichts Wichtiges erkundet würde, ein Rendezvous im Trauerhause bis neun Uhr und trennten uns dann. Ich begleitete auf meinem Wege den Rath Huber noch eine kurze Strecke weit. Wir blieben Beide einsylbig.

„Als wir auf der Ecke am Markt uns zum Abschied die Hände reichten, fragte er gedämpft und gleichsam nachdenklich: „Haben Sie jemals von irgend einem Feinde Schenk’s gehört, Hauptmann? Hat er Ihnen nie eine Andeutung von dergleichen gemacht?“

„Nie!“ versetzte ich der Wahrheit gemäß und mit Bestimmtheit. „Im Gegentheil, er hat nur bei Gelegenheit wohl einmal sein Glück und seine Zufriedenheit gerühmt, daß er mit aller Welt, mit Groß und Klein im Frieden lebe, daß selbst die Verbrecher, die er zu strafen gehabt, ihm fast immer unverkennbare Zeichen der Zuneigung, des Zutrauens gegeben. Es versöhne ihn das, meinte er dabei, mit mehr als einer, seiner Stellung anklebenden Härte und zeige ihm, daß er im Ganzen auf dem richtigen Wege sei.“

„Und haben Sie auch nie bemerkt, ob er jetzt oder früher einmal in irgend einem intimeren Verhältniß mit – irgend einem weiblichen Wesen gestanden?“ fragte Huber nach einer Pause wieder.

„Nie, Herr Rath!“ entgegnen ich ebenso bestimmt. „Im Gegentheil sag’ ich auch hier – von einem legalen Verhältniß war, wir wir ja alle wissen, keine Rede, und von einem andern, meine ich, noch viel weniger. Aber was denken Sie, Herr Rath?“

„Nichts, nichts,“ erwiderte er mit einer ablehnenden Handbewegung. „Ich möchte eben nur eine Todfeindschaft ahnen oder für möglich halten können, die zu solchem Resultat führte. Hat er auch nie von seinem Tode zu Ihnen geredet? Man hat Beispiele –“

„Nicht doch, Herr Rath,“ fiel ich ihm ins Wort, da ich seinen Gedankengang ohne Mühe verfolgen konnte. „Schenk hatte keine Sorge, nicht einmal die Ahnung, daß er jemals, vielleicht bald, schnell sterben könnte. Wenigstens sprach er es gegen mich niemals aus. – Mit einem Wort – ich habe niemals bemerkt, daß er überhaupt irgend ein Geheimniß habe, daß in seinem frühern oder gegenwärtigen Leben etwas sei, was er hätte verbergen mögen.“

„Es ist seltsam,“ murmelte Huber kopfschüttelnd, „ich weiß das ja so gut wie Sie, aber ich kann mich von dem Gedanken nicht los machen, daß doch etwas dagewesen sein muß, was er uns Allen verbarg. Was sind das für Papiere, die der Mörder geraubt? Staatspapiere? – Doch genug!“ brach er dann ab und schüttelte nochmals meine Hand; „morgen ist ja auch ein Tag! Gute Nacht, lieber Hauptmann.“

„So schieden wir, und ich ging in einer eigenthümlichen Stimmung nach Hause. Es war meine feste Ueberzeugung gewesen, die ich in allen Punkten gegen den Rath ausgesprochen, und die Weise, der Inhalt seiner Fragen, seiner Antworten ließen mich jetzt fast zweifeln, ob jene Ueberzeugung wirklich, eine völlige, feste, richtige sei, machten mich peinlich unsicher und erfüllten mich mit noch peinlicheren Gedanken. Ich hatte eine unbehagliche, fast schlaflose Nacht, und mir wurde erst wieder besser, als ich am folgenden Morgen zum Handeln kam und meinen Feldwebel wegen der Nachtposten ins Gebet nehmen konnte. Es machte sich alles schneller als ich gehofft; er wußte zufällig den Namen des Mannes, der bis vier Uhr an meinem Thore gestanden. Es war noch dazu einer der intelligentesten und tüchtigsten Leute der Compagnie und wohnte so nahe, daß mein Bursche ihn gleich herbeiholen konnte. Ich hatte mich in der Annahme, daß ich grade von diesem Mann etwas erfahren könnte, nicht getäuscht.

„Kaum hatte ich gefragt: „ist Ihnen auf Ihrem Posten zwischen zwei und vier Uhr nichts Besonderes begegnet, Sinefsky?“ – so erwiderte er: „zu Befehl, Herr Hauptmann – nichts Besonderes grade, aber doch was mir auffiel. Ich habe nach der Ablösung auch auf der Wache davon geredet. Um drei Viertel auf Vier kam vom Wall herunter, wo gleich hernach auch der Herr Hauptmann herausspazierten, ein großer Mensch in Hut und Mantel auf’s Thor zu und strich durch die kleine Pforte so hart an mir vorüber, daß er mich zur Seite drängte und ich ihm mein Hollah [19] nachrief. Er ging gleich links in die Thorstraße hinein, aber so schnell, daß er mir alsbald aus den Augen war.“

„Sie erkannten ihn nicht, Sinefsky?“

„Zu Befehl, nein, Herr Hauptmann. Er hatte sich fest eingemummt, so daß ich vom Gesicht nicht einen Schimmer sah – es war auch zu finster. Wenn ich aber Gang und Gestalt bedenke, glaub’ ich kaum, daß es ein Hiesiger; ich müßt’ ihn d’ran erkannt haben. Es hat mich hinterdrein schon geärgert, daß ich ihn nicht angehalten. Grund dazu hätt’ ich gehabt; da er mich streifte, spürt’ ich’s, daß er unter dem linken Arm irgend etwas Hartes tragen müsse. Aber ich konnte doch auch nicht glauben, daß ein solcher Herr – so sah er aus – contrebandire. Doch habe ich auf der Wache gesagt, er sei mir wie Einer mit einem schlechten Gewissen vorgekommen, und seit ich heut Morgen von der Mordgeschichte im „hohen Hause“ erfahren, bin ich schon der Meinung gewesen, ich solle zum Herrn Hauptmann gehn und meine Meldung machen. Der Herr Hauptmann waren ja gut Freund mit dem Rath Schenk und können glauben – der Nachtvogel war der Mörder. Er kam grade daher, wo er herkommen mußte.“

„Wie meinen Sie das, Sinefsky?“ fragte ich betroffen durch seine Sicherheit.

„Herr Hauptmann, ich bin oft genug auf dem Walle, grade vor des Raths Garten stehen geblieben,“ entgegnete der Mann, „und habe mir meine Gedanken gemacht, wozu man doch – der Herr Hauptmann halten zu Gnaden – Wachtposten an die Thore stelle, da kein Contrebandeur Narr genug sein würde, durchs Thor zu laufen, während ihm überall anderwärts bessere Wege frei sind. Sehn der Herr Hauptmann sich einmal den Altan auf der Mauer an; es ist draußen ein Strebepfeiler abgebröckelt, daß ein leidlich gewandter Mensch dran wie auf der bequemsten Treppe auf- und absteigen kann. In den Garten hinab zu kommen ist ja pure Kinderei. Und solche Punkte giebt’s rund um das alte Nest noch mehrere, wenn auch nicht ganz so bequeme. Verlassen sich der Hauptmann darauf, da ist der Mordbube aus- und eingegangen. – Ich weiß sogar,“ setzte er zögernd hinzu, „daß der Weg schon sonst benutzt wurde. Ich will keinen Cameraden angeben, Herr Hauptmann, und bitte mich den Namen verschweigen zu lassen – aber es ist ein Jäger dort mehrmals Nachts zu dem kleinen Mädel geschlichen, das im „hohen Hause“ dient.“

„Ich dachte einen Augenblick nach, bevor ich sagte: „ich will nichts von ihm wissen, Sinefsky; Sie sind ein wackerer Mensch. Aber eins müssen Sie – und zwar mit Vorsicht – herausbringen: ob der Mann stets nur auf Verabredung zu dem Mädchen gegangen ist oder so oft und wann er mochte.“

„Der Herr Hauptmann meinen wohl, ob der Riegel an der Hinterthür für gewöhnlich geschlossen war oder zurückgeschoben?“ fragte er mit einem schlauen Blick. „Das weiß ich schon. Mein Camerad hat oft genug darüber gejammert, daß die Dirne ihn stets selber herein- und hinauslassen wolle, weil sie so ängstlich mit dem Riegel sei.“

„Es ist gut, mein Freund,“ sprach ich nach einer Weile. „Gehen Sie jetzt, reden Sie nichts über das, was wir gesprochen, geben Sie aber fleißig Achtung, ob Ihnen in der Stadt nicht doch jemand begegnet, der Sie an jene Nachterscheinung erinnert. Melden Sie mir alles sogleich.“ Und nachdem ich ihn so entlassen, nahm auch ich Degen und Mütze, um in’s Trauerhaus hinüber zu gehen und dort die Anderen zu treffen.

