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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[421]

No. 26.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Engelid.

Novelle von Balduin Möllhausen.
(Schluß.)


5.

Die Straße war bereits menschenleer und abendstill geworden, und wie schlummernd lag das grüne, gigantisch begrenzte Thal vor dem einsamen Knut. Rauchsäulen entstiegen den Schornsteinen; hier und da weideten Rinder und kleine Gebirgspferde, oder sie lagerten bereits auf dem feuchten Rasen.

Dumpf brauste der Elf; es brausten die zahlreichen Gießbäche, die sich in jähem Sturz dem schäumenden Elf zugesellten, und wie ein gewaltiger, tief gedämpfter Orgelton erfüllte es den gewundenen Thalkessel; es klang wie geheimnißvolle Mär aus ferner Vergangenheit, aus jenen Zeiten, in welchen die schöne Ingeborg ihre Füße in den klaren Fluthen des Lärdalself kühlte und sehnsüchtig den Helden Frithjof erwartete.

Schattiger, dämmeriger wurde es ringsum, und im Dunkel verwischten sich allmählich die äußeren Formen der alten Holzkirche. Einem vielköpfigen Ungeheuer ähnlich lag sie vor dem träumenden Knut – da erklang es von der Straße her wie das Rollen eines Wagens. Um nicht von den Vorüberfahrenden angeredet zu werden, glitt Knut auf der Innenseite der Mauer zur Erde, sich mit Armen und Haupt auf die oberste Steinschicht stützend.

Näher kam das Gefährt. Die Dunkelheit hinderte ihn, die auf demselben Sitzenden zu erkennen, und im Geräusch der Räder verhallten die Stimmen der Daherfahrenden. Aber nun hielt der Wagen ihm gegenüber an.

„Sei herzlich bedankt!“ sagte eine Stimme, die Knut alles Blut zum Herzen trieb, und er gewahrte, daß von dem zweisitzigen Karriol eine Gestalt leichtfüßig zur Erde sprang, „die paar Schritte gehe ich schnell genug hinüber, und nochmals sei bedankt, daß Du mich so weit mitgenommen hast!“

„Dafür nicht, Engelid!“ antwortete es aus Männermunde, „es war mir eine Lust, Dir gefällig zu sein. Und nun gute Nacht! Grüße mir den alten Ornesen, und ich laß ihm gute Geduld und Besserung wünschen!“

Die Peitsche knallte; das Pferd zog an, und Engelid’s Gegengruß erstarb in dem Rollen des Wagens.

Knut stand wie gelähmt, die Blicke starr auf die hohe, schattenähnliche Gestalt gerichtet, welche ihre Röcke schüttelte und sich zum Gehen anschickte. Ihm war, als befände er sich angesichts eines ihn verurtheilenden Richters. Er entsann sich der spöttischen Reden, die er bei dem Gelage in der Schenke über Engelid führte, und schwerer, denn je zuvor, lastete auf ihm das Bewußtsein eines an ihr begangenen Frevels. Er meinte ihr nicht mehr gerade in die Augen schauen zu können.

Engelid hatte sich einige Schritte entfernt, als er endlich seiner Sprache wieder Herr wurde. Gedämpft, um sie nicht zu erschrecken, jedoch mit dem Ausdrucke heimlicher Angst rief er sie bei Namen. Engelid blieb stehen; sie hatte die Stimme erkannt, aber sie war so bestürzt, daß sie keine Antwort zu ertheilen vermochte. Sobald sie indessen bemerkte, daß ein Mann sich über die Mauer schwang und auf sie zuschritt, gewann sie ihre volle Besonnenheit zurück. Sie ging Knut entgegen und fragte in ihrer ruhigen freundlichen Weise, ob er es wirklich sei, und wie er es angestellt habe, ihr zuvorzukommen.

„Ueber die Berge bin ich gewandert,“ versetzte Knut heftig erregt, „ich wollte, ich mußte Dich sprechen, bevor Du zu dem Ornesen gingst. Es quälte mich, daß ich Dir die letzten Tage und Stunden vergällte, Du mit heimlichem Zorn, wohl gar mit Verachtung meiner gedächtest. Ja, Engelid, und da setzte ich meine ganze Kraft daran, Dich um Verzeihung zu bitten, weil ich Dir so wehe gethan –“

„Womit solltest Du mir wehe gethan haben?“ fragte sie sanft und tröstlich.

„Engelid,“ stieß Knut hervor, „ich war drüben beim Müller; der hat mir Alles anvertraut – Alles weiß ich, jedes Wort, welches Du einst zu ihm sprachst von Deiner Liebe und Deiner heiligen Treue – Engelid – darum martert’s mich jetzt um so peinvoller.“

„Verrieth er Dir mein Geheimniß, so sagte er wohl nicht mehr, als Du vielleicht bei unserem ersten Wiedersehen in meinen Augen lasest,“ versetzte Engelid etwas leiser, „denn die Augen haben wir Menschen nicht in der Gewalt, wie die Zunge. Und was sollte ich mich dessen jetzt noch schämen, wenn die junge einfältige Engelid sich über die Gebühr mit Hoffnungen trug! Ein Unrecht war’s nimmer. Mit Deiner Ehrlichkeit aber kränktest Du mich am wenigsten. Du gabst mir zu verstehen, gleichviel ob mit gutem Willen oder ohne Wissen, daß wir nicht zu einander gehörten, und das dank ich Dir von Herzen; denn es war besser, zwischen uns keine Täuschung walten zu lassen, als nachträglich zu bereuen, wenn’s zur Umkehr zu spät gewesen wäre.“

„Alles möchtest Du mit Deiner Sanftmuth zudecken,“ erwiderte Knut zerknirscht, „und gerade das brennt mir auf dem Gewissen, wie lebendiges Feuer. Wär’s mir doch lieber, Du begegnetest mir mit bitterem Vorwurf, wie ich’s verdiene; denn ich kränkte Dich dennoch – freilich: ich konnt’s nicht ahnen, daß Du noch einmal mein Haus betreten würdest – Du hast gesehen, daß ich den Kranz zerknitterte, auf die Erde warf und verbrannte sammt allen Kräutern, als ob er von unehrlichen Händen herrührte.“

[422] „Nein, Knut, so hab’ ich’s nicht aufgefaßt. Als ich hörte, daß Du im Kreise alter Freunde das Wiedersehen feiertest, fuhr’s mir durch den Kopf, daß Du wohl spät heimkehren möchtest und kein Licht fändest. Ich ging daher, Dir Alles zur Hand zu stellen für die erste Nacht. Und dann – ich hatte den Kranz auf Dein Kopfkissen gelegt, und das geschah zu einer Zeit – mich hindert ja nichts mehr, frei darüber zu sprechen – als ich noch an unsere gemeinschaftliche Zukunft glaubte, den aber wollt’ ich entfernen, bevor Du ihn fändest. Leider war’s zu spät. Du hattest ihn verbrannt, ebenso die Blätter und Zweiglein, sonst wär’s von mir geschehen, denn der Duft war zu strenge, um dabei zu schlafen, ohne im Kopf benommen zu werden. Das ist Alles, Knut. Hättest deshalb den beschwerlichen Weg über die Berge nicht zu machen brauchen.“

Knut, welcher Engelid’s Hand noch immer hielt, hatte die gleichsam willenlos Folgende nach der Mauer zurückgeführt, wo er sie neben sich auf einen Stein zog.

„So glaubst Du nicht,“ fragte er zaghaft, „daß auch noch andere Dinge mir keine Ruhe ließen, bis ich Dir wieder begegnete? Glaubst wohl gar, daß in den langen Jahren des Seefahrens mein Herz so hart geworden, wie der Stein, auf welchem wir hier sitzen, und daß es mir einerlei, ob Du Dich einem zwar guten, aber kranken, hinfälligen Greise zu eigen giebst?“

Da richtete Engelid sich ein wenig höher auf, und mit eigenthümlicher Festigkeit sagte sie:

„Ist er krank und hinfällig, so soll es mir eine Freude sein, ihm seinen Lebensrest so erträglich und bequem wie möglich zu gestalten.“

„Auch dann, wenn er sich standhaft weigert, Dein junges frisches Leben durch den Segen des Herrn Pfarrers an sein Krankenbett zu fesseln?“

„Auch dann, Knut, und zwar um so lieber, weil’s nicht den Verdacht erweckt, als hätte ich irgend einen Vortheil von ihm erwartet. Stirbt er und ich bin wieder allein, so steht meine Schärenhütte auf, in welcher der Nielsen so lange zum Rechten sehen mag.“

„Aber wie, Engelid – ich wag’s kaum auszusprechen – wenn ich mich selber und Dich getäuscht hätte? Wenn ich Dich bäte: vergiß meine Härte beim ersten Wiedersehen und die Verbitterung, die ich von draußen mit hereinbrachte, vergiß, daß ich Dich kränkte! Komm, Engelid, das Wort, welches ich Dir einst bei Spiel und Tanz gedankenlos gab, es soll mir heilig sein. Komm, Engelid, ziehe mit mir in mein Haus ein, wie’s Dir vorschwebte alle die langen Jahre hindurch –“

„Nein, Knut, nicht weiter!“ bat Engelid freundlich, jedoch entschlossen und ohne ihm die Hand zu entziehen, „wenn Du das, was Du eben sagtest, mit heiligen Eiden bekräftigtest, so würde ich Dir antworten. Nicht auf der Schäreninsel, nicht auf der Fahrt nach dem Lyster-Fjord und in Deinem Hause täuschtest Du Dich über Dich selbst – nein, Knut, ich las es in Deinen Augen, hörte es aus Deiner Stimme – mögen Worte nicht immer zuverlässig sein. Jetzt aber in dieser Stunde täuschest Du Dich. Es ist nur Freundschaft, was aus Dir spricht. In Deiner Freundschaft bemitleidest Du mich. Du glaubst, ich ginge einem trüben Schicksal entgegen. Das aber wäre keine Bürgschaft für unsere beiderseitige Zufriedenheit. Das Gefühl, nur aus Mitleid an Deinem Herde geduldet zu werden, würde mich nie verlassen. Ich würde unglücklich sein und damit Dein eigen Glück in den Staub ziehen. Doch laß uns nicht weiter darüber reden! Ich fühle mich ruhig in meinem Gewissen. Ist’s aber kein glänzendes Sonnenlicht, das mir auf meinem Lebenswege leuchtet – nun, so mag’s der milde Schein des Nordlichts sein, wie er unsere langen Winternächte oft genug erhellt. Du hingegen findest anderweitig ein dauerndes Glück – das bezweifle ich nicht, und höre ich jemals davon, soll’s mir sein wie ein goldener Strahl, der sich in unsere düsteren Fjorde verirrt.“

Sie wollte sich erheben, als Knut sie mit sanfter Gewalt zurückhielt.

„Höre nur noch ein Wort, Engelid!“ hob er erregt an, „höre mich so aufmerksam an, wie ich Deiner Erklärung lauschte! Dann magst Du selber urtheilen ob ich’s verdiene, nach den vielen Jahren und nachdem ich die Heimath kaum betrat, wieder hinausgetrieben zu werden. Im langen Verkehr mit rauhen Gesellen mag ich selber rauh geworden sein, mag eigensinnig an dem einmal ausgesprochenen Wort, und wär’s noch so unbesonnen, hängen, als wäre ich damit verwachsen, aber falsch und lieblos bin ich nicht geworden, Engelid. Als Du mich auf der Schäreninsel begrüßtest, wie Deinen Bräutigam – und so erschien’s mir ja – da verdroß es mich, daß ich, ohne es selbst gewußt zu haben, Jemandes Eigenthum sein sollte. Denn an die letzte Nacht im Lyster-Fjord und die losen Reden zwischen uns Beiden hatte ich lange nicht mehr gedacht. Deine guten Worte machten mich störrisch, und es war mir eine grausame Lust, Dir wehe zu thun. Wir setzten uns aus einander. Freundlich und ohne Klage führtest Du mich in mein Haus, und legtest Du Rechenschaft ab für den todten Olaf und für Dich. Versöhnlich, wie eine Schwester, sagtest Du mir Lebewohl. Du schiedest, und dennoch bliebst Du bei mir. Wo ich ging und stand, schwebtest Du mir vor. Im Kreise lustiger Gesellen wie in meiner stillen Wohnung, überall störtest Du mein Gewissen, und das war mir ein neuer Verdruß. Ich meinte, wie der Olaf mit seinen Runen, so hättest Du es mit Zaubermitteln mir angethan, daß ich keine Ruhe mehr fand. Mit Gewalt wollte ich die Erinnerung an Dich aus meiner Seele reißen. Doch ob ich Kranz und Kräuter verbrannte, der Zauber wollte nicht weichen – Engelid, ich meine den Zauber Deiner Sanftmuth, Deiner Treue, Deiner Ergebung. Hätte ich gestern Morgen die Zeit nicht wie ein unmäßiger Schwelger verschlafen, so wäre vielleicht alles noch gut geworden. Nun aber, da Du gegangen, war’s mit meinem Trotz zu Ende. Es raste in meinem Kopfe; es raste in meinem Blute, und da bedurfte es nicht langen Sinnens und Prüfens, daß ich mich Dir nach auf den Weg begab. Ich mußte Dich treffen, bevor das letzte bindende Wort gesprochen war. Was ich auf dem Wege hierher litt, weiß nur ich allein. Als ich von Ornesen erfuhr, Du seiest noch nicht dagewesen, da betrachtete ich das als ein gutes Zeichen. In meinem Gehirn aber brannte und loderte es, daß ich wieder in’s Freie hinaus mußte, um Dich hier zu erwarten, und das war mir ein neuer Beweis, daß wir zu einander gehören. Nun sag’ mir aufrichtig, Engelid, ist das noch nicht genug, Dein Mißtrauen – ich verdien’s freilich – zu besiegen, Deinen Widerstand zu brechen? Nicht genug, eine freundliche Hoffnung, die Du zehn lange Jahre mit Dir herumtrugst und die so plötzlich schlafen gegangen, auf’s Neue zu wecken?“

„Nein, Knut,“ antwortete Engelid fast strenge, „Deine Reden überzeugen mich nicht, können mich nicht überzeugen. Du sprichst in einer gewaltigen Aufregung, und in dieser Aufregung hast Du Deinen klaren Blick verloren. Ich aber kenne Dich besser, als Du Dich selbst; denn seit unserem ersten Wiedersehen bin ich wohl zwanzig Jahre älter und besonnener geworden. Wenn ich Deinem Drängen nachgäbe, würdest Du es später bereuen.“

„Engelid!“ rief Knut leidenschaftlich, „so hast Du mich nie geliebt, und den Ornesen hast Du mit Deinen Worten getäuscht!“

„Doch, doch, Knut! Ich habe Dich treu geliebt und werde Dich lieben bis zu meinem letzten Athemzuge, aber gerade deshalb sage ich Dir: mein Wille ist so fest, wie die Felsen ringsumher, und schmerzlich, wie es mir ist, es auszusprechen jetzt kann ich Deine Frau nicht mehr werden – nein, Knut, ich liebe Dich zu sehr.“

„Ist das Dein letztes Worten fragte er, und indem er sich erhob, durchströmte ihn Eiseskälte.