„Neues gab es nichts als das, was ich mitbrachte, und wir schritten daher zur Untersuchung des Hofes und Gartens. Die Hofmauer zeigte wirklich keine Spur, daß jemand übergestiegen; im Garten waren allerdings ein paar sehr ausgetretene Fußstapfen bis zum kleinen Bassin in der Mitte, während jenseits bis zur Mauer und zum Altan nichts mehr zu sehn war. Das schien jedoch leicht erklärlich. Der Garten fiel von der Mitte gegen den Hof zu stark ab, so daß sich alle Feuchtigkeit aus dem obern Theile hieher zog und den Boden trotz des Kiessandes in den Steigen so erweichte, daß ein Fuß sich abdrücken mußte. – Droben war der Kies dagegen trocken und nahm, wie wir an unseren eigenen Schritten beobachten konnten, keinen bemerkbaren Eindruck an. Auf der Altantreppe fanden sich aber wieder Spuren – d. h. Kiessand, den der feuchte Stiefel mitgenommen. Oben zeigten sich statt dessen Stückchen von der schweren schwarzen Erde, die man drüben in dem großen Garten fand, und eben solche Spuren sah man auf den Vorsprüngen, die den abgebröckelten Pfeiler wirklich zu einer ganz bequemen Treppe machten. So konnte über den Weg des Mörders kein Zweifel sein – man sah ihn herein und hinaus.

„Während wir so beschäftigt waren, machte einer der in Haus und Hof umherspürenden Polizeidiener eine neue, eigenthümliche Entdeckung. Unmittelbar neben der Hofthür kam eine blecherne Rinne vom Dach herunter und endete in einer großen Wassertonne. Im Winkel zwischen Tonne und Mauer sah der Mann einen großen sogenannten Bodenlumpen zusammengedrückt, und als er ihn ausbreitete, fand er darin Spuren von Erde, Sand und Kies und überdies ein paar schwärzlich gefärbte Stellen. Der Mörder hatte also den Lumpen, den das Mädchen nach seiner Angabe am Dienstag-Nachmittag zum Trocknen auf die Garten-Staketen gehängt und seitdem vermißt haben wollte, dort gefunden und schlau genug zum Abwischen der feuchten und beschmutzten Stiefel benutzt, damit Sand und Kies auf den Treppenstufen kein Geräusch machen möchten. Und bei dieser Gelegenheit bekannte denn auch die Dirne unter Jammer und Thränen, daß sie am Morgen nicht nur den Riegel zurückgeschoben, sondern auch die Thür selbst angelehnt gefunden. Sie habe jedoch nur an einen etwaigen Diebstahl gedacht und mit Todesangst, aber vergeblich alles durchsucht, ob irgend etwas fehle. Damit schlossen sich für jetzt die Entdeckungen.

„Andere Spuren verschwanden sogar wieder. In Schenk’s Schlafzimmer fanden sich nämlich in einer Ecke ein paar Convolute Briefe, welche nach Angabe seiner Mutter in dem kleinen Secretair aufbewahrt worden waren, und die der Mörder als für ihn werthlos oder hindernd bei der Durchsuchung der Papiere ungeduldig zur Seite geworfen zu haben schien. Dann entdeckte man in einem Nebenfach von Schenk’s Schreibtisch ein genaues Verzeichniß alles dessen – der Papiere so gut wie des Schmucks und der Erbstücke – was von ihm im Schränkchen niedergelegt worden war – er war trotz mancher anscheinend abweichenden Züge sehr ordentlich und pünktlich in Verwahrung und Verwaltung seines Eigenthums.

„Eine Vergleichung dieses Verzeichnisses mit dem Inhalt des Schränkchens ergab nun das überraschende Resultat, daß von den Papieren, obgleich sie sichtbar eifrig durchsucht worden, anscheinend nicht ein einziges Stück fehlte. Von den Werthsachen dagegen waren die Brillant-Trauringe seiner väterlichen Großeltern, eine eben daher stammende, mit Brillanten besetzte Uhr, vor allem aber ein sehr werthvolles chirurgisches Besteck, an dem mit Ausnahme der Klingen alles von Gold, und eine ziemlich große Cassette mit drei prachtvollen silbernen Pokalen verschwunden – beide letzteren Stücke Geschenke zu dem Amtsjubiläum seines Großvaters von den Collegen und der Familie. Die Cassette war es denn wohl gewesen, die meinen Sinefsky in der Unglücksnacht gestreift hatte. Unerklärlich blieb aber, daß der Verbrecher nur Gegenstände mitgenommen hatte, die, wie ich schon gesagt und wie ihr jetzt begreifen werdet, auf das Genaueste zu beschreiben waren und augenblicklich wieder erkannt werden mußten, wenn sie jemals zum Verkauf ausgeboten wurden oder überhaupt jemand zu Gesicht kamen.

„Während dieser Untersuchung, bei der Huber und ich zugegen waren, machte ich an mir eine Erfahrung, von der ich bisher wohl gehört, an die ich aber nie geglaubt hatte – daß der Mensch nämlich zuweilen plötzlichen – sagt: Einflüssen, Eindrücken, Regungen, Ahnungen, kurz wie ihr wollt – unterworfen ist, über welche er sich in keiner Beziehung Rechenschaft zu geben vermag. In dem Augenblick nämlich, als der das Protokoll führende Referendar von dem Verzeichniß ablas: „14., ein chirurgisches Besteck meines Großvaters, ihm von seinen Collegen zum Jubiläum geschenkt, die Griffe von fein ciselirtem Gold,“ – und als Sterning, der selbst die Untersuchung des Schränkchens übernommen hatte, nach einer Weile sagte: „fehlt!“ – mußte ich plötzlich unwillkürlich an einen Arzt des Städtchens denken, den Doctor Helmreich, einen angenehmen, feingebildeten und beliebten Mann meines Alters, der sich besonders als Chirurg eines großen Rufs erfreute. Er hatte sich neuerdings häufig aus der Gesellschaft zurückgezogen, ich war bisher selten mit ihm zusammen getroffen und kannte ihn eigentlich nur vom Ansehen. Und es war seltsam – ich dachte auch an die Nachterscheinung, und Größe und Bewegung derselben konnten allerdings an die Person des Arztes erinnern. Ich sag’ es offen, ich hatte Mühe dieser dummen Gedanken mich zu entschlagen, die anscheinend so gänzlich bezuglos waren und durch nichts gerechtfertigt wurden. Natürlich sagte ich auch keine Sylbe davon.

„Mittlerweile war es Zeit zum Appell geworden, ich ging nach dem Markt, wo derselbe abgehalten wurde, und als ich zu den [20] Cameraden trat, fand ich sie im Gespräch mit dem Doctor Helmreich, der einigen von uns ziemlich befreundet war. Er hatte eben erst von dem Morde erfahren, da er seit gestern über Land gewesen, und sah sehr ergriffen aus, obgleich er zu Schenk in keinem näheren Verhältniß gestanden. „Lieber Gott,“ sagte er eben, „das muß mich wohl um so mehr berühren, da ich, bis mein Onkel starb, fast mehr in dem „hohen Hause“ als in dem meiner Eltern gewesen bin, und jeden Winkel darin – kannte, muß ich wohl sagen, denn Schenk soll ja vieles verändert haben. Wo ist das Verbrechen geschehen?“

„In Schenk’s Schlafzimmer,“ versetzte ich – ich hatte seither den Arzt unwillkürlich auf meine früheren Gedanken hin gemustert, und es war mir fast eine Beruhigung, als ich mir sagen mußte, daß jener Nachtgänger anscheinend bedeutend größer gewesen – „in dem rechts gelegenen Eckzimmer des obersten Stocks.“

„Er sah überrascht aus. „Das ist seltsam,“ sprach er mit einer raschen Handbewegung, und dabei bemerkte ich, daß seine Handschuhe mit Knöpfen verschlossen waren. „Das ist dasselbe Zimmer, in welchem meine Tante so überraschend schnell gestorben sein soll, und das mein Onkel nie wieder von jemand betreten ließ. Ich bin zum ersten Mal hineingekommen, als meine Mutter nach des Alten Tode es öffnete, um die für die Auction bestimmten Sachen aufzulesen, und ich erinnere mich noch heut, nach fast vierundzwanzig Jahren des unheimlichen Eindrucks, den das lange verschlossene Gemach auf den muntern Knaben machte.“

„So redeten wir noch eine Weile weiter, bis der Commandeur um die Ecke kam und wir uns daher von dem Doctor abwenden mußten. Dann zog die Wachparade auf, der Appell wurde abgehalten, und als ich eben fortgehen wollte, sagte mir der Feldwebel, daß Sinefsky mir etwas zu melden habe. Und was meint ihr, daß es war? – „Herr Hauptmann,“ sprach er ernst, „wenn der Doctor Helmreich der vorhin mit den Herren Officieren redete, einen Mantel umhat, muß er dem Mann in der Nacht gleichen. Und wie er, als der Herr Oberstwachtmeister kam, davon und über den Markt strich, das hat mich auch an jenen erinnert. Es war derselbe ausgreifende Gang.“

„Dummes Zeug, Jäger,“ versetzte ich verdrießlich über diesen mit dem meinen übereinstimmenden Einfall, „und kein Wort mehr davon! Geben Sie Achtung, aber denken Sie sich nichts aus!“ Und ich ging wieder zum Trauerhause, um endlich die arme, alte Mutter zu sehen, die meinen Besuch um diese Zeit gewünscht hatte. Ich war – ich wiederhole es – verdrießlich über des Menschen Rede, über meine eigenen Gedanken, aber los ward ich beides darum doch nicht. Im Gegentheil, es beherrschte mich so, daß ich, als der Arzt mir unterwegs wieder begegnete, unwillkürlich den Kopf nach ihm umwandte und ihm prüfend nachschaute. Es war Thorheit, nichts als Thorheit!

„Von dem, was ich in der nächsten Stunde mit der trostlosen alten Frau gesprochen, gelitten und – weßhalb sagt’ ich’s nicht? – geweint, davon hab’ ich nicht zu reden. Das gehört zu meinen allertrübsten Erinnerungen. Trost wußte ich ihr nicht zu geben, als meine tiefe schmerzliche Theilnahme, und was konnte ihr die am Ende nützen! Der Sohn ward dadurch auch nicht wieder lebendig.

„Es währte eine geraume Zeit, bis wir zum einigermaßen ruhigeren Sprechen kamen, und auch dann brach noch jeden Augenblick ihr Schmerz heiß hervor, so auch, als sie von den Fragen und Nachforschungen des Untersuchungsrichters sagte, obgleich sie begriff, daß man ihr dieselben nicht ersparen konnte, und daß man andrerseits alle mögliche Schonung gegen sie beobachtete. „Ueber Roberts häusliches und ganzes Privatleben, wo ja der Grund dieser furchtbaren That eben so gut zu suchen sein dürfte als in seiner amtlichen Wirksamkeit, können sie freilich von niemand so viel Auskunft erhalten, wie von mir,“ meinte sie. „Ich bin auch so offen gewesen wie möglich. Aber daß sie mir meinen reinen, unschuldigen, ehrbaren Sohn mit ihren bohrenden Fragen verdächtigen, als habe er auf schlechten Wegen gehen und sein können, wie so mancher Andere, der wider Moral und Gesetz und Religion handelt und nichts heilig achtet – das möge ihnen Gott verzeihen,“ setzte sie weinend und doch zürnend hinzu: „ich kann es jetzt noch nicht, sie haben mich zu tief dadurch verletzt.“

„Aber ich verstehe das nicht,“ sprach ich kopfschüttelnd. „Wer kann denn so taktlos gewesen sein, jetzt bei Ihnen nach Roberts Privatleben zu forschen, zumal gar nichts Geheimes darin ist? Wir alle wußten ja, wie er lebte!“

„Mein theurer Hauptmann,“ erwiderte sie, die Augen trocknend, „ich sehe auch wohl ein, daß es halb sein mußte, halb nichts weniger als böse gemeint war. Aber es hat mir weh – bitter weh gethan, besonders als ich merken mußte, daß der Assessor durch meine Antworten nicht befriedigt wurde – ich weiß nicht, ob er noch irgend etwas auf dem Herzen hatte, was er mir nicht zu sagen wagte.“

„Er wollte also wissen, ob der Rath irgend eine Verbindung gehabt hätte, die ihn in Ungelegenheit hätte bringen können?“ forschte ich wieder kopfschüttelnd. Mir fielen Huber’s Worte vom vergangenen Abend ein.

„Ja,“ versetzte sie, nur über das feine und blasse Gesicht der bejahrten Dame flog eine lichte Röthe. „Ob er in Verbindung mit einer Frau gestanden, lieber Hauptmann, in einer geheimen, also in einer unerlaubten! Sagen Sie selbst, kann es für eine Mutter peinlichere Fragen geben? Und wie Sie vorhin, spreche auch ich es jetzt aus: wir alle wissen, wie er lebte. Nie hat es einen häuslicheren Menschen gegeben, und wenn er nicht hin und wieder spazieren oder einmal Abends in eine Gesellschaft ging, konnten früher besonders Wochen vergehen, ohne daß er aus dem Hause kam – in der Residenz so gut wie auch hier, ich wohne jetzt schon seit acht Jahren wieder mit ihm zusammen, wir liebten uns so zärtlich, und er wollte nie etwas von der Begründung einer eigenen Familie hören. – Ja, er lebte so häuslich,“ fuhr sie fort, „daß es mir dabei oft für seine Gesundheit, seine Geistesfrische bange wurde, und daß ich auf’s Eifrigste zuredete, als er im vergangenen Herbst anfing, jeden Abend regelmäßig ein paar Stunden in der Harmonie zuzubringen, wenn er nicht mit Ihnen oder einem andern Freunde zusammen war. Er brauchte Erholung, und um neun Uhr war er ja auch fast immer wieder daheim, so daß mein Opfer nicht so groß. Er gab sich dann stets so heiter und innig, und wir hatten die schönsten Stunden,“ schloß sie mit überfließenden Augen.