„Mein letztes Wort, und die Zeit wird kommen, in welcher Du meinen Entschluß segnest.“

„So höre denn auch das meinige,“ fuhr er fort, und seine Stimme klang hart, „so bist Du es, die mich zum zweiten Mal aus dem heimatlichen Fjord in die weite Welt hinaustreibt. Ja, Engelid, ich gehe, denn ich könnte es nicht ertragen, Dir noch einmal zu begegnen und mir bei Deinem Anblicke vorzuwerfen, daß ich Dich vermessen von mir stieß, statt Dich in meine Arme zu nehmen und Dich zu achten und zu halten als mein höchstes Gut. Ja, ich gehe wieder auf’s Meer hinaus, wo nichts mich an das gemahnt, was ich hier verlor. Da – blicke hinauf zu den Sternen! So unabänderlich die ihre alten Bahnen wandeln, so unabänderlich drüben der Elf tost und braust und die Gießbäche ringsum zu ihm niederschäumen ebenso unabänderlich fest steht mein Entschluß. Lieber einen schnellen Tod durch einen Sturz in’s Meer, wenn meine Zeit gekommen, oder mit dem sinkenden Schiff hinab in die Tiefe, als mich hier Jahr um Jahr in Pein und Qual abzuzehren. Lebe wohl, Engelid! Wo auch immer es sei: mein letzter Gedanke soll ein frommer Segensspruch für Dich sein. Den Hausschlüssel [423] laß’ ich stecken oder ich schiebe ihn oberhalb des Eingangs zwischen Balken und Mauerwerk. Führt Dein Weg Dich vorüber, so nimm ihn an Dich! Magst auch hineingehen und Alles schmücken, aber nicht mit heilsamem Kraut und Tannenzweigen, sondern mit Rosmarin, wie für einen Todten. Kannst den öden Bau zerfallen lassen, mir ist’s einerlei – mich sieht der Lyster-Fjord nicht wieder.“

Er kehrte sich ab und schritt davon. Schwer, wie unter einer unerträglichen Bürde, berührten seine Füße die staubige Straße. Es war, als ob ein Schlag ihn halb betäubt hätten; denn statt die Richtung nach Lärdalsörne einzuschlagen, bewegte er sich dahin, wohin sein Antlitz stand, woher er nach seinem Besuch bei dem Müller gekommen war. Die Hälfte des Weges nach dem Gehöfte hatte er schon zurückgelegt, als er seines Irrthums inne wurde.

Er blieb stehen und sah zurück. Engelid folgte ihm in einiger Entfernung, und wie ein schwarzer Schatten hob ihre Gestalt sich von der ein wenig lichteren Umgebung ab. Um keinen Preis hätte er ihr noch einmal begegnen mögen. Er sagte sich, daß auch ihr ein neues Zusammentreffen peinlich sein müsse, sie aber nimmermehr mit ihm zugleich unter Ornesen’s Dach weilen würde, wohin er doch seine Schritte lenkte. Um ihr den Wahn zu rauben, daß er sie erwarte, setzte er mit beschleunigter Eile seinen Weg fort; statt indessen nach dem Gehöfte hinaufzugehen, bog er eine kurze Strecke vor demselben ab, die Richtung einschlagend, welche ihn nach dem Wehre hinführte. Auf der andern Seite des Elfs lief ebenfalls ein Weg neben demselben hin, um dahin zu gelangen, brauchte er nur das Wehr als Brücke zu benutzen. Was galt es ihm, daß dasselbe nur aus Planken bestand, die von einer Anzahl in das Flußbett tief eingerammter Balken gehalten wurden? Was galt es ihm, daß der Elf sein Wasser in breitem Strahle über das Wehr hinweg in einen schäumenden Trichter hinabsandte? Was galt ihm das Tosen und Brausen oberhalb und unterhalb, ihm, der so oft auf schwankem Taue dem Andrang des Orkans wie der auf ihn hereinbrechenden Sturzsee zugleich Widerstand leistete? Und was galt es ihm endlich, wenn er, in den schäumenden Strudel hinabgerissen, tief unten zwischen den Geröllblöcken zermalmt wurden? Es war nichts Aergeres, als er überhaupt über kurz oder lang erwartete, und je schneller das Verhängniß über ihn hereinbrach, um so früher fand er Ruhe.

Vor dem Wehre angetroffen, betrachtete er dasselbe ein Weilchen scharf, um seine Augen mit der Richtung der Planken vertraut zu machen und sich zugleich an die durch den weißen Schaum unterhalb des Wehrs veränderte Beleuchtung zu gewöhnen. Dann nahm er ein zur Hand liegendes schmales Bret, und dasselbe als Stütze benutzend, schritt er auf der kaum drei Finger breiten Bahn nach dem nächsten Balkenpfosten hinüber, der ein wenig über den abwärts gleitenden Wasserstrahl hinausragte. Auf diesem blieb er wieder stehen, um die Strecke bis zu dem nächsten Pfosten hinüber mit den Blicken zu prüfen. Was hinter ihm vorging, sah er nicht, noch weniger hörte er bei dem ihn umringenden Brausen, daß flüchtige Schritte sich vom Hofe her näherten und eine kurze Strecke unterhalb des Wehrs auf dem äußersten Uferrande verstummten. Und durch das ihm bis halb zu den Knieen hinaufspülende Wasser schritt er weiter auf dem schmalen Stege. Engelid’s Blicke folgten ihm mit Todesangst, und mit angehaltenem Athem neigte sie sich weit über die zu ihren Füßen brandenden Fluthen hinab.

Ein leises: „Gott sei Dank!“ entwand sich ihren Lippen, als sie ihn auf dem zweiten Pfosten festen Fuß gewinnen sah, aber noch sechs Pfosten lagen vor ihm, und zwischen diesen ebenso viele Plankenwände, von welchen die leiseste Störung des Gleichgewichtes ihn in den brausenden Gischtkessel hinabsenden mußte.

So erreichte er den dritten, den vierten Pfosten, und nun stieg er mit dem einen Fuße abermals hinab, und nach kurzer Prüfung des schmalen überspülten Steges zog er auch den andern nach sich. Es war dies die Schleußenpforte, welche bei allzu schwerem Andrange der Fluthen aufgezogen werden konnte und zwar mittelst von beiden Ufern aus hinüberreichender Schwebebalken. Während der nächsten Schritte hielt er sich an der ersten der vor den Schwebebalken niederhängenden Ketten. Drei weitere Schritte mußten ihn in den Bereich der zweiten bringen. Doch kaum hatte er die Hand von der ersten Kette zurückgezogen, als plötzlich die unter seinen Füßen befindliche Planke, wohl durch den Bruch weniger verrosteter Nägel, nachgab und sich zur Seite neigte. Eine Sekunde kämpfte er um’s Gleichgewicht. Durch einen Sprung suchte er die andere Kette zu erreichen, aber von den in verstärktem Maße hereinbrechenden Fluthen wurden die Füße unter ihm fortgezogen, und im nächsten Augenblicke verschwand er unten in dem Schaumkessel.

Ein durchdringender Schrei zitterte über das Gehöft hin, und hülferufend eilte Engelid eine kurze Strecke stromabwärts, wo das Ufer sich fast bis zudem auf dieser Stelle nur über Geröll hintobenden Flusse hinab senkte. Gleich darauf trafen die Müllerknechte bei ihr ein. Mit gutem Rathe waren alle bereit, sobald sie Kunde von dem grausigen Ereignisse erhielten, doch was galt Engelid jetzt noch Rath! Was sollten Stangen und Taue, während jede neue Secunde über Leben und Tod entscheiden konnte! „Eine lebendige Kette!“ – dieser Gedanke war es, der wie ein Blitz Engelid’s Geist durchzuckte, und fast ebenso schnell stand sie bis an die Hüften in dem wirbelnden Wasser, gehalten von einem Manne, der ihr ungesäumt nachfolgte und dem andere, so viele ihrer da waren, die Fäuste eng in einander verschränkt, sich anschlossen. Und so war in fast verschwindend kurzem Zeitraume in der That eine lebendige Kette geschaffen, welche bis über die Mitte des wüthenden Elfs hinausreichte, vom Ufer aus aber noch, um sie zu verlängern, durch ein Tau gehalten wurde.

Eine grauenvolle Minute folgte, indem die Kette sich unter Aufbietung der äußersten Kräfte stromaufwärts dem Wasserfall zu bewegte und Einer dem Andern rieth, sich aufrecht zu erhalten, nicht im festen Griffe der Hände zu ermüden. Nur über Engelid’s Lippen kam kein Laut. Allen voraus, die nächsten Nachbarn sogar nach sich ziehend, als ob ihre Kräfte sich verzehnfacht hätten, kämpfte sie der Strömung entgegen. Das Wasser selbst, welches ihr nur wenig über die Kniee reichte, hinderte trotz des heftigen Anpralls weniger, als die Geröllblöcke, über welche die Fluthen schäumend hinbrandeten.

Knut konnte sich nur auf dem zwischen Kette und Wasserfall sich ausdehnenden, verhältnißmäßig kleinen Flächenraume befinden. Aber wer sagte ihr, ob er sich beim Hinabstürzen nicht tödlich verletzte? Wer, ob er nicht in dem unterhalb des Wehrs von den kämpfenden Fluthen ausgewühlten Trichter festgehalten wurde oder ob der gischtgefüllte Schlund ihn nicht bereits ausgespieen?

Und weiter kämpfte Engelid gemeinschaftlich mit den Gefährten auf den Wasserfall zu, bis endlich die Schaumballen ihr bis zur Brust hinaufschlugen und sie sich kaum noch aufrecht zu halten vermochte.

„Es ist vergebens,“ hörte sie einen der schwer arbeitenden Männer den Gefährten zurufen.

„Nicht vergebens!“ herrschte sie den Leuten zu, daß ihre Stimme das Poltern und Tosen des Wassers übertönte. „Ich muß ihn finden, und wäre ich gezwungen, tief unten in dem Trichter nach ihm zu suchen –“

Plötzlich entwand sich ein unbeschreiblicher Ausruf, in welchem Entsetzen und tiefe Herzensfreude sich einten, ihrer Brust, und mit der freien Hand vor sich in’s Wasser hinabgreifend, tastete sie einige Augenblicke umher. Da sie selbst in dem Hauptcanal des Stromes stand, war Knut gerade vor sie hingeschoben worden. Wie ein elektrischer Strom erschütterte es sie bei seiner ersten Berührung, und als sie darauf sein Handgelenk umspannte, da fragte sie nicht, ob noch Leben in ihm wohne, oder ob er dem wüthenden Elf nur entrissen wurde, um demnächst sein Grab in der Nachbarschaft der alten Borgundkirche zu finden. Sie hielt ihn, und das galt ihr als gleichbedeutend mit Rettung; sie fühlte seine Hand in der ihrigen und meinte, ihn allen Mächten des Himmels und der Erde abstreiten zu können.

Ihn mit der einen Hand über Wasser zu heben, fehlte ihr die Kraft, und so begann denn auf ihren Zuruf ein neues gewaltiges Ringen mit dem erzürnten Element, bis andere kräftige Arme sich ihr zugesellten und Knut behutsam nach dem Ufer hinaufgehoben wurde.

Regungslos lag er da. Eine herbeigebrachte Kienfackel beleuchtete ein Bild des Todes. Doch die Verzweiflung, welche sich Engelid’s bei diesem Anblick bemächtigte, erschütterte nicht die geisterhafte Ruhe, störte nicht die Umsicht, mit welcher sie selbst die Wiederbelebungsversuche leitete, indem sie zugleich das Blut forttrocknete, das einer schmalen Wunde auf Knut’s Stirn entströmte, und immer wieder die Hand auf sein Herz legte.

Endlich brach sie, wie bis zum Tode erschöpft, zusammen. „Er lebt,“ flüsterte sie den neben ihr beschäftigten Männern [424] zu, „nun tragt ihn hinein zum Ornesen und sorgt, daß er in ein Bett kommt!“

Pünktlich wurde ihr Befehl ausgeführt. Die Männer waren längst mit ihrer Last in dem Wohnhause verschwunden – da saß sie noch immer auf dem Ufer des Elfs. Sie konnte sich nicht fassen. Heiße Thränen entstürzten ihren Augen; ihr Herz pochte gewaltig, als hätte es die übervolle Brust zersprengen wollen. Als sie aber bald darauf dem Hause zuschlich, da meinte sie, daß die Sterne erhöhten Glanz erhalten hätten. Aus dem Rauschen und Brausen ringsum drang es wie Liebesgrüße zu ihr herüber.

Eine Stunde war verronnen, da saß Engelid neben Knut’s Lager, beim düsteren Schein einer verschleierten Lampe seinen Schlaf, in welchen die Betäubung allmählich übergegangen war, mit ängstlicher Spannung überwachend.

Endlich schlug er die Augen auf. Befremdet sah er um sich. Er schien Engelid nicht zu kennen.

„Das war ein schrecklicher Sturz,“ sprach er tief aufseufzend.

Da neigte Engelid sich über ihn hin, zugleich das Haar von seiner wunden Stirn zurückstreichend.

„Knut,“ sprach sie mit ihrem tiefen, vor Wehmuth zitternden Organ, „es hat Alles so kommen sollen, und wenn Du’s gern hörst, so gesteh’ ich’s noch lieber ein: Dein Unglück hat mir meinen Weg vorgeschrieben; ich kann nicht von Dir lassen,“ und heftiges Schluchzen drohte ihre Stimme zu ersticken, „wohin Du auch gehst – ich folge Dir: in den Lyster-Fjord oder auf’s Meer hinaus. Und hättest Du nichts für mich übrig, als ein wenig Freundschaft, ich wollt’s hinnehmen als ein Geschenk vom Himmel.“

Wie seiner Sinne noch nicht mächtig, starrte Knut zu Engelid empor. Ein Weilchen schienen seine Gedanken nach Klarheit zu ringen, mit der Erinnerung an die jüngsten Ereignisse zu kämpfen. Dann schlang er seinen Arm um ihren Nacken und, ihr Antlitz näher an das seinige ziehend, sprach er tief bewegt:

„Soll ich denn mein Herz aus der Brust schneiden, um Dir zu zeigen, daß nichts in demselben wohnt, als einzig und allem die Liebe zu Dir?“

Engelid küßte ihn zärtlich.

„Nun beruhige Dich, mein Herzliebster!“ floß es unbeschreiblich innig von ihren Lippen, „ich gehe jetzt, um Ornesen hereinzuhelfen. Er wollte gerufen sein, sobald Du erwachtest. Auch nach einem Arzt schickte er, aber der wird jetzt wohl überflüssig sein.“

Noch einmal küßte sie ihn, und geräuschlos verließ sie das Zimmer. Schlafen sollte Knut, allein es gelang ihm nicht. Als der Tag anbrach, saßen Engelid und Ornesen noch immer neben seinem Bett. Wie man liebliche Blumen heiteren Sinnes zu einem Festkranze an einander reiht, so entwarf er gemeinschaftlich mit ihnen die Pläne für die Zukunft.





Das 450jährige Jubelfest der Befreiung Bernaus von den Hussiten.

Der 15. Mai 1432 und 1882.

Die Hussitenkriege bilden eine ruhmvolle, zugleich aber auch prüfungs- und bedeutungsvolle Periode der alt-brandenburgischen Geschichte; ruhmvoll war jene Zeit, weil es der vereinten Kraft des alt-brandenburgischen Bürgerstandes, unterstützt durch die aufblühende Hohenzollernmacht, gelang, die bisher noch nie besiegten Heeresschaaren der böhmischen Glaubensstreiter kraftvoll zurückzuweisen, ja sogar zu zerschmettern; schwer aber waren die der Mark Brandenburg damals beschiedenen Apriltage des Jahres 1432, denn diese hatte die ganze Wucht des andringenden Hussitenheeres auszuhalten: verbrannte Städte und Dörfer kennzeichneten den Weg dieser Horden.

Die erste Niederlage erlitten die Hussiten am 23. April 1432 vor Bernau, einem Städtchen unweit Berlin, und dieser historischen Gedenkfeier galt das Jubelfest, welches am 15. Mai dieses Jahres Bernaus Bewohner begingen.

Die geschichtlichen Thatsachen, auf denen das Erinnerungsfest beruht, sind folgende: das Concil war in Basel versammelt; Kurfürst Friedrich der Erste von Brandenburg, der treueste Rathgeber des Kaisers Sigismund, wohnte demselben bei, und der Schutz der Mark war von ihm seinem ältesten Sohne Markgraf Johann für die Zeit seiner Abwesenheit übertragen worden. — Um auf die Entschließungen des Baseler Conciles einen Druck auszuüben, rückten die Hussiten unter Procop mit Frühlingsanfang 1432 längs der Oder in die Mark Brandenburg ein.

Bereits am 6. April erfolgte ein Ansturm der Hussiten auf Frankfurt an der Oder, ohne jedoch wesentlichen Erfolg zu haben, und ebenso endete ein am 13. April unternommener zweiter Versuch. Die Folge dieser mißlungenen Unternehmungen war die, daß sich die Hussiten in zwei Theile theilten: eine Abtheilung derselben wandte sich nach Pommern, während der größte Theil unter Kosca sich anschickte, in der Mark weiter vorzurücken. Die nunmehr sich vollziehenden Brandschatzungen und Gewaltthätigkeiten brachten über die Mark ein furchtbares Elend: einige Städte kauften sich freilich durch schwere Geldopfer los, die Mehrzahl derselben wurde jedoch mit stürmender Hand genommen und verbrannt; Lebus und Müncheberg bildeten bereits am 20. April rauchende Trümmerhaufen. Schrecken und Entsetzen vor den verübten Gräueln jagten die Landbevölkerung in die vom Feinde noch verschonten Städte, und diese erblickten in der Vertheidigung und der Aufbietung aller Kräfte das alleinige Mittel, um dem Loos der anderen Städte zu entgehen.

Der Markgraf Johann, welcher fremde Hülfstruppen zur Vertheidigung des Landes heranzog, hatte inzwischen beschlossen, in offener Feldschlacht den Hussiten gegenüber zu treten, vor Frankfurt sollte das Schwert entscheiden.

Zu dieser Schlacht sollte es jedoch nicht kommen. Vielmehr hatte Kosca, der nach der Niederbrennung von Alt-Landsberg und Straußberg sich am 2l. April gegen Bernau gewandt hatte, hier am 23. April einen Empfang gefunden, der ihm und seinen Horden weitere Raub- und Streifzüge in der Mark für immer verleidete.

Bernau, der Sage nach von Albrecht dem Bären bei Gelegenheit einer Jagd gegründet, war durch eine Steinmauer und zwei Gräben vor Ueberrumpelung gesichert. Diese Mauer hatte drei Thore, und das eine derselben, das Steinthor, wurde durch einen Thurm flankirt. Der schwächste Punkt der Befestigung war das Mühlenthor, welches nur durch zwei Schulterwehren geschützt war. Die Bewohner Bernaus selbst betrieben damals fast ausschließlich das Brauereigewerbe; fast jedes Haus war ein Bierhaus, und

[425]

Das Hussitenfest in Bernau: Die „Brandenburger“.
Originalzeichnung von F. Wittig.

[426] unter solchen Verhältnissen war es für die Bernauer ein Leichtes, heißen Brei und Wasser als Mittel zur Vertheidigung zu benutzen.

So lagen die Verhältnisse, als Kosca am 2l. April nördlich der Stadt vor dem Mühlenthor auf den dortigen Feldern mit seinen Schaaren die Wagenburg aufschlug. Mit Schrecken und Bangen sahen die Bernauer von der Stadtmauer herab, wie der Feind die Vorbereitungen zum Angriff traf; mit fieberhaftem Eifer wurden in der Stadt alle Vertheidigungsmittel an die Mauer herangeschafft; Alles bereitete sich zum energischsten Widerstande vor.

Der Angriff ließ auch nicht lange auf sich warten. Während der Tage vom 21. bis 23. April wurde von den Hussiten die St. Georgs-Capelle vor dem Mühlenthor zerstört; einen Angriff über dieselbe hinaus auf die Stadtmauer wagten sie jedoch für's Erste nicht zu unternehmen, denn sie hatten die energischen Maßregeln der Bernauer gesehen; dennoch ließen sie sich am 23. April zu solchem verleiten. Der Erfolg war ein kläglicher; denn der von der Bevölkerung herabgegossene „heysse Brei“ hatte den feindlichen Schaaren bedeutende Verluste bereitet. Erbittert über den ihnen geleisteten Widerstand und durch die gehabten Verluste eingeschüchtert, standen die Hussiten von weiteren Sturmversuchen ab, zogen sich in ihre Wagenburg zurück und beschränkten sich lediglich auf die Beobachtung des Mühlenthores und seiner Umgebung.

Die Kraft der Bernauer Bürger war durch diese rasenden Angriffe, wenn auch nicht gebrochen, so doch beinahe erschüttert worden. Persönliche Kraft vermochte nichts mehr, und man griff deshalb zur List: das Bernauer Bier sollte die Hussiten verderben.

„War einst ein Brauer in Bernau,
So lang als dick so fromm als schlau!“

So beginnt Schmidt-Cabanis sein „Bernauer Biermärlein“! — Und dieser Brauer war der Sohn des Stadtsyndikus Bütten! Er schlug vor, eine große mit „Tollkirschen, Quassianholz und sonstigem Teufelszeug“ versetzte Quantität des Bernauer Bieres auf Wagen zu laden und diesen Transport aus dem Berliner Thore so zu dirigiren, daß er absolut den Hussiten in die Hände fallen müßte. Dieser Vorschlag wurde mit Freuden begrüßt und angenommen. Die List gelang. Die Hussiten nahmen den Transport mit großem Jubel in Empfang und überließen sich mit noch größerem Behagen dem Genusse des Bieres. Die Wirkung dieses aus „Quassianholz, Tollkirsche und sonstigem Teufelszeuge“ zusammengesetzten Getränkes konnte nicht ausbleiben — ein tiefer Schlaf übermannte bald das ganze hussitische Lager.

Durch genaue Nachrichten waren die Bernauer über die Vorgänge im Hussitenlager unterrichtet worden, und man beschloß, den günstigen Augenblick zu einem Ueberfall zu benutzen. Unter Zurücklassung der nöthigen Posten auf der Stadtmauer rückte, den Bürgermeister Lüttcke an der Spitze, der waffentragende Theil der Bernauischen Bevölkerung auf Schleichwegen an das Hussitenlager; die böhmischen Wachtposten waren bald überrumpelt; die Bernauer bestiegen die Verschanzungen, machten Alles, was sich ihnen entgegenstellte, nieder, und nur ein Theil der Hussiten rettete sich in den nahe gelegenen Wald; selbst dem grimmen Hussitenführer Kosca gelang es nur mit Mühe, auf einem fremden Pferde zu entfliehen. — Das ganze Hussitenlager fiel in die Hände der Bernauer, und die noch heute im Bernauer Rathhause aufbewahrten Beutestücke, unter andern der Küraß und die hölzerne Bratenschüssel Kosca's, sind sprechende Beweise für den Umfang der damals gemachten Beute.

So lebt im märkischen Volksmunde die Geschichte der Belagerung und Befreiung Bernaus. Geschichtlich läßt sich indeß nachweisen, daß durch die glücklich bestandene Belagerung Bernaus allein die Vertreibung der Hussiten nicht herbeigeführt worden ist; auf Grund der historischen Quellen ergiebt es sich nämlich, daß Markgraf Friedrich der Zweite mit 6000 Brandenburgern den belagernden Hussiten in den Rücken fiel, während zugleich die Bernauer einen Ausfall auf den Feind gemacht hatten; nach denselben Quellen fand auf dem „Ruthenfelde“ vor Bernau (Feld vor dem jetzigen Bahnhofe) in Folge dieses gemeinschaftlichen Zusammenwirkens eine Schlacht statt, in welcher die Böhmen total geschlagen wurden.

Die Idee und Ausführung einer würdigen Feier jenes vierhundertfünfzigjährigen Gedenktages in Bernau ist in erster Linie den Bemühungen des dort lebenden bekannten Geschichtsforschers, Herrn Dr. Jacobsen, in zweiter dem aus Bernauer Bürgern bestehenden Festcomité zu danken. Fiel dem letzteren ausschließlich die Erledigung der örtlichen Festarrangements zu, so hatte Herr Dr. Jacobsen die Absicht, dem Feste auch einen künstlerischen Werth zu verleihen, und diese Idee fand einen lebhaften Widerhall in den Berliner Künstlerkreisen. Der Erfolg war, dank dieser Theilnahme, der Art, daß man wohl behaupten darf: das Bernauer Hussitenfest war ein echt deutsches Künstlerfest.

Der Plan des Herrn Dr. Jacobsen fand in dem Maler Herrn C. Röchling-Saarbrücken und dem Herrn Professor von Heyden die lebhafteste Unterstützung. Alle drei Herren entwarfen Costümbilder der damaligen Kriegertracht, und den freudig beistimmenden Jüngern der Kunst, dem Berliner Künstlerverein und den Kunstakademikern blieb es überlassen, auf Grund dieser Bilder sich selbst zu „equipiren“. Ein lebhaftes Schaffen und Treiben regte sich schon wochenlang vor dem Feste in den Berliner jüngeren Malerkreisen; die Mittel zur Beschaffung der Costüme waren gering, und die leihweise Ueberlassung derselben aus Berliner Staatsinstituten stieß vielfach auf Schwierigkeiten; somit blieb nichts Anderes übrig, als selbst Hand anzulegen. Fürwahr! So mancher Künstler, vielleicht einst eine Koryphäe der Zukunft, hat, mit Nadel und Scheere bewaffnet, sich in seinem Atelier das Hussiten- oder Brandenburgerwams selbst angefertigt, und so ist denn auch der nähende Künstler auf dem hübschen Wittig'schen Initial, welches unsern heutigen Artikel schmückt, wirklich dem Leben abgelauscht.

Es handelte sich nicht um schmuckes, tadellos propres Aussehen, sondern um die gewissenhafte Darstellung der Wirklichkeit; es galt, das ernste Werk des Krieges in den Costümen und der Ausrüstung in gleicher Weise plastisch zur Darstellung zu bringen, wie die Wirklichkeit von damals sie vorschrieb. Und die Liebe und Treue zur Sache hat reichliche Früchte getragen: die Costüme waren mit bewundernswerther Gewissenhaftigkeit und den geringsten Mitteln geschaffen; einfache Kaffeesäcke, unten und oben angeschnitten, mit Adler- und Sternenbildern besäet und mit Tuchkanten besetzt, dienten als Wämse; alte, in historische Form gebrachte Filzhüte, mit Graphit überstrichen, vertraten den Helmpanzer; aus Pappe täuschend nachgemachte Brustpanzer, Morgensterne, Sensen, Lanzen, Dreschflegel mit eisernen Spitzen besetzt, Streitäxte, Hämmer, Bogen, Büchsen — alle diese Geräthe waren das Ergebniß langtägiger Arbeit: die Kunst hatte aus geringem Stoff Großartiges gebildet. Das Mittelalter schien wieder auferstanden; das Hussitenwesen zeigte sich in seinem malerischen Schmuck, ebenso aber auch in seiner bizarren Zerlumptheit und Naivetät der Sitten.

Sehr trübe gestalteten sich die Auspicien am Festtage: Regenwetter, mit Hagel untermischt, war ein schlimmes Prognostikon für das Fest, und schon der Anblick der durch den Regen durchnäßten Hussiten- und Brandenburger-Gestalten stimmte das Gemüth herab. Mit der Ankunft des kronprinzlichen Paares stellte sich indessen das Hohenzoller-Wetter ein.

Am Bahnhofe mit Ansprache und Begrüßung empfangen, zog das kronprinzliche Paar durch das Königsthor in die Stadt ein; an demselben hatten sich die Ehrendamen — in mittelalterlicher Tracht, langen Kleidern in „Gretchen-Art“ mit langer Schleppe, den Kopf zum Theil mit weißen spitzen Hauben bedeckt, zum Theil mit einem Hopfenblüthenkranz im Haar — auf einer Estrade niedergelassen, von welcher aus eine Begrüßung des kronprinzlichen Paares und die Ueberreichung von Bouquets erfolgte. Auf der beigegebenen Abbildung (S. 428) versuchte der Künstler möglichst getreue Portraits dieser liebenswürdigen „Ehrenjungfrauen“ den Lesern vor die Augen zu führen. Hierauf begaben sich die hohen Gäste nach der Marien-Kirche, wo der Festgottesdienst stattfand, darauf nach der St. Georgs-Capelle vor dem Mühlenthor, in welcher sie durch den „Kürfürsten von Brandenburg“ mit drei Rittern ehrerbietigst empfangen wurden. Ein Frühstück im Rathhause — dem kronprinzlichen Paare von der Stadt Bernau gegeben — beendete diesen ersten Theil der Festfeier.

Inzwischen lagerten die Hussiten, friedlich mit den Bernauern und Brandenburgern vereint und „lechzend nach Bernauer Bier“, vor dem Mühlenthor. Der Anblick dieser wilden Gestalten, das bunte Durcheinander, war ein ungemein farbenprächtiger und bizarrer, wie auch die Eigenthümlichkeit des im Festzuge darzustellenden Bildes gerade hier noch mehr als beim Festzuge in den Vordergrund trat. Die wilden Horden bewegten sich im buntesten Gewimmel unter einander, wilde Rufe wie: „Slava“, „Zivio“ erschütterten die Luft — das Mittelalter schien vor dem Mühlenthor alle seine Furien [427] entfesselt zu haben, und die eigenthümlichen Waffen und Costüme wirkten auf den Beschauer fast sinnverwirrend — es war eben Alles echt und historisch treu, Alles künstlerisch.

Um eineinhalb Uhr begann der Festzug. Der Kronprinz hatte auf der Rathhaustreppe Stellung genommen, um dem sich nunmehr entwickelnden Festreigen zuzuschauen.

Ob es nothwendig war, daß dem Festzuge circa ein halbes Dutzend Gensd'armen vorauf ritt, mag hier unerörtert bleiben; jedenfalls berührte diese Maßregel eigenthümlich. Auch übergehen wir die Aufzüge der Schützen und Turner von Bernau; ihr Auftreten erinnerte stark an die modernen Schützen- und Turnfeste.

Diesem Vortrabe folgte der eigentliche Festzug; eröffnet wurde er durch die Brandenburger, welche 1432 den Bernauern von Spandau aus zu Hülfe eilten; voran schritt ein Trompeter, dahinter der Bannerträger und hinter diesen, im pelzverbrämten Gewande inmitten seiner Mannen, der Kurprinz (nachmaliger Friedrich der Zweite), welcher sich damals vor Bernau die ersten Sporen verdiente; seine Umgebung bestand aus dem Feldhauptmann und den sich zu jener Zeit in Spandau aufhaltenden fürstlichen Personen. Zwölf berittene Brandenburger schlossen sich an diese an; ihnen folgte das brandenburgische Fußvolk. (Vergl. unsere Abbildung Seite 425.)