„Diese Erklärung bestürzte mich, obschon ich nicht um die Welt der alten Frau hätte zeigen mögen, was in mir vorging. Da ich, gerade meiner eingezogenen Lebensweise wegen, wenn ich nicht bei Schenk oder er bei mir war, fast ausnahmslos jeden Abend von vor acht bis gegen zehn oder elf Uhr auf der Harmonie verbrachte, so konnte es niemand besser wissen als ich, daß der Freund nichts weniger als ein regelmäßiger Besucher des Vereinslocals gewesen war. Im Gegentheil, er erschien, auf längere Zeit und zu Abend, so selten wie kaum ein Anderer. Ich hatte bisher geglaubt, er wäre häufig um sechs Uhr etwa in’s Lesezimmer gekommen, um eine halbe Stunde lang die Zeitungen durchzusehn, dann aber wieder nach Hause und an die Arbeit gegangen, bis er um acht Uhr Feierabend für die Seinen und einen Freund oder für eine Gesellschaft machte. So hatte ich es von ihm selbst gehört, und nun erfuhr ich nicht nur etwas weit Anderes, sondern es fiel mir jetzt auch ein, daß er niemals vor halb neun Uhr zu mir gekommen war und daß er ebenso auch meinen Besuch niemals vor derselben Zeit erbeten hatte. Was hieß denn das? zeigte sich hier dennoch plötzlich ein Geheimniß? Mir kamen wieder Huber’s Worte und Andeutungen in den Sinn und seine besondere Weise dabei. Ich nahm mir vor nochmals mit ihm zu reden, Achtung zu geben oder auch geradezu zu fragen, wie es am besten scheinen mußte. Ich verabschiedete mich hierauf bald von der Mutter des Freundes.

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Autor: Edmund Hoefer
Titel: Im hohen Hause
aus: Die Gartenlaube 1861, Heft 3, S. 46–47
Fortsetzungsroman – Teil 3

[46] „Fräulein Beck ging in häuslichen Angelegenheiten mit mir zugleich aus dem Zimmer, und als wir auf dem Flur allein waren, konnte ich nicht umhin, leise zu sagen: „Diese regelmäßigen Ausgänge Schenk’s sind mir doch neu gewesen, und auf der Harmonie habe ich ihn selten genug gesehn.“

„Das schien der Herr Assessor auch zu meinen,“ erwiderte sie, trübe den Kopf schüttelnd, „wenn er es auch nicht geradezu aussprach, weil er ebenso wenig wie Sie die arme Mutter betrüben wollte. Und sehn Sie, Herr Hauptmann, ich habe über diese Ausgänge stets meine eigenen Gedanken gehabt. Es hätte doch dem Herrn Rath wahrhaftig gleichgültig sein können, ob er hin und wieder etwas später in die Harmonie und zu seiner Lectüre kam, allein er war bei jeder kleinen, gelegentlichen Verzögerung so ungeduldig, ja so gereizt, wie ich ihn früher nie gekannt, und kam endlich dann fast nie mehr zu uns hinein, wie er es doch sonst vor jedem Ausgange that. Und endlich –,“ setzte sie wiederum kopfschüttelnd hinzu, – „die Frau Medicinalrath meint, er sei Abends dann so heiter und liebenswürdig gewesen, doch darin muß ich ihr geradezu widersprechen. Sie hätten das auch wohl beobachten können, Herr Hauptmann, obschon er sich natürlich Ihnen gegenüber mehr zusammennahm – ich fand ihn dann wohl milde und freundlich, aber auch häufig sehr zerstreut und träumerisch. Ich hatte vor Weihnacht schon im Sinn, mich bei Ihnen oder Huber zu erkundigen, ob unser Robert vielleicht hoch spiele und stark verliere, so erschien mir sein Wesen. Nachher aber ließ ich’s lieber. Es war dergleichen doch so gar nicht in seiner Art, und er war am Ende doch auch zu generös und willensstark, um sich durch einen Verlust derartig verstimmen zu lassen, oder, wenn derselbe über eine vernünftige Grenze hinausging, das Spiel nicht ganz aufzugeben. Wirklich, ich weiß nicht, was ich davon denken soll.“

„Ich ging nach diesem kurzen Gespräch noch bei weitem nachdenklicher aus dem Hause. Es blieb aber für’s Erste dabei, denn einerseits hatte ich grade jetzt viel mit der Compagnie zu thun, andrerseits traf ich in meinen Freistunden entweder nicht mit den betreffenden Beamten zusammen oder fand mich mit ihnen nicht allein, und endlich passirte nichts Neues. Die gerichtliche Bekanntmachung des Falles war geschehn – man mußte jetzt die Folgen abwarten. Einstweilen blieb Alles still, und wie ich von Sinefsky erfuhr, hatte sich selbst in der großen Menge noch kein sonst so leicht entstehender Verdacht, keine Ahnung des Thäters, möchte ich es nennen, herausgebildet. Man glaubte im Allgemeinen fest daran, daß der Mörder kein Einheimischer gewesen, und der lebhafte Verkehr in der an einer großen Straße gelegenen Stadt ließ eine solche Annahme allerdings als die nächstliegende erscheinen. An eine genaue Controle aller Ein-, Aus- und Durchpassirenden war gar nicht zu denken, wäre dergleichen damals auch schon üblich gewesen.

„Am Sonntag Nachmittag begruben wir den unglücklichen Freund unter der größten Theilnahme der ganzen Bevölkerung, und als wir vom Kirchhof zurückkehrten, nahm Huber meinen Arm und sprach mich fortziehend: „Wenn Sie nichts Besonderes vorhaben, Hauptmann – in’s „hohe Haus“ gehn Sie doch wohl nicht? – so lassen Sie uns zurück gehen und trinken Sie mit uns Ihren Thee; meine Frau wird jetzt auch wieder daheim sein und Sie gern sehn. Sie haben sich rar gemacht, Hauptmann.“

„Das scheint Ihnen nur so,“ versetzte ich lächelnd. „Täglich wie bisher, so lange Leybold bei Ihnen wohnte, kann ich allerdings nicht mehr einsprechen. Aber sei es heut, wie Sie wünschen; ich bin frei und acceptire mit Dank.“

„Und so gingen wir bei dem prachtvollen Frühlingswetter langsam über die Wälle, bis wir durch’s Pfaffenthor in die Stadt und zu Huber’s naher Wohnung gelangten. Seine Frau war noch nicht von der Mutter des Ermordeten zurück, und das Mädchen berichtete, daß inzwischen „die Frau Professor“ einmal selber dagewesen und nachher noch einmal habe fragen lassen, ob Frau Huber noch nicht daheim, sie müsse sie sprechen.

„Huber sah das Mädchen betroffen an. „So so,“ meinte er dann aber anscheinend gleichgültig, „ist sie schon wieder zurück?“ Abbrechend gab er darauf im gleichen Ton die Weisung, man solle uns von der Rückkehr seiner Frau benachrichtigen, und führte mich die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer. Er war und blieb zerstreut, und erst als ich nach einer Weile von dem zu reden anfing, was ich über Schenk’s Ausgänge an jenem Morgen erfahren, und ihn endlich offen fragte, ob er bei seinen damaligen Andeutungen und Fragen nicht am Ende doch etwas Bestimmtes im Auge gehabt, wurde er aufmerksam, ja finster.

„Sehn Sie, Hauptmann,“ sprach er, „was Sie mir sagten, weiß auch ich durch Sterning’s Mittheilungen; ich selbst mochte die alte Frau nicht quälen mit solchem Forschen und Fragen, obschon ich ebenso wie Sterning glaube, daß hier der einzige Anknüpfungspunkt für eine weitere Verfolgung und etwaige Aufklärung des Falles liegt. Daß Sie grade so zu denken scheinen, bestärkt mich in meiner Ansicht. Ich habe aber diesen Glauben schon früher gehabt, und – unter uns – meine Fragen an jenem Abend waren wirklich nicht ohne Grund. Ich gebe zu, daß es sogar wahrscheinlich nichts, vielleicht die baare Thorheit ist; ich selbst wenigstens sehe bisher nicht das Geringste, was für die Vermuthung spräche, es könnten hier Fäden versteckt liegen, aus denen sich so oder so allmählich ein Verbrechen entwickelt. Gleichviel aber – es steht fest, daß es in Freund Schenk’s Leben etwas gab, was uns Allen und sogar seiner Mutter verborgen bleiben sollte. Und grade heraus – wir sind ja beide Männer von Ehre und können so etwas schon unter uns bereden – mir war nicht lange vor seinem Tode ein Gerücht zu Ohren gekommen, nach welchem er neuerdings seine Abende ziemlich häufig bei – nun bei eben der Frau zubringen sollte, von der uns drunten das Mädchen gesagt.“

„Die Frau Professor?“ fragte ich gespannt. „Wer ist das aber?“

„Ei,“ sagte er, „kennen Sie sie nicht? Sie ist doch unter dem Titel fast besser bekannt als unter ihrem Namen. Es ist die Wittwe des vor ein paar Jahren verstorbenen Professors und Gymnasiallehrers Gering – Anna Gering – Sie müssen von ihr gehört haben, Hauptmann. Sie treibt es leider so, daß man nur zu viel von ihr spricht, obgleich ich glaube, daß sie besser ist – nicht nur als ihr Ruf, sondern auch als man zuweilen aus ihrem seltsamen und unvorsichtigen Benehmen schließen möchte. Wittwenhaft lebt sie freilich keinenfalls, aber das läßt sich entschuldigen. Sie ist einmal lebenslustig und hat leichtes Blut, und daß sie ihrem Manne nachtrauert, ist nicht wohl zu verlangen; er war weder als Mensch noch als Gatte besonders rühmenswerth und hat ihr sicher wenig genug Glück gegeben. Dessenungeachtet war ihr Leben seither so eigenthümlich, daß ein häufiger Verkehr mit ihr – so lockend er auch ihrer Schönheit und Liebenswürdigkeit wegen Manchem erscheinen mag – keinem anständigen Menschen zur besondern Ehre gereichen konnte. Ich kann nicht leugnen,“ setzte er hinzu, „daß das Aufhören des Umgangs zwischen meiner Frau und ihr – sie sind Jugendfreundinnen – mir sehr willkommen war.“

„Also die!“ sprach ich, da er schwieg. Als er die Dame genannt hatte, war ich freilich auch sogleich orientirt gewesen, denn man redete allerdings genug von ihr. Ich habe aber zu seinen Worten nichts hinzuzufügen, sie malen das schöne, wilde und lustige Geschöpf für euch hinreichend. „Es wäre in der That merkwürdig, wenn Schenk’s Härte dort geschmolzen,“ fuhr ich fort. „Er hat also auch selber gefühlt, daß davon am besten zu schweigen, aber im Uebrigen –“

„Richtig, richtig,“ unterbrach er mich; „ich sagte ja schon: auch ich finde hierbei nicht das Geringste, was bei der Mordgeschichte von Wichtigkeit sein könnte. Ich bin jetzt nur einmal wirklich neugierig, was sie so Dringendes mit meiner Frau zu reden haben mag. Sie war seit vierzehn Tagen verreist, um ihre Tochter in einer Pension der Residenz unterzubringen, und wollte, wie ich von ihr gehört zu haben glaube, bis zum Mai dort bleiben.“

„Ich gestehe, daß ich Huber nicht recht verstand. Es ging noch etwas Anderes in ihm vor als das, von dem er mir gesagt. Und wenn diese – Liaison zwischen der schönen Frau und dem Freunde wirklich existirt hatte, so begriff ich dennoch nicht, was man eigentlich darüber so furchtbar zu erstaunen brauchte, und noch weniger, wie man von hier aus – und sei es auch auf den weitesten Umwegen – zu einer auch nur annähernden Erklärung der letzten Katastrophe gelangen konnte. Ich sprach mich auch noch [47] ziemlich ernst in diesem Sinne gegen Huber aus, als das Mädchen heftig mit der Bitte der eben zurückgekehrten Hausfrau hereintrat – der Gatte möge doch sogleich herunterkommen, die Professorin sei da und begehre auch ihn zu sprechen.

„Hast Du denn nicht gesagt, daß der Herr Hauptmann bei mir sei?“ fragte Huber verdrießlich, und da man aus ihrer Verlegenheit das Gegentheil annehmen durfte, setzte er hinzu: „so geh’ und sag’s. Ich habe den Herrn Hauptmann zum Thee mitgebracht, und wir hätten jetzt noch zu reden.“

„Weßhalb lassen Sie mich nicht geh’n?“ sagte ich, als das Mädchen hinaus war. „Wir sind zu gut bekannt, meine ich, um in solchem Fall Umstände zu machen oder gar empfindlich zu werden.“

„Bleiben Sie, bleiben Sie!“ versetzte er lebhaft. „Sie erweisen meiner Frau und mir noch einen ganz besonderen Gefallen, denn wir lieben Beide die Dame keineswegs und haben mehr als einmal zu erfahren gehabt, was es mit diesen sogenannten dringenden und geheimen Mittheilungen auf sich hat, die Einen zuerst alarmiren und sich nachher oft als ganz unnöthig erweisen. Und wär’ es heut auch mehr, so soll sie’s meiner Frau allein sagen oder –“

„Da trat das Mädchen schon wieder ebenso eilfertig mit der Botschaft ein, die Damen ließen mich ersuchen ja mitzukommen, man habe auch mit mir zu reden. Huber legte lächelnd die Hand auf meine Schulter und bemerkte: „Hauptmann, Hauptmann, was ist mir das? Sie sind am Ende auch ein heimlicher Kenner und Verehrer der zaubernden Hexe? – Aber Scherz bei Seite,“ fügte er hinzu, „da Sie sie noch nicht persönlich kennen, werden Sie – wenn Anna will – immerhin ein paar interessante Stunden verleben. Sie ist, wenn sie in ihrer rechten, vollen Laune, unvergleichlich, – und im Ernst, nehmen Sie sich in Acht!“ – Wir waren drunten und traten in das Wohnzimmer.

„Frau Huber kam uns entgegen und begrüßte uns in einer halb scheuen, halb verlegenen Weise, die ich noch gar nicht an ihr kannte. Ihre Blicke schweiften unruhig in’s Zimmer zurück, wo sich vorn ein Stuhl zeigte, auf dem ein prachtvoller Shawl und ein sehr zierlicher weißer Hut sichtbar hastig hingeworfen lagen, und im Hintergrunde, in der Sophaecke eine Dame mehr lag als saß. Das Theegeschirr stand bereits auf dem Tisch, die Lampe brannte schon und beleuchtete die Ruhende, die aber jetzt, nachdem wir eingetreten, aufsprang, uns entgegenkam, mir kurz zunickte, Huber die Hand bot, – alles das schnell, fieberhaft bewegt. Und fieberhaft zeigte sich auch ihr Gesicht, es war geröthet und die Augen brannten, sage ich euch. Es sah fast so aus, als habe sie auch geweint. Und Alles in Allem – das Weib war in diesem Moment so wunderbar – laßt mich sagen: dämonisch schön, daß ich in meinem Herzen Schenk, wenn er sie wirklich geliebt, auf das Vollständigste absolviren mußte. Der widersteht niemand! sagte ich mir, und all die Geschichten, die ich gehört, wie dieser oder jener sie mehr als menschlich geliebt haben sollte und schier thöricht geworden sei vor Liebe zu ihr – ich verstand sie in diesem Augenblick und zweifelte an nichts.