Es war ein buntes, farbenprächtiges Bild. Die kriegerischen Gestalten, die phantastische Kleidung, die stählernen, mit emporstarrenden Federn geschmückten Kopfbedeckungen, das bunte Gemisch von Waffen, die urwüchsigen Pantomimen und Geberden mußten auf den Beschauer den Eindruck des Vollendeten machen. Bogen- und Armbrustschützen beschlossen diese Scenerie. Rühmend sei hierbei der Herren Bildhauer Hoffmann, Paulssen und Thomas gedacht, welche sich um die Organisation der „Brandenburger“ besonders verdient gemacht haben. Der „Schmied von Bernau“ (Herr Thomas), der „Münzjude“ (Herr Salzmann, Theilnehmer an der Reise des Prinzen Heinrich um die Welt) und viele Andere waren Erscheinungen, wie sie künstlerisch vollendeter nicht gedacht werden konnten.

Ein grelles Farbenbild boten die den Brandenburgern folgenden Bernauer. Bogenschützen und Lanzenträger umringten das Stadtbanner; ihnen folgten, gemessenen Schrittes und auf den Stab gestützt, der Bürgermeister von Bernau (Herr Maler Hertel) und die Stadträthe; an sie reihte sich der in rothe Tricots gekleidete Scharfrichter mit der Schandmaske, Ketten und Stricken im Gürtel; ihm folgten die Geistlichkeit, Bernauer Bürger und der Ablaßkrämer mit dem Hundewagen. Die Verschiedenheit der Farben war überraschend; die getreue Wiedergabe derselben hätte wohl selbst dem farbengewandten Makart Schwierigkeiten gemacht.

„Die Hussiten, die Hussiten!“ So ertönte es aus tausend Kehlen, als die böhmischen Glaubensstreiter mit landesüblicher, ohrenzerreißender — aber historischer — Musik (Dudelsack, Violine, Tambourin etc.) durch das Mühlenthor hereinzogen. War man schon vorher im Publicum davon unterrichtet, daß der Glanzpunkt des Festes der Hussitenzug sein würde, so wurden doch alle Erwartungen durch die nunmehr folgende Scenerie übertroffen: die Naturwahrheit konnte nicht drastischer zum Ausdruck gelangen, als in dem Hussitenzuge; der Anblick dieser verwegenen, herculischen Gestalten wirkte fast beängstigend. (Vergl. S. 429.)

Unter Vortragung der Hussitenfahne, der die böhmische folgte, zogen die kampflustigen Gesellen wie eine Heerde Wilder dahin; das Haar unter der phantastischen Kopfbedeckung wild herabhängend, den Oberkörper bedeckt mit Bären- und Schafpelzen, bekleidet mit Rüst- und sonstigen Panzerstücken, bewaffnet mit Morgensternen, Lanzen, Keulen, Aexten, Hämmern, gerade gebogenen Sensen! In diesem Zuge befanden sich außerdem Troß- und Streitwagen, von Ochsen gezogen und mit widerlich häßlichen Hussiten besetzt; die Reiter saßen auf fast unbekleideten Pferden; anderes Fußvolk schleppte Sturmleitern und Beutestücke mit sich, und auf einem der Troßwagen stand ein hussitischer Prediger, den Schaaren den Segen spendend; zerlumpt, mit blutigen Binden über den zerfetzten Gesichtern und um die Köpfe, Stroh in den Schuhen, zogen die böhmischen Glaubensstreiter an dem Zuschauer vorüber, und als sie vorbei waren, fragte man sich unwillkürlich: „Traum oder Wirklichkeit?“ Denn man hatte ja soeben die Hussitenzeit in der treuesten Wirklichkeit gesehen.

Die hervorragendsten Hussitenfiguren waren: Kosca, der grimme Hussitenführer vor Bernau, dargestellt durch Herrn Lessing, Sohn des Malers der „Hussitenpredigt“. Eine reckenhafte Erscheinung, bekleidet mit einem wahrhaft infernalischen Costüm, auf dem Haupte einen zweifelhaften Filz mit mächtigen Adlerflügeln, über dem Rücken ein Riesenschaffell, bis an die Zähne bewaffnet! Herr Dr. Jacobsen war als Hussit mit eherner Helmkappe und mit einem ungeheuren Bärenfell bekleidet; Herr Röchling figurirte als Bannerträger. Humoristisch berührte der von den Hussiten in czechischer Sprache oft wiederholte Ruf: „piwo, piwo, piwo cervené!“ („Bier, Bier, braunes Bier!“), welcher an die oben erwähnte Episode aus der Belagerung Bernaus erinnerte.

Der Festzug war mit dem Aufzuge der Hussiten beendet, und das kronprinzliche Paar, von dem Gesehenen sichtbar erfreut, verließ nun die kleine Provinzialstadt, aber die wilden Horden begannen jetzt Bernau als ihre Stadt zu behandeln; „Künstlervolk — ein leichtlebiges Volk“! Gruppenweise zog man durch die Straßen; die Hussitencapelle brachte bald hier, bald dort ein Ständchen, ja sogar ein Minnesänger ließ von der Rathhaustreppe herab seinen Gesang erschallen.

Der Raum gestattet uns leider nicht, auf die am Nachmittage stattgefundene „Hussitenfahrt“ nach Lanke, einem dem Grafen Redern gehörigen Grundbesitze, hier einzugehen; erwähnt sei nur noch, daß dort im frischesten Waldesgrün trotz der ungünstigsten Witterung der ungetrübteste Frohsinn und echt künstlerisches Leben vorherrschend waren. Eine herrliche Scenerie bot sich dem Auge dar, als der bunte Zug, auf Leiterwagen placirt, die Fahrt nach Lanke antrat.

Abends nach Bernau zurückgekehrt, durch die kriegerische Thätigkeit am Tage ermattet, traten die Künstler die Rückfahrt nach Berlin an. — Jeder von ihnen konnte mit Genugthuung das Bewußtsein mit nach Hause nehmen, sein Bestes zu einer hervorragenden Feier beigetragen zu haben.

Hoffen und wünschen wir, daß nach diesem Erfolge die bekannte Schwerfälligkeit und Abneigung des Nord- und Mitteldeutschen gegen solche historische Gedenkfeier mehr und mehr schwinden wird! Gerade durch solche Feier vaterländischer Gedenktage wird das Nationalbewußtsein wach und rege erhalten!

Pvl.

[428]

Eine deutsche Volksakademie.


Des Menschen edelste Beschäftigung ist der Mensch.     
Lessing. 

Wenn noch vor drei Jahrzehnten dem Ansspruche des berühmten englischen Geschichtsschreibers Buckle ein Körnchen Wahrheit zugeschrieben werden konnte: „Deutschland habe solche Mühe fortzuschreiten, weil dort die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten tiefer sei, als in irgend einem anderen Lande,“ so hat dieser Ausspruch längst jede Berechtigung verloren. Die Kluft zwischen den höheren und niederen Schichten der Gesellschaft, zwischen Gebildeten und Ungebildeten ist in Deutschland, namentlich seit den letzten Kriegen durch die Anerkennung der politischen Gleichberechtigung und die Ausdehnung der Selbstverwaltung mehr und mehr überbrückt worden, und es dürfte in der That der Zeitpunkt nicht mehr ferne sein, wo alle Classen der Nation über einen nahezu gleichen Fonds allgemeiner Bildung verfügen werden.

F. Wittig. Berl.

G Hever & Kirmse. X. A.
Das Hussitenfest in Bernau: 0Ehrenjungfrauen.
Originalzeichnung von F. Wittig.

Wesentlich hat dazu beigetragen der Umstand, daß die Männer der Wissenschaft sich entschlossen, aus ihrer zünftigen Abgeschlossenheit herauszutreten und die reifen Früchte ihres Studiums und ihrer Erfahrung in gemeinverständlicher, leicht faßlicher Form allem Volke zugänglich zu machen. Kein Land der Welt verfügt über eine der Zahl und der Bedeutung ihrer Mitglieder nach so reiche Aristokratie des Geistes wie Deutschland, und seit Jahrzehnten ist diese Aristokratie bemüht, an die Spitze der demokratischen Bewegung zu treten, welche, in Preußen schon während der großen Reformen der Stein, Hardenberg, Scharnhorst, Humboldt begonnen und welche mit noch größerem Erfolge die Nation 1848 ergriffen hat, um über die Jahre 1866 und 1870 hinaus in immer weiteren Wellenschlägen allen Gesellschaftsschichten die reichen Früchte des Menschengeistes aus allen Gebieten des Forschens und Wissens zu erschließen. Und wenn die deutschen Hochschulen bisher als die hauptsächlichsten Pflanzstätten der höchsten geistigen Bildung angesehen werden mußten, so sind diesen Hochschulen seit einigen Jahrzehnten in den deutschen Bildungsvereinen nahezu ebenbürtige Institute an die Seite getreten, deren Bedeutung und Tragweite nach gewissen Seiten hin sogar noch jene Hochschulen übertrifft. Nicht Fürstengunst hat diese Bildungsvereine geschaffen, die bestimmt sind, auch dem kleinen Manne, dem Handwerker und Arbeiter, den reichen Schatz der Wissenschaft zu erschließen und ihn die befreiende und erlösende Macht wahrer Humanität und Bildung kennen zu lehren, nein, der freien Selbstthätigkeit Einzelner verdanken die deutschen Bildungsvereine, Volksakademien im edelsten Sinne des Wortes, ihren Ursprung und ihr Erblühen.

Unter diesen Bildungsvereinen nimmt aber unstreitig der große Berliner Handwerkerverein den ersten Rang ein, und der Ruf seiner segensreichen Wirksamkeit, die über nahezu eine Million von Handwerkern und Arbeitern im Laufe der Jahre sich erstreckt hat, hallt – wir können dies ohne Uebertreibung sagen – in beiden Hemisphären wieder. Uns liegt die Denkschrift des Berliner Handwerkervereins aus dem Jahre 1867 vor, die für die große Weltausstellung in Paris bestimmt war und ein vollkommenes Bild aller Bestrebungen und aller Einrichtungen des Vereins gewährt.

Auf Grund dieser Denkschrift, welche von einem großen allegorischen Tableau des berühmten Geschichtsmalers Professor Plockhorst und von vier großen architektonischen Zeichnungen der Baumeister Kolcher und Lauenburg, das Vereinshaus darstellend, begleitet war, wurde der große Berliner Handwerkerverein als das vorzüglichste Bildungsinstitut für Erwachsene, welches in Europa besteht, von den competentesten Sachverständigen anerkannt und durch die große goldene Medaille geehrt. Die silberne Werkmeistermedaille der Pariser Weltausstellung wurde dem Wiederbegründer des Berliner Handwerkervereins, dem hochverehrten Präsidenten Lette, zu Theil. Auch auf den späteren Weltausstellungen hat sich der Berliner Handwerkerverein die ehrendste und allseitigste Anerkennung errungen.

In Wien, Pest, Florenz, Tiflis, Barcelona, Cincinnati hat man Handwerkervereine nach dem Muster des Berliner Vereins gegründet, und aus allen Ländern ist der Vorstand des Berliner Handwerkervereins um Rath und Unterstützung gebeten worden, um Bildungsinstitute nach seinem bewährten Vorbilde zu stiften.

Es war in den ersten Jahren der so hoffnungsreich begrüßten Regierung Friedrich Wilhelm’s des Vierten, als der Berliner Handwerkerverein zum ersten Male in der Johannesstraße Nr. 4 seine Pforten öffnete, um unter den Handwerkern und Arbeitern Bildung und Gesittung zu verbreiten. Schriftsteller und Gelehrte, zum Theile Männer, welche sich später einen berühmten Namen erworben haben, schlossen sich dem Vereine an und wirkten in demselben durch gediegene Vorträge, wie durch systematischen Unterricht.

„Mit frischem, gesundem Sinne gaben sich die jungen Handwerker,“ erzählt Streckfuß in seiner Schrift „Fünfhundert Jahre Berliner Geschichte“, „dem Vereine hin. Hatten sie früher ihre freien Abende trinkend und singend in den Kneipen zugebracht, so besuchten sie jetzt den Handwerkerverein, in dem sie neben der Belehrung eine veredelnde Geselligkeit fanden, durch die sie im freundschaftlichen Umgange mit ihren wissenschaftlich gebildeten Lehrern zu einer höheren Bildungsstufe erhoben wurden.“

Das Jahr 1848, welches dem Vereinswesen in Deutschland einen großen Aufschwung gab, trug selbstverständlich auch in den jungen Handwerkerverein eine größere Lebhaftigkeit hinein. Die zahlreichen Versammlungen, das Clubwesen jener sturmbewegten Tage, die soeben erst erwachte fieberhafte Theilnahme des Volkes an den politischen Fragen blieben nicht ohne Rückwirkung auf das innere Leben des Handwerkervereins, dessen Mitglieder sogar ein besonderes Corps zur neugeschaffenen Bürgerwehr stellten. Aber wenn auch in den Debatten ein lebhafterer Ton angeschlagen wurde – nicht einen Zoll breit wurde der Verein dem eigenen Gesetze ungetreu, welches die Verfolgung kirchlicher und politischer Zwecke untersagte. Auch als die Wogen der Zeit am höchsten gingen, wurden, wie ein uns vorliegender Bericht versichert, die allbewegenden Fragen der Zeit von der Lehrerschaft mit der Ruhe ernster Männer behandelt, die nicht Clubredner, sondern Lehrer des Volkes zu sein erstreben.

Diese Ruhe und Besonnenheit, welche der Verein und seine Leiter in den Tagen der Revolution bewahrten, schützte ihn nicht davor, von der im November hereinbrechenden Reaction, welche mit scheelen Augen sein Bildungsstreben verfolgte, in Acht und Bann gethan zu werden. Im Jahre 1850 diente eine geringfügige [429] äußerliche Veranlassung, eine Uebertretung des Vereinsgesetzes, die der Richter mit der geringen Strafe von zehn Thalern ahndete, als Vorwand, den Verein zu schließen, Bibliothek und Inventar zu confisciren.

Brandenburger

G Hever & Kirmse. X. A     Pivo puvo, puvo cervene
Das Hussitenfest in Bernau: Die „Hussiten“.
Originalzeichnung von F. Wittig.

Die Fahne des Vereins aber wurde zum Bürgermeister Hedmann gerettet, und sein Geist erhielt sich in den alten Mitgliedern lebendig. Mit prophetischem Blicke in die Zukunft rief diesen im letzten Jahresberichte der wackere Vorsitzende Dr. Rieß den zuversichtlichen Trost zu: „Manches haben wir verloren, Vieles gerettet, und sollten wir uns auch ganz trennen müssen, das Volksbewußtsein, dessen Ausdruck der Verein war, bleibt und wird sich neue Formen schaffen.“

Und als die Zeit erfüllt war, da hat das Volksbewußtsein sich denn auch wirklich neue Formen zu schaffen gewußt und den im Jahre 1850 aufgelösten Verein neu und lebensvoller als zuvor wieder erstehen lassen. Ganz war er allerdings niemals, auch nicht ist der traurigen Olmützer Epoche, vom Schauplatze abgetreten; denn von den alten Mitgliedern, die voll treuen Eifers an dem Vereine hingen, wurde er auch ohne Statut, ohne Versammlungslocal aufrecht erhalten. „Wo die Sänger sangen, sagte später Rieß, „da war der Handwerkerverein“; ja, wo zwei der Alten sich trafen, da war der Verein.“

Als mit dem Antritte der Regentschaft des Prinzen von Preußen, des gegenwärtigen deutschen Kaisers, eine neue Aera des politischen und geistigen Ringens auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens begann, da mußte in den treu gebliebenen Mitgliedern der Gedanke Platz greifen, den Handwerkerverein wieder in’s Leben zu rufen. Der „Centralverein für das Wohl der arbeitenden Classen“ übernahm die Sache und übertrug dem unvergeßlichen Präsidenten Lette, der mit der Erfahrung und Besonnenheit des Greises die Begeisterung des Jünglings vereinigte, die Ausführung der schönen Aufgabe.