„Grüß Gott, Anna,“ sagte Huber – er betrachtete sie aufmerksam, aber ihr glänzend blaues Auge wich ihm unstät aus – „Sie sind schnell wieder zurück und – nicht wohl, wie es scheint?“

„Ah bah – ich!“ versetzte sie ungeduldig; sie zog ihre Hand zurück, sie wandte sich ab. „Ich bitte Dich, Julie, mache den Thee, und dann lasse uns Ruhe haben – nicht gestört werden, von niemand! Ich muß aber zuerst etwas Thee haben – ich konnte seit gestern Morgen nichts mehr genießen und bin ganz elend. – Ich kannte Sie bisher nicht, Hauptmann,“ fuhr sie wieder zu mir herum, „aber ich hörte oft von Ihnen; Sie sind ein Mann von Ehre und daher und auch sonst mir als Zuhörer willkommen. Ich habe Ihnen viel zu sagen, Huber.“ Und als das alles vorüber geschossen war, viel schneller, als ich es nachreden kann, saß sie schon wieder in der Sophaecke, zusammengeschmiegt wie ein Kätzchen, das Haupt auf die Tasse in ihrer Hand gebeugt. Ich vergesse diesen Anblick im Leben nicht, wie das Lampenlicht von den blonden Locken zurückglänzte, die sie nach damaliger Mode zu beiden Seiten der Stirn in großer Zahl neben einander aufgewickelt trug und die ihr – ausnahmsweise – wundervoll standen.

„Wir setzten uns, Huber kopfschüttelnd, gleichfalls und nahmen unsere Tassen. Frau Huber fragte etwas, und ich antwortete, aber beides war ganz kurz, und dann blieben wir still. Es war, als hätten wir gewußt, daß wir etwas gar Bedeutendes und Wichtiges hören würden. Und es ließ auch nicht lange auf sich warten, denn jetzt setzte Anna ihre Tasse hin, zog sich ganz in die Ecke zurück, wo ihr Gesicht vollkommen beschattet war, und schob mit der Hand auf beiden Seiten die Locken leicht von der Stirn.

„Ich habe gestern Morgen in der Zeitung die Nachricht gefunden, daß Schenk ermordet sei,“ fing sie plötzlich an. „Da ließ es mich nicht, ich bin gleich in die Post gestiegen und hergeeilt – ich mußte, denn ich weiß was davon, viel sogar, vielleicht Alles. Ich hätte ihn so gern noch einmal gesehn, aber als ich eben in meiner Stube stand, führte ihn der Leichenwagen schon an mir vorüber, und es war nun Alles vorbei.“ Die Thränen stürzten ihr aus den Augen.

„Anna!“ stammelte Frau Huber entsetzt. Der Rath warf mir einen raschen Blick zu – er war sehr blaß. Von mir weiß ich nichts Anderes zu sagen als: ich war wie betäubt und athemlos.

„Sie fuhr mit dem Tuch über die Augen. – „Ueber Nacht, bei der schrecklichen, langen, einsamen Fahrt“, redete sie von neuem, „dachte ich mir: schweige lieber. Man spricht schon genug von Dir, was willst Du Dich nun in diese fürchterliche Geschichte mischen! Und überdies – was weißt Du? Du irrst Dich vielleicht und richtest nur neues Unglück an. Aber als ich vorhin den Wagen sah und den Sarg, und es wußte: Du siehst ihn nie wieder, man hat ihn dir aus der Welt so feig, so schändlich gestohlen! – da ging’s mir wie ein Krampf durch’s Herz. Ich kann und will nicht schonen, nicht schweigen. Vor das Gericht geh’ ich nicht, lieber in den Tod. Aber zu euch red’ ich. Ihr kanntet Schenk, ihr kennt mich und – Andere. Und Sie, Huber, Sie, Hauptmann, können am besten entscheiden, ob mein Wissen Wahrheit oder Thorheit, ob Sie’s benützen dürfen, und wie Sie’s benützen wollen. Grade der Hauptmann ist mir lieb als Zeuge, er war ja Roberts bester Freund und wird mit seinem ruhigen Menschenverstande den Juristen in Ihnen, Huber, zurückzuhalten wissen.“

„Sie schmiegte sich noch fester in die Ecke und redete erst nach einer Weile weiter. „Ich kann und muß mich kurz fassen,“ sagte sie. „Seit dem vergangenen Sommer bin ich mit Schenk bekannt geworden, im September hat er mich zuerst besucht und ist dann bald häufiger gekommen, endlich täglich. Ich schäme mich nicht zu sagen, daß ich ihn mehr geliebt, höher geachtet als je einen andern Menschen, daß ich mich niemals einem andern Wesen so Unterthan gefühlt habe, daß ich glücklich und stolz war, stolz bin, weil er mich geliebt – ja, er hat mich geliebt mit seinem ganzen reichen Herzen, und es hat mir das gezeigt, daß ich doch nicht das schlechte, leichtsinnige Geschöpf bin, für das ihr mich verschreiet. Was daraus geworden wäre, weiß ich nicht. Wir haben nicht viel an die Zukunft gedacht. Aber ich weiß, daß ich ihm in nichts widerstanden, daß ich, wenn er’s gewollt, auch seine Frau geworden wäre, obgleich ich – ihr wißt das wohl – wahrhaftig keinen Grund habe, die Ehe zu rühmen und mich wieder hinein zu wünschen. Genug, wir haben noch nicht an die Zukunft gedacht, wiederhole ich. Wir haben die Gegenwart gehabt und sind zufrieden gewesen, und mir war oft, als könne ich ohne ihn nicht mehr leben. Nun soll es doch gehn, aber – ich glaub’s nicht.“ Und wieder brachen ihre Augen und ihre Stimme in Thränen, und für eine ganze Weile wurde nichts von ihr laut, als nur einmal die vor Schluchzen kaum verständlichen Worte: „Ihr wißt eben nicht, was er mir war, und ihr wißt auch nicht, was es heißt, da entsagen zu müssen und Alles zu verlieren, wo man wirklich heiß und voll, wirklich vorwurfsfrei geliebt und gelebt.“

Textdaten
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Autor: Edmund Hoefer
Titel: Im hohen Hause
aus: Die Gartenlaube 1861, Heft 4, S. 61–63
Fortsetzungsroman – Teil 4 // Schluß

[61] „Ja,“ sprach Anna nach einer Pause und rückte vor ins Licht, ihre Wangen glühten, ihre Augen waren wieder trocken und unstät, „vorwurfsfrei, sage ich! Er liebte mich und ich ihn, das ist Alles, es gab kein Unrecht zwischen uns, nicht das leiseste, und deswegen kann ich auch mein Lebenlang an diese Zeit mit Frieden für mich und Segen für ihn denken, trotz meines unbändigen Schmerzes. Es gab nichts Unrechtes zwischen uns, aber gegen einen Andern war ein Unrecht da, wenigstens hielt es der dafür. – Es hat mir Jemand – sein Name thut noch nichts zur Sache,“ fuhr sie zögernd und doch erregt fort, „ihr werdet ihn nicht errathen, denn er ist stets der Vorsichtigste geblieben – der hat mir eine große Leidenschaft gewidmet, eine unsinnige Leidenschaft, die mich zuweilen hinriß, und bevor ich Schenk kennen lernte, habe ich wirklich zuweilen geglaubt, mein Herz spräche für jenen, es sei mehr als Mitleid mit ihm und seinem Gefühl, was sich in mir regte, was mich ihn anhören ließ, was es mir unmöglich machte, ihn von mir zu weisen. Dann aber kam Robert, und da ward mir alles klar, alles Uebrige verschwand und war vorbei, ich hatte kein Herz mehr, keinen Gedanken für etwas Anderes.