Unter seiner Leitung traten 1858 neun Mitglieder des 1850 aufgelösten Vereins zusammen, um die Statuten zu entwerfen und den Grundstein zu der neuen „Deutschen Volksakademie“ zu legen, zu der sich der 1859 wieder erstandene Berliner Handwerkerverein in jedem Jahre mehr und mehr entwickelt hat. Lette, der treue Freund unseres verewigten Ernst Keil, blieb bis an sein Lebensende – er starb am 3. December 1868 – seiner geistigen Schöpfung treu. So groß und umfassend sein Wirkungskreis gewesen ist, am wohlsten hat er sich stets im Handwerkerverein gefühlt, der in ihm seinen Vater verehrte. Hier fühlte er sich daheim, als Bürger unter den Bürgern.

In Wilhelm Steinert, einem echten self-made man, wie die Amerikaner sagen würden, gewann der Verein einen ersten Vorsitzenden, wie er ihn brauchte, um alsbald eine bedeutende organisatorische und erziehliche Thätigkeit nach allen Seiten hin zu entfalten. – Steinert hatte seine Lehrjahre in der praktischen Schule der Vereinigten Staaten zurückgelegt, wohin ihn das Scheitern der Bewegung von 1848 getrieben; dann war er in die alte Heimath zurückgekehrt, um hier eine unter seiner Leitung berühmt gewordene Privatschule zu begründen. Der Jahresbericht von 1875 schildert diesen trefflichen Mann, der in den Jahren 1859 bis 1865 als erster Vorsitzender wirkte, als einen Feuergeist, eine durchaus schöpferische Natur, einen Quellenmenschen von sprudelnden, nie versagenden Gedanken. Vereinssitte ist geblieben, was er vom ersten Tage an eingeführt; ihm dankt der Verein sein Vermögen, sein Grundstück, den edlen und zweckmäßigen Bau des Hauses, die Handhabung seiner Statuten, den Eifer des Vorstandes, die Gewissenhaftigkeit der Repräsentanten, den Geist, der die Lehrerschaft durchweht. Von unerschütterlicher Ueberzeugungstreue, an den Sieg der Wahrheit glaubend, ein Kämpfer der Geistesfreiheit, hatte er knappe Formen, wirkte durch lebhafte Bilder; mit feurigem Wesen verband er eine außerordentliche Selbstbeherrschung, und, streng in den Anforderungen, war er milde in der Ausübung; auch ein kleiner Zug listiger Ueberlegenheit, mit Humor angewendet, fehlte ihm nicht.

Neben ihm wirkte als zweiter Vorsitzender der feingebildete, durch eine wahrhaft rührende Begeisterung für alles Schöne und durch wahre Menschenliebe ausgezeichnete Arzt Dr. Abarbanell, bis ihn der Tod dem Verein und seinen zahlreichen Freunden allzu früh entriß. Durch die von Verwandten und Verehrern gegründete Abarbanell-Stiftung, eines Fonds, dessen Zinsen alljährlich zu Unterrichtszwecken verwandt werden, ist das Andenken des edeln Mannes in würdigster Weise gesichert worden.

In die Fußstapfen dieser Männer traten auch die späteren Vorsitzenden, Franz Duncker, der fortschrittliche Abgeordnete und [430] Buchhändler, der bis zum Jahre 1879 mit nie ermattender Begeisterung den Handwerkerverein leitete, ihm zur Seite der jugendlich kräftige, leider allzu früh verstorbene Stadtgerichtsrath Lehfeldt, der niemals ermüdende Dr. Burg, der arbeitsfrohe Dr. Sklarek. Seit dem Jahre 1879 stehen Director Dr. Friedrich Goldschmidt, Dr. Sklarek und Oberlehrer Dr. Thurein an der Spitze des Berliner Handwerkervereins.

Wir haben schon erwähnt, daß der Verein dem rastlosen Eifer seines ersten Vorsitzenden Steinert den Erwerb eines besonders geeigneten Grundstückes und eines Vereinshauses verdankt, des ersten, das eigens für Arbeiterbildungszwecke in Deutschland errichtet worden ist. Nach einem im Vereine selbst festgestellten Plane aufgeführt, gewährt er den zahlreichen Mitgliedern würdige Versammlungs-, Unterrichts- und Erholungsräume. Der achtzig Fuß lange, sechszig Fuß tiefe und dreißig Fuß hohe Saal faßt über zweitausend Personen; in Verbindung mit dem daran stoßenden Garten reicht er für alle Jahreszeiten, selbst für die Festtage, an denen er auch den Familien der Mitglieder offen steht, vollkommen aus. Zwei Stockwerke des Vorderhauses bieten eine Reihe von Unterrichtszimmern, einen Zeichen- und einen Lehrsaal, sowie angemessene Räume für die Bibliothek und den Verkehr der Mitglieder. Das Erdgeschoß mit einem großen Tunnel ist für wirthschaftliche Zwecke eingerichtet.

Der Zweck des Handwerkervereins, die hohen Aufgaben, die er sich gestellt, sind heute noch dieselben, wie im Jahre 1844, da er begründet wurde, und wie sie in das Statut vom Jahre 1859 eingetragen sind: „allgemeine Bildung, tüchtige Berufskenntnisse und gute Sitte unter seinen Mitgliedern zu befördern“. Als Mittel zur Erreichung dieses Zweckes nennt das Statut: Vorträge, Besprechungen, Bibliothek und Lesezimmer, Unterricht zur Förderung allgemeiner und gewerblicher Fortbildung, sowie im Turnen und Gesang, ferner gesellige Vergnügungen, an welchen, gleichwie an den hierzu besonders bezeichneten Vortragsabenden, auch die Familien der Vereinsmitglieder theilnehmen können. Indem diese Mittel mit der allgemeinen Bildung zugleich die körperliche und geistige Gesundheit der Handwerker heben, sind sie gleichzeitig von dem bedeutendsten Einfluß auf die Verbesserung ihrer materiellen Lage. Unmittelbar gefördert wird die letztere, wie die Weltausstellungs-Denkschrift von 1867 sich ausdrückt, insbesondere durch die Verbreitung tüchtiger Berufskenntnisse, welche durch naturwissenschaftliche und technische Vorträge aller Art, durch die Erschließung der gewerblichen Literatur in Büchern und Zeitschriften, durch die persönliche Berührung mit hervorragenden Kennern der Industrie, endlich aber auch durch Specialunterricht im Zeichnen und Modelliren und in verschiedenen fachlichen Vorkenntnissen und Fertigkeiten erstrebt wird.

Gemeinschaftliche Versammlungen des Vereins finden jetzt wöchentlich dreimal statt (Montags, Mittwochs und Sonnabends). Den Mittelpunkt dieser Versammlungen, an denen, soweit der Gegenstand dies angemessen erscheinen läßt, auch Frauen theilnehmen können, bilden die Vorträge, welche alle Zweige gemeinnützigen Wissens, mit Ausschluß des politischen und religiösen Gebietes, umfassen. Alle Vorträge sind unentgeltlich und werden von den Lehrern des Vereins nach Maßgabe eines vierteljährlich festgestellten und veröffentlichten Lectionsplanes gehalten. Meist auf klare und abgerundete Erörterung einzelner Fragen angewiesen, dehnen sie sich nicht selten zu einer Reihe zusammenhängender Darstellungen aus. Die Vorträge behandeln in ihrer bei weitem überwiegenden Mehrzahl Gegenstände aus der Technologie, den Handelswissenschaften, dem Gewerbe, der Volkswirthschaft, den Naturwissenschaften.

Aber auch Geschichte, Rechts- und Staatswissenschaften, Geographie und schöne Literatur fehlten selten auf den Lectionskatalogen. Diese Vorträge finden stets ein aufmerksames, schier andächtiges Publicum, und wer die Reichshauptstadt besucht, um ihre großartige Entwickelung auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, der Kunst und Wissenschaft kennen zu lernen, sollte ja nicht versäumen, das stattliche Vereinshaus in der Sophienstraße zu besuchen, in den mit den Bildnissen Lehfeldt’s, Steinert’s und den Büsten von Schulze-Delitzsch, Lette, Jahn geschmückten Saal zu treten, wo die Fahne mit dem sinnigen Symbol drei sich die Hände reichender Gestalten – Gelehrter, Künstler und Handwerker – herabwallt, wo dicht gedrängt die Mitglieder mit gespannter Aufmerksamkeit den Vorträgen lauschen.

Die Vortragsabende werden nach alter Sitte mit einem gemeinschaftlichen Gesange – meist eines beliebten Volksliedes – begonnen, und an den Vortrag schließt sich regelmäßig die Beantwortung und Besprechung von Fragen an. Nichts am Himmel und auf Erden bleibt von der Frage- und Forschungslust der Mitglieder unberührt. Der Spott über die vielen thörichten Fragen ist wohlfeil; faßt man aber die Gesammtheit derselben in’s Auge, so überrascht nach Carl Frenzel’s treffender Bemerkung die Theilnahme, die das Volk der Wissenschaft entgegenbringt, sein gesunder praktischer Sinn, der nicht in die metaphysische Unendlichkeit, sondern nach einer bestimmten Erkenntniß trachtet. An einzelnen Abenden finden unter der Leitung von Lehrern des Vereins Discussionen der Mitglieder über zeitgemäße gewerbliche Fragen statt; an anderen werden declamatorische Uebungen, die jetzt unter Franz Duncker’s vortrefflicher Leitung stehen, geboten.

Die Vorträge, die Fragenbeantwortung und die Besprechungen an den Vereinsabenden gewähren der Gesammtheit der Mitglieder mannigfaltigste Anregung, welche durch eine reichhaltige Bibliothek und ein Lesecabinet wesentlich unterstützt wird, in welch letzterem gegenwärtig einundsiebenzig Zeitungen und Journale, darunter viele fachlichen Inhalts, ausliegen. Der Unterricht ist dagegen dazu bestimmt, nicht der Gesammtheit der Mitglieder, sondern dem Einzelnen die Gelegenheit zu ernster Fortbildung zu bieten.

Es gilt hier, die Lücken des Schulunterrichts zu ergänzen und das, was in jahrelanger harter Arbeit an Schulkenntnissen verloren geht, zu ersetzen; es gilt, durch Unterweisung im Gesang und im Turnen geistige und leibliche Frische dem Handwerker immer rege zu erhalten; endlich ihm die Mittel zu gewerblicher Vorbildung und zur Vervollkommnung in seinem Fache zu gewähren. Nach allen diesen Richtungen hin finden seit nunmehr einundzwanzig bis zweiundzwanzig Jahren ununterbrochen Unterrichtscurse im Verein statt, an denen sich regelmäßig eine sehr große Zahl von Schülern betheiligen. Der Unterricht erstreckt sich auf Rechnen, Schönschreiben, Lesen, Rechtschreiben, Geschäftsaufsätze und Stilübungen, Briefstil, Geometrie, Vaterlandskunde, Geographie, Geschichte. Besondere Curse sind für doppelte Buchführung, französische und englische Sprache, Gesang, Bau- und Maschinenzeichnen, Turnen, Literatur und deutschen Aufsatz, kaufmännisches Rechnen, einfache Buchführung und Wechselkunde eingerichtet worden.

Dieser Unterricht wird grundsätzlich gegen Entgelt ertheilt, und die Beiträge der Lernenden fließen zur Vereinscasse, aus welcher die Lehrer besoldet und die sonstigen Kosten des Unterrichts bestritten werden. Die Honorare sind indeß sehr mäßig und decken den erforderlichen Aufwand nicht. Der von der Vereisscasse geleistete jährliche Zuschuß für den Unterricht hat seit einer Reihe von Jahren eine Erhöhung erfahren durch eine Unterstützung von 1000 Mark, welche der Magistrat, und von 500 Mark, welche der Unterrichtsminister gewährt.

Der lebhafte Wunsch der Mitglieder nach tüchtiger fachlicher Ausbildung hat ferner im Jahre 1865 zur Errichtung einer besonderen Schule für Bauhandwerker geführt. Unter Leitung von Architekten, welche der Lehrerschaft angehören, gewährt die Baugewerkschule den jungen Bauhandwerkern des Vereins die nöthige theoretische Fachbildung, sodaß sie sich in der Praxis mit Vortheil bewegen können und auch die Meisterprüfung zu bestehen im Stande sind. Die außerordentliche Vortrefflichkeit dieses Instituts, das von einem besonderen Curatorium geleitet wird, ist von den Staatsbehörden dadurch anerkannt worden, daß der Unterrichtsminister demselben eine Beihülfe von 3000 Mark für die allgemeinen Kosten und von 1000 Mark zur Beschaffung von Lehrmitteln alljährlich gewährt hat. Auch durch den gemeinschaftlichen Besuch großer gewerblicher Etablissements und Kunstsammlungen wird auf die allgemeine und die gewerbliche Bildung der Mitglieder fördernd eingewirkt.

Die Vergnügungen des Handwerkervereins ordnen sich zwanglos der allgemeinen Aufgabe unter und werden zu einem Hebel sittlicher Förderung, körperlicher und geistiger Gesundheit.

Gar häufig werden den Mitgliedern die herrlichsten Kunstgenüsse geboten und die gefeiertsten Künstler scheuen sich nicht, ihre Kunst im Saale des Handwerkervereins vor einem dankbaren Publicum zur Geltung zu bringen. Unter Leitung des königlichen Domsängers Herrn Knorre wird auch an einem der wöchentlichen Vortragsabende einstimmiger Volksgesang geübt.

Wir könnten unsere Darstellung der Mittel, durch welche der Verein seinen idealen und zugleich im eminenten Sinn praktischen [431] Zweck zu erreichen strebt, noch viel weiter ausdehnen, ohne erschöpfend zu sein, da der Verein nicht still steht, sondern sich immer weiter entwickelt. Wir fügen nur noch hinzu, daß die Mitgliedschaft des Berliner Handwerkervereins jedem unbescholtenen Manne freisteht, welcher das siebenzehnte Lebensjahr vollendet hat und einen monatlichen Beitrag von dreißig Pfennig zahlt.

Die großen politischen Ereignisse des letzten Jahrzehnts, die Entwickelung des politischen Vereinswesens insbesondere, haben leider in den letzten Jahren nicht unerheblich dazu beigetragen, einen Rückgang in der Mitgliederzahl unseres Vereins, die gegenwärtig indeß immerhin noch 1500 bis 2000 betragen mag, herbeizuführen.

Es ist indeß zu erwarten, daß, wenn erst die politische Krisis, in welcher sich unser Vaterland gegenwärtig befindet, überwunden sein wird, wenn die Tage der ruhigen stetigen Entwickelung unseres staatlichen Lebens zurückgekehrt sein werden, auch der Handwerkerverein wieder in umfassenderer Weise sein wird, was er stets gewesen: eine Volksakademie für jeden aufstrebenden Gewerbetreibenden, Handwerker und Arbeiter, für jeden Mann aus dem Volke, der im Verkehr mit gleichgesinnten Genossen seinen Gesichtskreis zu erweitern und unter der Anleitung von Gelehrten und Künstlern sowohl allgemeine wie auch gewerbliche Bildung zu erlangen strebt.
Heinrich Steinitz.     




Der „ewige Friede“ – ein Menschheitsideal.

„Ein furchtbar wildes Schreckniß ist der Krieg,“ ruft der Dichter, und doch hat dieses Schreckniß bestanden, so lange Menschen und Völker bei einander wohnen. Schon für den Einzelnen weckt der Eingriff in die Sphäre seines Ich den Trieb zum Widerstande, und so entstand nach der biblischen Legende schon in der zweiten Generation des Menschengeschlechts das furchtbare Verbrechen des Brudermordes. Als sich die Ichsphäre des Einzelnen dann erweitert hatte zu dem Begriffe des Volkes und der Nation, entstand in dem Kampfe des einen geschlossenen Ganzen gegen das andere der Krieg. Den Drang nach Erweiterung der Grenzen von Besitz und Macht, also den Krieg, löst andererseits wieder der Drang nach Erhaltung des Gewonnenen ab – und das bedeutet den Frieden. Dieser Sehnsuchtsdrang nach Frieden geht durch die ganze Geschichte der Menschheit hindurch. Je älter sie wird, desto stärker wird dieser Drang, genau wie im Leben des Menschen. Er wird in einem Volke um so anhaltender und mächtiger, je mehr dasselbe culturell sich entwickelte und je mehr alsdann durch einen Krieg die geistigen und materiellen Güter auf’s Spiel gesetzt werden. Seit Langem schon geloben sich daher die kriegführenden Parteien in ihren urkundlichen Friedensschlüssen „ewigen Frieden“ – aber hinter den Pactirenden steht mit ironischem Spotte der Mephisto der Weltgeschichte und lächelt über das papierne Gelöbniß, das noch Niemand gehalten hat.

Aber alle Mißerfolge haben den Ruf nach einem dauernden ewigen Frieden nicht zum Schweigen gebracht. Gerade in unserem Jahrhundert ist er lauter und tönender erklungen als je, nachdem ihm der große Weise in Königsberg, Immanuel Kant, einen maßgebenden Ausdruck verliehen. Kant hat mit seiner Schrift über den „Ewigen Frieden“ zuerst die Gewalt der „öffentlichen Meinung“ auf den zur Lösung der großen Frage geöffneten Kampfplatz geführt. Vordem fehlte es auch nicht an Versuchen, das Problem zu lösen, aber diese Lösungen basirten alle auf der äußeren politischen Macht, auch erwies sich das als die größte Garantie, aber da alle Machtverhältnisse immerfort etwas Schwankendes haben und der Zeit unterworfen sind, so blieb diese Garantie stets eine unsichere, abgesehen davon, daß dieses Recht des Stärkeren vielfach in die Lage kam, sich den Frieden erst durch den Krieg zu erzwingen. Hielten daher auch große politische Weltreiche, wie das römische, den Krieg im Innern von sich ab, so tobte er meist um so heftiger an den beständig bedrohten Außengrenzen.

Aber schon bei der späteren Nachgründung der römischen Weltherrschaft durch die deutschen Kaiser spielte neben dem Kriege draußen in Wälschland und dem Morgenlande beständig der kleine Krieg im Innern, und man hatte Noth, wenigstens in den der Kirche geweihten Zeiten den „Gottesfrieden“ aufrecht zu erhalten. Schoß dieses Fehdewesen einmal zu stark in die Blüthen, so streckte der Kaiser dräuend seine Hand aus und gebot den „Landfrieden“. Hier hatte alle Fehde auch gesetzmäßig ein Ende – „für ewige Zeiten“ lautete das Gebot, in Wahrheit aber nur bis dahin, wo eine Erneuerung des Gebots dringend wieder nothwendig wurde. Eines der wichtigsten dieser kaiserlichen Friedensinstrumente war der auf dem Reichstage zu Worms durch Kaiser Maximilian den Ersten im Jahre 1495 ausgebrachte ewige Landfriede. Hier hatte der Begriff des ewigen Friedens bereits eine urkundliche Fassung erhalten.

Eine weitere Ausdehnung erhielt derselbe im Kopfe des durch seine Toleranz- und Humanitätsideen ausgezeichneten Königs Heinrich des Vierten von Frankreich. Er drängte in ihm nach Verwirklichung, und Heinrich fand dieselbe in der Form eines christlichen Staatenbundes, der alle europäischen Staaten mit Ausnahme Rußlands und der Türkei umschließen sollte, nachdem zu diesem Zwecke die einzelnen Territorien eine entsprechende annähernd gleichmäßige Abrundung erfahren hatten.

Dabei sollte freilich Frankreich nicht blos am besten wegkommen, sondern auch die Führerschaft im Bunde erhalten. Heinrich dachte allen Ernstes daran, die abenteuerliche Idee zu verwirklichen. Ein zwischen Protestanten und Katholiken über die Erbfolge in Cleve ausgebrochener Streit sollte ihm zunächst die Gelegenheit geben, zu Gunsten der Ersteren zu interveniren und damit den Anfang für weitere Thaten zu gewinnen, und schon waren alle Zurüstungen fertig, als der mörderische Dolch des Jesuiten Ravaillac den königlichen Urheber des kühnen Plans und damit diesen selbst vernichtete.

Auch der große Heros des Krieges, Napoleon der Erste, bezeichnete gern als Ausgang seiner kriegerischen Thaten die Gründung eines allmächtigen Friedensreichs. Das Reich Karl’s des Großen sollte unter seinen blutigen Händen wieder erstehen und durch den Hochdruck seiner Macht die kriegerischen Leidenschaften der Völker fortan in Fesseln legen.

Eine weitere politische Kundgebung der Idee des ewigen Weltfriedens war die Gründung der „Heiligen Allianz“. Nach den langen, schweren Kriegsjahren machte sich das Friedensbedürfniß mächtiger als je fühlbar, und unter diesem Gefühle schlossen die kriegsverbündeten Herrscher von Oesterreich, Preußen und Rußland jenen ganz auf mystischer, frommer Grundlage auferbauten Dreibund. In der Vertragsurkunde vom 26. December 1815 erklärten die Verbündeten, „sowohl in der Verwaltung ihrer Staaten, wie in den politischen Verhältnissen mit jeder anderen Regierung blos die Vorschriften jener heiligen (das heißt christlichen) Religion zur Richtschnur zu nehmen, nämlich die Vorschrift der Gerechtigkeit, der christlichen Liebe und des Friedens“. Sie luden auch alle anderen Mächte, welche von der gleichen Einsicht getragen würden, „daß die christlichen Wahrheiten künftig auf die menschlichen Schicksale gehörig Einfluß haben würden“, zur Theilnahme an dem Bunde ein. Nur den Papst und die Pforte hatte man von vornherein ausgeschlossen, während der König von England den Beitritt unter Berufung auf seine verfassungsmäßige Unselbstständigkeit ablehnte.

Die Aufnahme des seltsamen Actenstückes im Volke war eine sehr gemischte. Man muthmaßte vielfach, daß es dabei weit weniger darauf ankam, Frieden unter den Völkern zu stiften, als gewisse liberale Regungen zu unterdrücken, und ging in dieser Vermuthung auch nicht fehl.

Als ein weiterer Versuch, im Wege der Machtstellung den Frieden dauernd herbeizuführen, hat die Gründung des durch die fünf Großmächte im Lothe gehaltenen europäischen Gleichgewichts zu gelten, das sehr bald an der eigenen gegenseitigen Eifersucht zu Grunde ging.

Eine der hauptsächlichsten äußeren Friedensgarantien ist – so sehr auch die Sache sich selbst widerspricht – die gegenseitige Kriegsbereitschaft der Völker, die auf dem alten Grundsätze beruht: „si vis pacem, para bellum“ („Willst du den Frieden, so rüste zum Kriege“)! Aber, gerade dieser „gerüstete Friede“, der dem Wohlstande der Länder oft härtere Wunden schlägt, als die Kriege, hat die Sehnsucht nach dem „Ewigen Frieden“ nur immer lebhafter angefacht.

[432] Neben diesen Bestrebungen auf dem Gebiete der praktischen Politik war auch die theoretische Behandlung des Themas einhergegangen. Die Literatur hatte sich des Stoffes bereits vielfach bemächtigt. Die erste schriftliche Bearbeitung fällt einem Franzosen, dem Abbé de Saint Pierre, zu. Seine im Jahre 1713 erschienene Broschüre: „Project de Paix perpetuelle entre les potentas de l’Europe“ („Plan eines ewigen Friedens unter den Herrschern Europas“) erregte sensationelles Aufsehen und wurde in alle europäischen Sprachen übersetzt. Saint Pierre gründete die Herstellung des ewigen Friedens einfach auf das Einverständnis der europäischen Höfe und Cabinete.

Nach dieser Ertheilung des literarischen Bürgerrechts kam der Gedanke wiederholt und in der verschiedensten Weise zum Ausdruck, so in den Schriften Rousseau’s und später durch Herder in dessen Briefen zur Beförderung der Humanität.

Am epochemachendsten und ihre Folgerungen bis weit hinein in die Gegenwart tragend war aber die bereits erwähnte Abhandlung Kant’s: „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf.“ Das Jahr der Entstehung der Schrift (1795) fällt mit dem des Baseler Friedens zusammen und macht die Annahme nicht unwahrscheinlich, daß dieser Friedensschluß, einer der traurigsten unter denen, welche die deutsche Geschichte zu verzeichnen hat, dem greisen Philosophen die Veranlassung gab, die tiefgehende Frage näher zu erörtern. Nach diesem Friedensschlusse zwischen Preußen und dem republikanischen Frankreich blieb das linke Rheinufer im Besitze der siegreichen französischen Feldherren, und ein geheimer Artikel nahm bereits die förmliche Abtretung in Aussicht. Er zerriß durch das einseitige Vorgehen Preußens Deutschland in zwei Hälften; das Reich als solches war factisch aus einander gefallen, noch ehe der Friede von Luneville seine Auflösung formell sanctionirte, und dieser Friede, sagte man sich allgemein, war nur die Etappenstation für neue Kriege. Der Kantische Entwurf ging aus der allgemeinen, weltschmerzlichen Stimmung hervor, die sich schon in der ironisirenden Vorrede aussprach, mit welcher der große Denker die Schrift einleitete, und in der Art, wie er das Ganze in das Gewand eines Friedensinstrumentes mit seinen Präliminär-, Definitiv- und Zusatzartikeln einkleidete.

Als erstes Bedingniß für die Erreichung des angestrebten Zweckes stellt Kant die Nothwendigkeit auf, daß alle Staaten eine republikanische Verfassung haben. Darunter versteht er nicht Republiken im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern Staaten mit repräsentativer Verfassung, also auch constitutionelle Monarchien im heutigen Sinne.

„Wenn,“ schreibt er, „die Beistimmung der Staatsbürger dazu erforderlich wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle oder nicht, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssen, sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.“

Als die zweite Voraussetzung galt Kant der Zusammentritt dieser freien Staaten zu einem Völkerbunde. Die Staaten pflegen ihr Recht nicht im Wege des Processes, sondern im Wege des Krieges zu verfolgen, durch den dem Kriege folgenden Frieden wird aber das Recht nicht entschieden, da ja jeder der Entscheidenden Richter in eigener Sache ist; es werde hierdurch zwar dem Kriege, aber nicht dem Kriegszustande ein Ende bereitet, gleichwohl aber wird von der im Staate herrschenden, moralischen, gesetzgebenden Gewalt der Krieg verdammt und der Friede zur Pflicht gemacht; folglich, sagt Kant, muß an die Stelle des bloßen Friedensvertrages der Friedensbund treten, der nicht blos den einen, sondern jeden Krieg zu beenden strebt. Die Ausführbarkeit dieser Idee scheint dem Philosophen vollkommen sicher. Er führt die logische Gedankenreihe in folgender Weise weiter: so gut wie der einzelne Staat zu seinen Gliedern sagt, es soll unter uns kein Krieg sein, müsse er auch sagen können, es soll kein Krieg zwischen mir und andern Staaten sein, obgleich ich keine oberste gesetzgebende Gewalt anerkenne, die mir Richter ist oder der ich Richter bin. Es soll, nach Kant, dieser Gedanke verwirklicht werden, indem an die Stelle dieser zwingenden richterlichen Gewalt der bürgerliche Gesellschaftsbund, der freie Föderalismus tritt, den die Vernunft schon mit dem Begriffe des Völkerrechts nothwendig verbinden müsse.

Richtiger, meint er, würde freilich die Vereinigung aller Nationen in einem Staate, die Gründung einer Weltrepublik, die nach und nach die ganze Erde umfaßte, die Frage lösen. Eine solche Ordnung der Dinge werde aber von den um ihre Selbstständigkeit besorgten Staaten verworfen. Folglich habe der Völlerbund dafür einzutreten.

Ferner verlangt Kant, daß jeder Fremdling das Recht besitze, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern Staates wegen nicht feindselig behandelt zu werden; dieses Recht würde im Gegensatze zu dem gewöhnlichen Staatsbürgerrecht das Weltbürgerrecht bilden.

Wenn nun aber, rechnet Kant weiter, die Gemeinschaft unter den Völkern einmal so weit vorgeschritten sein wird, daß die Rechtsverletzung an einem Platze der Erde an allen gefühlt wird, dann wird die Idee eines Weltbürgerrechts als eine nothwendige Ergänzung zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt aufgefaßt werden müssen und wird auch die allgemeinste Anerkennung dieses Rechtes fördern helfen. Durch den Sieg derartiger aufklärender und veredelnder Ideen wird aber der Menschheit der Weg zur Erreichung des ewigen Friedens geebnet.

Aber wo ist die Gewähr für die Erreichung und Erhaltung dieses Endzustandes zu suchen?

Diese Gewähr, antwortet Kant, leistet keine Geringere als die große Künstlerin Natur. Aus dem mechanischen Laufe der Natur leuchtet überall Zweckmäßigkeit hervor. Sie will unwiderstehlich, daß das Recht zuletzt die Obergewalt erhalte, und wenn auch die Natur auf der einen Seite die Absonderung der Völker begünstigt und durch die Verschiedenheit der Sprache und Religion unterhält, so werden die Völker doch bei anwachsender Cultur und der allmählichen Annäherung der Menschen zu einem Einverständnisse in ihren Grundsätzen gelangen, welches nicht durch die gegenseitige Schwächung, sondern durch das Gleichgewicht der Kräfte den Zustand eines ewigen Friedens herbeiführt. Ja, sogar der scheinbar größte Feind alles Friedlichen, der menschliche Egoismus, wird zuletzt zum besten Förderer des jenen glücklichen Zustand sichernden Weltbürgerthums. Er weckt insbesondere unter den Völkern den Handelsgeist, welcher des Friedens bedarf.