„Ich mochte ihm – dem Andern, das nicht sagen, denn er dauerte mich jetzt mehr als je, da ich’s ahnen konnte, was eine unerwiderte Liebe für ein Elend sein müsse! Ich wollte ihn schonen, ich wollt’ es ihm aus meinem Wesen merken lassen, wie es mit uns stehe; das war ja so leicht, und er hätte es mir danken sollen. Allein das that er nicht, im Gegentheil war er gegen mich, wie ich es nicht schildern, nicht benennen kann. Er hat mich furchtbar gequält, er hat getobt und gewüthet, gefleht, gedroht, geweint, mir, sich selbst, Schenk den Tod geschworen, nicht wie ein liebender und trauriger oder auch zorniger, dennoch aber vernünftiger Mensch, sondern wie ein wirklich Wahnsinniger. Und als ich zuletzt, [62] von Zorn übermannt, ihm endlich die volle Wahrheit sagte und ihm gestand, daß ich um Schenk’s willen die ganze Welt, geschweige denn ihn aufgebe, den ich jetzt so kennen gelernt, mit dem ich das Leben keine Woche ertragen haben würde, da schaut’ er mich lange starr und finster an und sagte endlich: „Anna, Sie haben mich unerhört betrogen. Aber wohlan – die Folgen auf Ihr Haupt!“ Und damit ging er stolz zur Thür hinaus.

„Mir graust noch, wenn ich daran denke. Er war fürchterlich. Man konnte das Schlimmste von ihm erwarten – er war auch sicher dazu entschlossen – und ich leugne nicht, daß ich hauptsächlich darum so bald mit Rosa nach der Residenz reiste; ich wollte ihm für’s Erste aus dem Wege gehn. Daß sein Schlag ein noch viel theureres Leben treffen würde, das hab’ ich nicht gefürchtet. Und nun geschah es doch, denn – in mir steht es unumstößlich fest, – Niemand anders ist Schenk’s Mörder. – Da habt ihr’s,“ setzte sie nach einer kurzen Pause hinzu und schmiegte sich wieder in die Ecke. „Nun entscheidet, ob das etwas ist, ob ihr damit etwas thun könnt.“

„Es war eine Zeitlang im Zimmer sehr still, bis Huber endlich sich ermannend sagte: „Das scheint mir – um Ihre frühern Worte zu gebrauchen – keine Thorheit, sondern leider eine nur zu ernste Gewißheit zu sein. Sie haben allen Grund, vorsichtig zu sein, – das gebe ich zu. Irren ist menschlich und auch hier möglich. Aber Sie werden auch nicht zweifeln, daß Ihr Geheimniß bei uns wohl bewahrt ist, wenn nicht die Umstände den Hauptmann und mich zu weitern Schritten zwingen. Vor allen Dingen also den Namen – ich habe allerdings keine Ahnung, wer dies sein mag.“

„Es ist der Doctor Helmreich,“ sprach sie leise und gesenkten Blicks.

„Also doch!“ rief ich aus und sprang unwillkürlich von meinem Sitze auf. Die Drei waren bei meiner jähen Bewegung gleichfalls aufgefahren und starrten mich bestürzt an.

„Haben Sie denn eine Ahnung davon gehabt – Sie grade?“ fragte Anna athemlos. „Aber wie war es möglich –“

„Da fragen Sie mich mehr als ich weiß,“ unterbrach ich sie ernst; „ich kann es überhaupt nicht einmal eine Ahnung nennen. Die Sache verhielt sich so und so.“ Und damit erzählte ich ihnen, was ihr gehört habt, und verschwieg ihnen auch nicht Sinefsky’s Bemerkung nach dem Appell, die, obschon ich sie damals kurz genug zurückgewiesen, dennoch keinen geringen Eindruck auf mich gemacht hatte und auch jetzt auf meine Zuhörer fast mehr als alles Uebrige wirkte.

„Genug,“ sagte Huber endlich, da ich schon eine Weile geschwiegen, und stand auf, „ich halte es nach alledem für unsere Pflicht, die Sache Sterning mitzutheilen. Er mag und wird entscheiden, ob sich darauf hin weiter verfahren läßt oder alles einstweilen noch verschwiegen bleibt. Er kennt Helmreich auch besser als ich – ich glaube, sie studirten miteinander in B. – und weiß, ob er dergleichen fähig sein könnte. Ich, wie gesagt, kenne ihn wenig; doch erinnere ich mich ein paarmal von seiner alles vergessenden und durch keine Rücksicht zurückzuhaltenden Heftigkeit – selbst Patienten gegenüber – gehört zu haben, wodurch sein Ruf als Arzt ernstlich beeinträchtigt wurde. – Lassen Sie uns zu Sterning gehn, Hauptmann. Wir kommen so bald wie möglich wieder. – Sie, Anna,“ setzte er hinzu und ergriff und drückte ihre Hand mit sichtbarer Theilnahme, „Sie dürfen jetzt nicht zurückweichen, nachdem Sie das Schwerste schon überstanden und uns davon erzählt haben. Wie die Sache erscheint, haben Sie nichts zu bereuen und nichts zu fürchten, liebes Kind. Es wird sich für Sie alles auf das Schonendste arrangiren lassen. – Adieu, Kinder! – Kommen Sie, Hauptmann.“

„Da die Uhr schon sieben vorüber, war es wahrscheinlich, daß wir Sterning nicht mehr daheim, sondern auf der Harmonie finden würden, doch wollten wir der Sicherheit wegen in seiner Wohnung nachfragen, an der wir so wie so vorüber mußten. Als wir näher kamen, sahen wir seine Fenster aber hell und erfuhren von seiner Wirthin, daß er vor kaum fünf Minuten nach Hause gekommen sei. Er saß, da wir eintraten, in nachdenklicher Stellung im Sopha, stand, als er uns erkannte, auf und sprach, uns beiden die Hand bietend: „Seien Sie mir willkommen, meine Herren! Ich habe schon daran gedacht, Sie aufzusuchen, Herr Rath; nun ist’s desto besser. Was bringen Sie mir? denn ich seh’s Ihnen an, Sie kommen nicht zufällig.“

„Wir nahmen Platz, wir zündeten eine Cigarre an, und dann berichtete Huber so kurz und übersichtlich wie möglich das, was geschehn war. Er schloß auch hier mit den Worten: „Sie kennen Helmreich, glaub’ ich, ziemlich genau, lieber Sterning, und werden daher am besten wissen, ob etwas hierbei zu thun ist und wann und wie es geschehn muß. Entscheiden Sie.“

„Der Assessor hatte ihm mit gekreuzten Armen zugehört und fortwährend still vor sich hingesehn. Jetzt erhob er das Haupt, und indem ein ernster – ich möchte wieder sagen: stiller Blick aus seinem dunklen Auge zu Huber und mir herüberstreifte, versetzte er gedämpft: „das hat schon ein Anderer gethan.“ –

„Sie kommen zu spät, meine Herren,“ fuhr er fort. „Was Sie mir erzählen, war mir nichts Neues mehr. Aber es ist jetzt alles vorbei. – Hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe. Es bedarf keiner Geheimhaltung mehr – am wenigsten vor Ihnen Beiden. – Als ich heut Nachmittag vom Begräbniß kam, ging ich mit Helmreich zurück und trat mit ihm in seine Wohnung, um mir ein Buch mitzunehmen, das er mir zu leihen versprochen. Er suchte darnach umher, und als auch ich mich umschaute, sah ich auf seinem Schreibtisch einen Handschuh liegen, der nicht nur in der Farbe genau zu dem stimmte, den wir in Schenk’s Schlafzimmer fanden, sondern auch noch der linke war und obendrein ein paar ähnliche Schmutzflecke zeigte, wie jener. Diese Entdeckung bestürzte mich so sehr, daß ich meine Bewegung nicht ganz verbergen konnte. Da Helmreich das merkte, schützte ich einen plötzlichen Schwindel vor und ging, um mich in der Luft zu erholen, – getäuscht habe ich ihn damit freilich nicht. – Dann habe ich mit mir fast anderthalb Stunden gerungen, was ich thun sollte, wie ich meiner Pflicht und zugleich meiner Freundschaft am besten genügen könnte, – denn, meine Herren, Helmreich stand mir wirklich nahe, und wenn wir, seit ich hieher versetzt wurde, wenig mit einander verkehrten, so war dies nicht meine Schuld.