In einem Anhange zu seiner Abhandlung sucht sich Kant seinem Ziele noch auf rein philosophischem. Wege zu nähern, und beschließt also seine Folgerungen: „Besteht die gegründete Hoffnung, daß der Zustand eines öffentlichen Rechts, obgleich nur in einer in’s Unendliche fortschreitenden Annäherung, verwirklicht wird, so ist der ewige Friede, der auf die bisher fälschlich sogenannten Friedensschlüsse (eigentlich Waffenstillstände) folgt, keine leere Idee, sondern eine Aufgabe, die, nach und nach gelöst, ihrem Ziele beständig näher kommt.“

Die Kant’sche Schrift wurde zum Ausgangspunkte für alle nachherigen Kundgebungen und Bestrebungen auf dem von ihr durchforschten Gebiete. Von einzelnen Personen, wie von ganzen Corporationen wurde die Idee weiter cultivirt. In dem fünften und sechsten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts trat namentlich eine etwas abenteuerlich geartete Persönlichkeit für dieselbe in die Schranken, der amerikanische Friedensapostel Elihu Burritt. Ein „gelehrter Grobschmied“, wie ihn seine Landsleute bezeichnen, trug er in seiner schlichten Seele den Zug eines tiefen religiösen Empfindens, das sich jedoch nicht in frömmelnder Selbstbetrachtung gefiel, sondern nach der Verwirklichung humanistischer Ziele rang. Abschaffung der Sclaverei und Verbrüderung aller Völker war das große Lebensziel des kleinen Mannes. Hammer und Amboß niederlegend, durchwanderte er, die Bibel unter dem Arme und aus ihr die Beweise für seine Lehrsätze schöpfend, ein Zweiter Bernhard von Clairvaux, die Vereinigten Staaten. Und als er dort fertig war, fuhr er über den Ocean und setzte in England das Werk der Friedensbekehrung fort. Seine „Oelblätter des Friedens“, kurze, kernige Ansprachen, sandte er in alle Zeitungen der denkenden Welt, wobei ihm seine außerordentliche Sprachkenntniß zu Hülfe kam.

In England fand er besonders in dem Nationalökonomen Richard Cobden dem „Vater des Freihandels“, einen Gesinnungsgenossen. Beide regten in Verbindung mit dem Belgier Dupretiaux die Bildung der Gesellschaft der Friedensfreunde an, welche wiederholt ihre Tagessatzungen abhielt, zuerst 1848 in Brüssel, dann in Paris, Frankfurt am Main, London etc. Die lange Friedenspause schien dem dort ausgesprochenen Wunsch, daß die Staaten sich zu dem gemeinsamen Beschlusse verbinden sollten, nie mehr sich zu bekriegen, fast der Verwirklichung nahe bringen zu wollen. Cobden, ein einflußreiches Parlamentsmitglied, bekämpfte im Jahre 1853 daher die Interventionspolitik Palmerston’s zu Gunsten der Türkei auf’s Heftigste und erzielte auch glücklich ein Mißtrauensvotum

[433]

Beim Citherklang. 0Nach dem Oelgemälde von L. Blume.

[434] gegen den allmächtigen Minister, verlor aber dafür bei der nächsten Abgeordnetenwahl seinen Sitz an den Candidaten der Kriegspartei.

Eine besondere Neubelebung des Friedensgedankens wurde von dem im Herbst 1867 nach Genf ausgeschriebenen internationalen Friedenscongresse erwartet, zu dem sich politische Capacitäten aus allen Ländern eingefunden hatten, u. A. der damals noch mit unbeflecktem Lorbeer einherwandelnde Garibaldi. Aber gerade er war es, der die Resultate des Congresses mit vereiteln half, indem er denselben zu einer Demonstration gegen das Papstthum benutzte. Auch sonst wurden dort allerlei socialistische Glaubensbekenntnisse zu Markte getragen, die weit ab von dem Ziele gingen, und nur mit Mühe gelangte der Congreß zu einigen allgemeinen Beschlüssen.

Eine indirect ebenfalls auf das Ziel der Schaffung eines bleibenden Friedenszustandes hinarbeitende Schöpfung ist das im Jahre 1873 gegründete Institut für Völkerrecht (institut de droit international), als dessen Hauptbegründer der deutsche Staats- und Völkerrechtslehrer Bluntschli (vergl. „Gartenlaube“ 1881, Nr. 49) bezeichnet werden muß. Bluntschli sieht in Kant’s „Ewigem Frieden“ ein Werk, das beachtenswerthe Wahrheiten enthält, die zum Theil bereits in das Bewußtsein des Volkes übergegangen sind und sicher noch eine Zukunft haben.

Die Debatte über die Frage des ewigen Friedens ist selbst theoretisch noch lange nicht abgeschlossen. Wie sehr hier noch die Meinungen im Unklaren liegen, documentirt die eigenthümliche Thatsache, daß in dem Kopfe des großen Schlachtendenkers Graf Moltke sowohl das Für wie das Wider kurz nach einander Raum gefunden haben. Während Moltke in seinem Antwortschreiben an einen sächsischen Landmann (1880) den Krieg als ein nationales Unglück bezeichnet, und zwar selbst den siegreichen, eine Meinung, die zwar leider noch keine allgemeine sei, aber in Folge einer bessern religiösen und sittlichen Erziehung der Völker es doch in Zukunft werden könne, schreibt er ein Jahr darauf an Professor Bluntschli: „Der ewige Friede ist ein Traum und nicht einmal ein schöner Traum; der Krieg ist ein Element der von Gott eingesetzten Weltordnung – ohne den Krieg, würde die Welt versumpfen.“

Als neuester Friedensapostel ist seltsamer Weise ein Maler aufgetreten, der Russe Wereschagin, dessen malerische Verkörperung der Kriegsgräuel die Tendenz verfolgt, den Krieg im Wege der Abschreckung zu beseitigen. Seine berüchtigte Pyramide menschlicher Schädel widmet er mit schneidiger Ironie allen Siegern der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.

Und trotz aller dieser Demonstrationen ist der Krieg gerade in den letzten Jahrzehnten wieder der Hauptgegenstand der weltgeschichtlichen Tagesordnung gewesen. Hat da der Friede wohl je auf einen Permanenzzustand zu hoffen? Bleibt der „Ewige Friede“ nicht doch zuletzt ein schöner Traum, dessen Verwirklichung zwar der Logik der Philosophie, nie aber der Logik der Thatsachen unterfällt? Muß die Menschheit den Fluch Kain’s ewig mit sich herumtragen? Soll es ihr nie vergönnt sein, sich der errungenen Güter des Friedens dauernd zu erfreuen?

Die Entwickelung der Menschheit weist auf einen langsamen, aber beständigen Fortschritt in intellectueller und sittlicher Hinsicht hin. Am Ende ihrer Entwickelung muß der Friede, der ruhige Genuß des Errungenen stehen – nicht der Krieg; denn er kann wohl Mittel, niemals aber Zweck sein. Es giebt kein Ideal des Kriegs; es giebt nur ein Ideal des Friedens. Diesem Ideale, das zugleich mit dem höchsten Entwickelungsziele der Menschheit zusammenfällt, nähern wir uns immer mehr und nicht zuletzt erst durch das Mittel des Kriegs, dessen reinigende und veredelnde Wirkung zugestanden werden soll.

Mit der wachsenden Selbstständigkeit und Besonnenheit der alternden Menschheit werden auch der Kriege immer weniger werden; denn die Menschheit bedarf ihrer nicht mehr. Bis dahin aber muß ihr Trachten dahin gehen, die bittere Arznei des Krieges nur in seltenen schweren Fällen anzuwenden, die Leiden zu mildern, die Wunden zu heilen, die Schäden zu bessern und das der Wahrheit, dem Guten und der Freiheit Gerettete und Errungene sich zu erhalten und für ihre weitere Entwickelung fruchtbringend zu machen.

Fr. Helbig.     




Wie das Schweizervolk tagt.

Die Landsgemeinde von Uri.

 „Wohlan, so sei der Ring sogleich gebildet!
 Man pflanze auf die Schwerter der Gewalt!
 Der Landesammann nehme seinen Platz,
 Und seine Waibel stehen ihm zur Seite!“
  Schiller.

Es war ein bewölkter, aber nicht unangenehmer Tag, an dem wir diesmal das Ländchen Uri betraten. Etwas wie eine feierliche Feststimmung lag auf der Gegend und auf den Leuten. Der See war ruhig und spiegelglatt, und die Berge schauten ernst hernieder, da der blaue Himmel über ihnen nicht lachen, die Sonne ihre Spitzen nicht vergolden wollte. Die Landleute erschienen überall in ihren Sonntagskleidern, meist einer Art kurzer nur bis zu den Hüften reichender Blousen von verschiedenen Farben. Erreichte man aber den nur eine halbe Stunde von Flüelen, dem Landungsplatze am Vierwaldstättersee, gelegenen Hauptort des Cantons, das aus der Tell-Sage weltbekannte Altdorf, so zeigte sich moderne Kleidung.

Der schmucke Flecken ist städtisch gebaut, und die Patrizierhäuser mit ihren hohen Giebeln, verzierten Parterrefenstern und wappengeschmückten Thoren bieten einen charakteristischen Anblick dar, ja imponiren zum Theil, namentlich da nicht selten hübsche Lockenköpfchen mit feurigen Augen aus ihnen herauslugen. Bei den Damen waltet hier, wie in Graubünden, eine gewisse, fast italienische Lebhaftigkeit vor, als ob die Straße nach Italien, die man hinwandelt, ihren Einfluß ausübe; die Männer dagegen sind mehr von deutscher Ruhe und nordischem Ernst. Die restaurirte kolossale Tell-Statue mit lebendigem Ausdruck in der ganzen Figur, an deren Sockel Schiller’s Worte stehen:

  „Wohlan, o Herr!’
Weil Ihr mich meines Lebens habt gesichert –
So will ich Euch die Wahrheit gründlich sagen.
Mit diesem zweiten Pfeil durchschoß ich – Euch,
Wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte,
Und Eurer – wahrlich, hätt’ ich nicht gefehlt.“

– diese Tell-Statue zeugt von der Pietät, mit welcher Uri fortwährend an der Tell-Geschichte hängt, deren Wahrheit dort zu bezweifeln nicht ganz rathsam wäre. Verbrennt auch nicht mehr, wie es vor hundert Jahren geschah, der Henker ein Buch, das die Rechte der historischen Kritik vertritt (wenn dies auch heute mit mehr Gründlichkeit und Erfolg geschieht, als damals), so wird doch jener romantisch ausgeschmückten Ueberlieferung in allen Cantonen der Schweiz immer lebhaftere Theilnahme gezollt.

Gerade seitdem die Wissenschaft die Existenz Tell’s in Zweifel gezogen hat, ist nicht nur jene Statue in Altdorf neu errichtet, sondern ist auch das Rütli vom Bunde angekauft und ausgeschmückt worden, seit jener Zeit ist die Tell-Capelle auf der Tell-Platte neu gebaut worden, und der Maler Stückelberger arbeitet noch fortwährend an den prächtigen Fresken in ihrem Innern.

Gegenüber der kräftig realistischen Tell-Gestalt mit dem emporgehobenen Pfeil nimmt sich an dem alten Thurm auf dem Hauptplatze Altdorfs das verschnörkelte Rococo-Gemälde vom Apfelschuß seltsam aus. Um diesen Thurm aber entwickelt sich jetzt reges Leben. Die freien Landleute von Uri sind von allen Seiten herbei geströmt, ihre Bürgerpflicht zu erfüllen, und sammeln sich auf dem Platze des Hauptortes, in Menge aber stärken sie sich noch in den umliegenden, zahlreichen Wirthshäusern mit Speise und Trank auf das bevorstehende Werk der Ausübung ihres uralten Souverainetätsrechtes. Auch Frauen und Kinder haben sich aus dem Canton mit ihren Gatten und Vätern eingefunden; denn die „Landsgemeinde“ ist, wie überall, ein Volksfest.

Jetzt, um halb elf Uhr, wird es Ernst. Ein Peloton Infanterie mit der alten Urnerfahne, dem schwarzen Stierkopf in gelbem Felde, die vielleicht manche Schlacht mitgemacht, zieht unter Musik auf, voran zwei Männer in mittelalterlicher schwarz-gelber Tracht, mit mächtigen Harsthörnern auf den Schultern, und stellt sich vor dem Rathhause, an dessen Thor die stolzen Goldlettern S. P. Q. U. (Rath und Volk von Uri) prangen, in Reih’ [435] und Glied auf. Bald erscheint, vom Fahnenmarsch begrüßt und mit geschultertem Gewehr empfangen, der Landammann von Uri, Herr Muheim, gefolgt von zwei Waibeln in den alterthümlichen, rechts gelben und links schwarzen Mänteln und Dreispitze mit schwarz-gelben Cocarden auf den Häuptern; er begiebt sich in das Rathhaus. Auch die übrigen Regierungsmitglieder folgen nach und nach, meist stattliche Herren von militärischem Typus, Alle in schwarzer Kleidung. Nach einiger Zeit erscheinen sie wieder und nehmen in den bereit stehenden Kutschen Platz, auf den Vordersitzen die Waibel. Das Militär setzt sich unter Hörnerklang und Trommelwirbel in Bewegung; die Kutschen folgen; die Volksmenge drängt hinterdrein, und hinaus geht es auf der staubigen Gotthardstraße über den wild schäumenden, brausenden Schächenbach nach dem Landsgemeindeplatz in Bözlingen, eine halbe Stunde südlich von Altdorf.

Diesen Platz muß ein landschafterisches Genie zum Tagen der Landsgemeinde ausgewählt haben; denn eine herrlichere Scenerie läßt sich kaum denken: Eine saftig-grünte Wiese seitwärts von der Straße, die sich amphitheatralisch aus der Thalsohle allmählich erhebt, dahinter eine mächtige Felswand von rothem Granit, gekrönt von dunklem Tannenwald und hinter diesem die schneegekrönten Häupter der Windgälle. Gegenüber aber, auf der andern Thalsohle, erschließt sich uns ein nicht minder harmonisches Bild: In der Mitte ein abgerundeter grüner Berg, der Gaißberg, an dem Wiesen, Wälder und Sennhütten malerisch abwechseln bis hoch hinauf, und hinter seinen beiden Flanken, beinahe symmetrisch, die riesigen Berggipfel des Uri-Rothstocks und des Spannortes, stark mit ewigem Schnee bedeckt; endlich im Hintergrunde, die beiden Thalseiten scheinbar verbindend, die sich buchstäblich in die Wolken verlierende zackige Gipfelgruppe des Bristenstockes.

In der Mitte dieser wundervollen Bergwelt nun, im ebenen Theile der Wiese, aber nahe am Berghange, ist aus rohen Brettern, die über Pflöcke gelegt sind, eine Art Circus von etwa dreißig Fuß Durchmesser mit nach außen sich erhöhenden Sitz- oder Stellplätzen errichtet. Im Mittelpunkte steht ein einfacher grünbedeckter kleiner Tisch, an dem nach Ankunft des Zuges der Landammann und der Landschreiber, ein im Dienste des Landes ergrauter Mann der Feder, auf Stühlen Platz nehmen; sie breiten die amtlichen Vorlagen, Protokolle etc. darauf aus.

Alsdann legt ein Waibel das Schwert, das die Macht des Landes über Leben und Tod bedeutet, auf den Tisch. Aus der vordersten Bank des „Ringes“, links vom Landammann, nehmen die Regierungsglieder, rechts aber die Geistlichen Platz, unter ihnen zwei Kapuziner in ihren braunen Kutten und langen Bärten, vom Volke besonders ehrfurchtsvoll begrüßt. Auf dem äußersten Rande des „Ringes“ sitzen, Alles überblickend, die sieben schwarzgelben Waibel, deren Erster, der Landwaibel, sich nun erhebt und in hochdeutscher Sprache die Formel spricht:

„Was Cantons- und Landräthe, stimmfähige Landsleute und gesetzlich niedergelassene Schweizerbürger sind, die sollen in den ‚Ring‘ treten; was aber nicht Cantons- und Landräthe, stimmfähige Landsleute und gesetzlich niedergelassene Schweizerbürger sind, die sollen vom ‚Ring‘ weggehen.“

Nachdem so die Spreu von den Körnern geschieden, erhebt sich unter allgemeiner Stille der Landammann und hält nicht hochdeutsch, wie der Landwaibel, sondern im reinsten Urnerdialekt eine Eröffnungsrede an seine „getrye liebe Landslyt“, die sehr gewandt und durchdacht, aber völlig von ultramontanem Geiste erfüllt ist.

Er wolle, sagte Herr Muheim, indem er sich abwechselnd bald nach dieser, bald nach jener Seite des „Ringes“ wandte, nicht die andersgläubigen Mitbürger als Ketzer den Katholiken entgegensetzen, aber es geschehen Dinge namentlich in „Frankrych“ und „Dytschland“, daß darob jedes katholische Herz bluten müsse; der Kampf gegen diese Unterdrückung der Kirche sei ein schwerer, aber mit Beruhigung dürfen die Katholiken die Führung in diesem Kampfe dem „großen Papste Leo“ überlasten. Zum Schlusse seiner Rede forderte der Landammann die Anwesenden, deren siebenhundert bis achthundert sein mochten, zu einem Gebete für die glückliche Abwickelung der Landsgemeindegeschäfte auf, bestehend in fünf Vaterunsern und Ave-Maria; das Gebet wurde mit abgenommener Kopfbedeckung still verrichtet; dann nahm man die Geschäfte vor. So oft, was diesmal häufig vorkam, während der Verhandlungen Sonnenschein oder Regenschauer eintrat, kamen zwei dienstwillige Landsleute aus dem „Ring“ hervor und hielten Schirme über die Häupter des Landammanns und des Landschreibers. Unter dem Volke aber herrschte lebhafte Bewegung; der äußere Rand des „Ringes“ war ungeachtet der Verkündigung des Landwaibels ein beständiger Schauplatz des Auf- und Abkletterns von Landsleuten nicht nur, sondern auch von Fremden, ja von Frauen, Mädchen und Jungen jeden Alters. Auf und an dem nächsten, von einer Capelle malerisch gekrönten Hügel, der eine treffliche Aussicht über die Landsgemeinde darbot, waren zahlreiche Zuschauer bunt hingelagert, und am Eingange der Wiese nach der Straße hin strömte es beständig aus und ein; denn es herrschte dort bei den zahlreichen improvisirten Verkaufsstellen reger Verkehr mit Brod, Confect und mannigfachen Lebensmitteln.

Und nun die Geschäfte der Landsgemeinde? Ja, die sind in der Regel ohne Interesse für Fernerstehende. Doch handelte es sich gerade dieses Jahr um einen nicht uninteressanten Gegenstand: Bis dahin gab es im Canton Uri keine amtliche Armenunterstützung, weder von Seite des Staates, noch der Gemeinde, sondern die Bedürftigen mußten von ihren Verwandten bis in den Grad der Geschwisterkinder hinaus unterstützt werden, was man Verwandtschafts- oder Armensteuer (urnerisch: Armestyr) nannte. Seit Jahrhunderten müssen in Uri Anträge an die Landsgemeinde von einem „Siebengeschlecht“, das heißt von Männern aus mindestens sieben Geschlechtern (Familien) ausgehen. Ein „Siebengeschlecht“ beantragte Beschränkung der Verwandtschaftssteuer auf die auf- und absteigende Linie und Schaffung eines Gemeindebürgerrechtes zum Zwecke der Armenunterstützung durch die Gemeinden. Die bisherige Einrichtung war sowohl für die Armen wie für deren nicht begüterte Verwandte von großen Nachtheilen und oft sogar von hartem Drucke begleitet gewesen. Ein anderes „Siebengeschlecht“ hatte dagegen den Vorschlag ungenügend befunden und wollte radicaler verfahren, indem es auf völlige Abschaffung aller Unterstützungspflicht der Verwandten antrug.

Die Mitglieder beider Siebengeschlechter mußten in das Innere des Ringes treten, und für jeden der beiden Anträge sprach ein Redner mit vieler Gewandtheit. Nachdem noch weitere „Landsleute“ für und gegen beide Anträge gesprochen, und zwar oft mit ziemlicher Derbheit, wurde, wie in der Schweiz bei allen offenen (nicht schriftlichen) Abstimmungen gebräuchlich ist, durch Aufheben der Hand abgestimmt. Der Antrag des ersten „Siebengeschlechtes“ erhielt die Mehrheit, und die Regierung wird nun nächstes Jahr eine bezügliche Vorlage an die Landsgemeinde zu bringen haben.

Unter den übrigen Verhandlungen war von einigem und zwar humoristischem Interesse nur das Gesuch eines seit zwanzig Jahren in Altdorf lebenden badischen Schneiders um das urnerische Cantonsbürgerrecht. Um ihm dies zu einem billigen Preise zu erwirken, wies sein Anwalt darauf hin, daß der Petent, seinem Berufe gemäß, kein Großvieh, sondern blos Ziegen halte und daher die Einkünfte der Allmeinde (Gemeinweide) nicht stark schmälern werde. Der Ziegen haltende Schneider mußte sich aus dem Ringe entfernen, während über ihn abgestimmt wurde, und draußen stehen wie Heinrich der Vierte in Canossa; seine Aufnahme erfolgte aber ohne Anstand, und er trat als richtiger Urner wieder in den Ring zurück.

Nach den eigentlichen Verhandlungen kamen die Wahlen an die Reihe. Herr Landammann Muheim erklärte mit Entschiedenheit, von seiner hohen Stelle zurücktreten zu wollen und nach vielem seiner Amtsführung gespendeten Lobe wurde ihm endlich entsprochen und der Landesstatthalter Karl Müller („Korli Müller“ bezeichnete ihn mir mein Nachbar) an seine Stelle gewählt, die er denn auch sogleich, von Collegen und Geistlichen warm beglückwünscht, am Tische einnahm, während Herr Muheim sich in den Ring begab.

Bei jeder folgenden Wahl wurden lange Reden, bald Empfehlungen, bald Ablehnungen bezweckend, gehalten, besonders lebhafte aber bei der Wahl der Ständeräthe (Vertreter des Cantons als solcher in der schweizerischen Bundesversammlung); an betonte mit heftigen Ausfällen gegen die liberale Mehrheit der schweizerischen Räthe die Nothwendigkeit, daß Uri durch conservativ-katholische Männer in Bern vertreten werde.

Nach fünfthalbstündiger Dauer würde die Landsgemeinde ohne weitere Förmlichkeit geschlossen. Schon vorher waren die Bänke des Ringes stark gelichtet, namentlich hatte sich die Geistlichkeit schon frühe entfernt; nun brach auch der schwache Rest der Anwesenden auf, und der Zug setzte sich in gleicher Ordnung, wie er hergekommen, wieder nach Altdorf in Bewegung, wo sich [436] denn das souveraine Volk, nach erfüllter Pflicht, bei Tanz und Musik, bei Lieder- und Becherklang gütlich that und seine selbstgewählte Obrigkeit hoch leben ließ.

Und wie lange wird diese Eigenthümlichkeit der kleinen Cantone noch dauern?

Das ist schwer zu sagen – gewiß aber nicht ewig. Es ist eine zu große Anomalie, daß gerade in denjenigen Cantonen, in welchen nie eine gesetzlich anerkannte Aristokratie bestanden hat, ein factischer Adel den ehemaligen rechtlichen der Städte überdauert, daß gewisse Familien im Besitze der Aemter bleiben, weil deren Glieder ihres Reichthums wegen allein im Stande sind, dem Lande ohne Gehalt zu dienen; sie müßten ja keine Menschen sein, wenn sie dies blos aus Pflichtgefühl und nicht auch aus Ehrgeiz thäten. Vor Kurzem erst begann die Gotthardbahn mitten durch Uri Menschen und Güter, Vertreter einer neuen Zeit, in größerer Menge als je zuvor zu tragen, und so fest ist Uri trotz seiner Berge nicht, daß es dem Einflusse freisinniger und weltbürgerlicher Ideen auf die Dauer widerstehen könnte. Die ganze Geschichte des Menschengeschlechtes steuert – wir freuen uns dessen nicht, können es aber auch nicht bestreiten und noch weniger verhindern – in entschiedenstem Maße einer Nivellirung entgegen, und diesem Schicksale kann kein Volksstamm, er mag noch so conservativ sein, widerstehen.

O. Henne-Am-Rhyn.     


Blätter und Blüthen.

„Die ‚Gartenlaube‘ und der deutsche Lehrerstand.“ Wir freuen uns, schon heute laut aussprechen zu können, was wir bei der Veröffentlichung des Artikels mit der obigen Ueberschrift in Nr. 23 wohl glaubten denken zu dürfen: wir wissen nun, daß durchaus nicht der ganze deutsche Lehrerstand, wie allerdings die betreffenden Zeitungen behauptet hatten, sondern nur ein Bruchtheil desselben hinter jenem Angriffe gestanden. Es sind in den wenigen Tagen seit dem Erscheinen unserer Erwiderung auf die Angriffe der dort berührten Lehrer-Zeitungen so viele und so herzliche Briefe aus der Lehrerwelt, und zwar aus den verschiedensten Theilen unseres Vaterlandes, bei uns eingetroffen, daß wir nicht umhin können, schon heute dafür öffentlich unsern Dank darzubringen. Leider dürfen wir uns nicht gestatten, von diesen Einsendungen vollen öffentlichen Gebrauch zu machen, aber zu verschweigen brauchen wir ebenso wenig, daß in allen sich ernste Entrüstung über das Gebahren jener Ueberempfindlichen äußert, die als „ein Gegenstand der Verwunderung aller Vorurtheilsfreien“ bezeichnet werden. Man findet die Annahme, daß der Schulmeister im „Friedensstörer“ eine Verleumdung des deutschen Lehrerstandes und eine Schädigung der Volksbildung sei, noch weit komischer, als den Schulmeister selbst, und sagt mit würdiger Beachtung der Lage: „Gerade heutzutage, wo der Ultramontanismus so stolz das Haupt erhebt und mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln die schönen Errungenschaften auf dem Gebiete der Volksschule wieder zu vernichten sucht, ist es doppelt verwerflich, die beste und thatkräftigste Vorkämpferin auf diesem Gebiete durch nichtssagende Anschuldigungen zu verunglimpfen, und kann Solches dem Lehrerstand keine Ehre machen.“ – Und wenn wieder ein Anderer den Wunsch ausspricht: „die geehrte Redaction wolle auch fernerhin ihre so hochgeschätzten Sympathien dem deutschen Lehrerstand zuwenden“ – so haben wir darauf nichts zu erwidern als: „Es bleibt beim Alten!“ D. Red.     


Noch einmal: „Zum Jahrestage des Hambacher Festes“.[1] Bei Gelegenheit des fünfzigsten Jahrestages des Hambacher Festes sind in einem rheinischen Provinzialblatte Angriffe laut geworden gegen das Andenken eines der Hauptführer der Opposition in der baierischen Kammer und der Reformbewegung der Rheinpfalz während der Jahre 1830 bis 1832 – gegen das Andenken Friedrich Schüler’s aus Zweibrücken. Dem gegenüber fühle ich mich zu der Erklärung veranlaßt, daß Schüler’s hauptsächlichster politischer Kampfgenosse, mein Vater, Joh. G. Aug. Wirth, von Friedrich Schüler stets mit Ausdrücken der größten Hochachtung gesprochen hat, als von einem ebenso hochbegabten wie edlen Patrioten, einem Manne, an dem jeder Zoll ein Gentleman! Max Wirth.     

  1. Bekanntlich ist die Jubelfeier dieses Festes, welche noch vor zehn Jahren ungestört abgehalten werden konnte, bei nunmehr gänzlich veränderten Verhältnissen polizeilich verboten worden.




Beim Citherklang.
(Mit Abbildung Seite 433.)

Kein Saitenspiel klingt uns mit solcher Gewalt,
Wie die Cither; sie zwingt uns, ob Jung oder Alt –

Sie zwingt uns zu eitel Lustsingen und Tanz,
Ob Schnee auf dem Scheitel, ob blühender Kranz.

Ob Männlein, ob Weiblein, wenn’s Herz nur erst lacht.
So fährt in die Beine der Zauber mit Macht.

Da hat es die Jüngste schon selber erlebt,
Wie an Großvaters Arm sie im Tanze hinschwebt.

Sie schwebt, und er juchzet und donnert dazu
Auf dem Boden den Tact mit benageltem Schuh.

Ein Junger, der alt thut – verlach’ ihn der Spott!
Ein Alter in Jugendlust – den segne Gott!

 Fr. Hofmann.


Kleiner Briefkasten.

B. G. in Potsdam. Das Marketenderwesen in der deutschen Armee wurde durch das Reglement vom 7. Mai 1875 geregelt. Dasselbe stellt die Zahl der Marketender und ihrer Gehülfen für die einzelnen Truppentheile fest. Nach dem Wortlaut dieses Reglements dürfen im Kriegsfalle nur Leute des Beurlaubtenstandes, vorzugsweise aber Solche, die der Landwehr angehören, als Marketender angestellt werden. Die Marketender, denen es gestattet ist, ihre Frauen als Gehülfen mitzuführen, tragen Dienstmütze und Achselstücke ihres Truppentheils, erhalten Löhnung, Verpflegung und Ration für ihre Pferde und werden bei etwaigen von ihnen begangenen Vergehen nach den Militärstrafgesetzen abgeurtheilt.

K. v. H. in St. Petersburg. Ohne jede Angabe über Alter, Stand, Aussehen und etwaige besondere Kennzeichen ist ein Vermißter, namentlich von zwanzig Jahren her, schwerlich zu finden.

Fr. Schm., Deichstr., Hamburg. Was Sie uns zumuthen, ist die Erlassung einer Art Steckbriefs. Das ist Sache Ihrer Behörde.

A. W. in Ravensburg. Antwort auf Ihre Anfrage finden Sie in jedem guten Conversationslexicon.

M. in Str. Sie haben Recht: Es sind Sperlinge.

A. Z. in Brünn. Redactionsgeheimniß!

Elise St. in Braunschweig. Ihre „Annonce“ wurde wohl irrthümlich an „die Redaction der ,Gartenlaube‘“ gerichtet; Sie meinten wahrscheinlich die „Allgemeinen Anzeigen zur ‚Gartenlaube‘“, mit welchen die Redaction der „Gartenlaube“ nichts zu thun hat. Wenden Sie sich an die Administration derselben!



Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

An der Spitze des nächsten Quartals wird die bereits angekündigte fesselnde Erzählung

Bob Zellina von Karl Theodor Schultz

ihren Platz finden, der sich mehrere andere Novellen, so namentlich Der Kampf um die Haube von Stefanie Keyser, anschließen werden.

Aus der Zahl der demnächst erscheinenden belehrenden und unterhaltenden Artikel heben wir vorläufig hervor: Garibaldi, eine Charakteristik des großen Republikaners, von Johannes Scherr, weitere Beiträge Aus der Samariterschule von Professor Esmarch (in Kiel), Das historische Festspiel in Rothenburg ob der Tauber von Karl Braun-Wiesbaden, Der Londoner Silbermarkt von W. Hasbach, Die Magdeburger Börde, Skizzen aus der Fränkischen Schweiz, sowie die Fortsetzungen der Rubriken Bilder von der deutschen Ostseeküste, illustrirt von Robert Aßmus, und Um die Erde, mit Illustrationen von Rudolf Cronau.

Wir wiederholen bei dieser Gelegenheit, daß die Lieblings-Erzählerinnen der „Gartenlaube“

größere Beiträge unter der Feder haben.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere. Die Verlagshandlung. 


Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.