„So war die Uhr fast sechs geworden und ich eben zu dem Entschluß gekommen, ihn wieder aufzusuchen, offen mit ihm zu reden und nach Umständen zur Verhaftung zu schreiten, da brachte man mir“ – er stand auf und nahm vom Schreibtisch ein Papier, das er Huber hinbot – „folgenden Brief. Lesen Sie, meine Herren.“ – Er ging, während der Rath das Schreiben vorlas, im Zimmer auf und ab.

„Helmreick schrieb folgendermaßen in flüchtigen aber bis zum Schluß festen Zügen:

     „Lieber Sterning!

„Ich bekenne mich vor Dir als Mörder Schenk’s, ein Geständniß, das Dich seit heut Nachmittag nicht mehr überraschen wird. Als ich nach Deinem Weggehn den Handschuh sah, den ich heut Morgen nicht wieder eingeschlossen hatte, wurde mir Deine plötzliche Bestürzung sehr erklärlich. Der rechte muß also im „hohen Hause“ gefunden worden sein; ich werde ihn mit dem Tuch aus der Tasche gezogen haben, bemerkte aber erst am nächsten Morgen, daß er mir fehle, und meinte bisher, ich habe ihn wohl in der Straße verloren, wo ich das Tuch gleichfalls benützt.

„Also einmal überführt, mein Freund! – Zweitens aber weiß ich, daß in diesem Augenblick eine Dame, das einzige menschliche Wesen, das nach geschehener That über den Thäter keinen Augenblick im Zweifel sein konnte, bei dem Rathe Huber ist und, wie die Sachen einmal sind, und wie ich sie selber kenne, mich als den Mörder angiebt. Du wirst es also auch auf diesem Wege, freilich nur als Vermuthung, wahrscheinlich noch heute erfahren.

„Mein Freund, ich habe Jemand geliebt, wie ich es selbst von mir, mit meiner unendlichen Leidenschaftlichkeit und Heftigkeit, bis dahin nicht für möglich gehalten. Ich bin aufgegangen in dieser Liebe und ich bin durch sie untergegangen. – Ich hatte Hoffnung glücklich zu werden – nein, ich war schon glücklich, als ich Schenk weichen mußte. Von den Kämpfen, die darauf erfolgten, habe ich nicht zu reden. Genug, sie machten mich zu Zeiten fast wahnsinnig, und daß ich einen tödtlichen Haß auf Schenk warf, brauche ich Dir, der Du mich von Alters her kennst, wohl nicht erst zu sagen. – Bei der letzten Unterredung mit der Dame war sie hart gegen mich – ich sage nicht: zu hart; ich war außer mir und sinnlos – und ich ging mit einer Drohung von ihr, die sie vielleicht auf sich deutete. Denn sie verreiste. Ich hatte aber nur Schenk im Sinne. Ich hatte schon wochenlang eine That gegen ihn erwogen, und ich redete mir ein, daß ich dazu noch ein ganz besonderes Motiv erhalten habe. Die Dame hatte behauptet, daß diese Liebe – genug, mein Freund, es war mir wichtig, die Briefe zu lesen, die sie an ihn geschrieben; der Wunsch, diese Briefe [63] zu besitzen, wurde zu einer Art fixen Idee bei mir. Und doch wußte ich nicht einmal, ob sie wirklich Briefe gewechselt, und ich wußte dagegen, daß ich zu ihnen nicht ohne ein Verbrechen gelangen könnte.

„Am Dienstag-Morgen sagte der Postmeister zu mir: „wenn ich wüßte, was die – sich mit Schenk zu schreiben hätte, würde ich glauben, der Brief hier sei von ihr. Es ist aber seit kurzer Zeit schon der dritte.“ – „Zeigen Sie ihn“ sagt’ ich. Er that’s. „Er ist nicht von ihr,“ sagt’ ich dann, er war’s aber, und in demselben Augenblick war Schenk’s Tod – ein ordinärer Diebstahl widerstand mir – beschlossen. Wie er herbeigeführt wurde, weißt Du. Ich bin fast im „hohen Hause“ erzogen und kenne jeden Winkel desselben und hatte auch die Lebensgewohnheiten seiner jetzigen Bewohner ziemlich genau erfahren. Die Waffe war ein dreieckiges Stilet mit einem Kreuzgriff von Metall. Als ich an sein Bett trat und ihn zum ersten Male traf, wandte er sich gerade erwachend um, und ich stieß fehl. Er erwachte vollends, mein zweiter Stoß mißglückte wieder; wir kamen zu einer Art von Ringen, bis ich, da seine Kräfte sanken, die rechte Hand frei bekam und ihm mit dem eckigen Griff den Schädel einschlug. – Dann suchte ich die Briefe und fand sie. Die paar Werthstücken und dergleichen habe ich mitgenommen, um den Verdacht von mir abzulenken, denn – ich war ruhiger geworden und schämte mich der That.

„Ich bin nicht feige, mein Freund, und ich glaube, Du legst mir es auch nicht als Feigheit aus, wenn ich mich all den Quälereien der Verhöre u. s. w. durch das Ende entziehe, das die Sache endlich doch haben würde. Die Uhr schlägt halb sechs – Du bist am Ende schon in Thätigkeit gegen mich. Ich will also eilen. – Wenn Du diese Zeilen liesest, ist Alles vorüber, und Du kannst nur noch eine gewisse Schonung gegen mein Andenken üben und die Untersuchung niederschlagen lassen. Daß Du die Dame schonst, wenn Du sie überhaupt entdeckst, brauche ich Dir nicht erst an’s Herz zu legen. Sie ist in Euerem Sinne nicht im Allerentferntesten betheiligt.

     „Lebe Wohl, alter Freund!

          R. Helmreich.“

„Der Assessor nahm, als Huber geendet, den Brief zurück und verschloß ihn. – „Ich eilte natürlich sogleich zu ihm,“ sprach er. „Es konnte seit dem Schluß des Schreibens wenig mehr als eine Viertelstunde vergangen sein, aber es war dennoch zu spät. Was er gebraucht hat, weiß ich nicht, allein er saß bereits todt in seinem Arbeitsstuhle vor dem Schreibtisch. So habe ich denn nur das Nöthigste angeordnet und war eben nach Hause gekommen, als Sie Beide eintraten.“

„Ich brauche wohl nicht erst zu sagen,“ bemerkte der alte Erzähler, „daß Huber und ich nach dieser Mittheilung sehr still waren und bald davongingen. – Ich bin fertig.“ Und er stand auf.

„Aber, Oberst,“ riefen wir, „das bricht ja gar zu plötzlich ab! Ist die Geschichte denn wirklich ganz zu Ende?“

„Na,“ versetzte er grämlich lachend, „ist denn dies plötzliche Ende etwa meine Schuld? Ich gab euch, was da war, ihr Narren. Circumflexe zu machen, die Historie nun noch schließlich breit zu treten, wie ein regulärer Bänkelsänger – das ist meine Sache nicht. Ich bin fertig, wiederhole ich.“

„Aber Anna Gering – die schöne Frau!“ rief Einer. „Was wurde aus ihr?“

„Weiß nicht, Schatz. Im großen Publicum ist meines Wissens ihr Name bei der traurigen Geschichte nicht genannt worden. Sie zog aber dennoch von E. bald darauf fort und ist mir aus den Augen gekommen. – Eins noch: Das „hohe Haus“ blieb nach diesem traurigen Fall wieder unverkauft und unbewohnt, Schenk’s Mutter bot es aus und zog gleichfalls davon und es ist leicht möglich, daß man ihm sogar heut noch nicht traut. –