Bilder von der Ostseeküste. 2. Land und Leute in Livland
Wer aus dem deutschen Mutterlande in die fernab liegende baltische Colonie geräth, hat auf die Dauer damit zu thun, sich in dem Kunterbunt der Farbenmischung der dort wohnenden Völkerstämme zurecht zu finden. Viel Stammverwandtes heimelt ihn auf den ersten Blick an, und die Summe der unverkennbaren Familienzüge hilft ihm hinweg über manche unschöne querläufige Linie, die von Zeit zu Zeit das anmuthende Gesicht zur Fratze zu verzerren droht. Je eingehender er in der Folge Notiz nimmt von dem Dutzend heterogener Elemente, aus denen sich das baltische Leben zusammensetzt, je eifriger er dem Werdegange baltischer Cultur nachspürt – um so leichter verwindet er die unliebsamen Schrecknisse, um so ausgesprochener wächst ihm mit zunehmendem Verständniß auch der Geschmack an der Eigenart landesüblicher Lebensweise.
Die wechselvollen Geschicke der Ostsee-Provinzen, welche dem Heimbürtigen ein interessantes Capitel europäischer Universalgeschichte sind, weisen zu wenig großartige, bedeutende Züge auf, als daß sie, gegenüber erhebenderen Episoden, dem Fernerstehenden nicht wie in Nebel zerrinnen sollten. Nicht darauf einzugehen, nur auf sie hinzuweisen gestattet mir der Raum dieser flüchtigen Skizze. Die Geschichte der baltischen Provinzen erklärt einmal das bunte Gemisch, dann auch das bescheidene Niveau colonialer Culturentwickelung. So folgten hier in bunter Reihenfolge auf einander: Zank und Hader zwischen Episcopat und Orden, blutige [831] Aufstände der Letten und Esthen, der „Undeutschen“, die nach jeder Erhebung um so tiefer in die Knechtschaft sanken, Kriegsstürme, verheerende Invasionen zu allen Zeiten und von allen Seiten her, von Litthauern, Polen, Schweden, Dänen und Moskowitern, Pest und Seuchen.
Wie auf den kurzen nordischen Sommer unerbittlich die Unholden, die Reifriesen Niflheims, folgen und oft über Nacht alles Leben zu Eis und Tod erstarren machen, so erhebt Jahrhunderte hindurch die Saat germanischer Cultur ihre Halme und Gräser in der Nordmark nur zu halber Höhe, um alsbald wieder von sengenden Horden der Nachbarvölker vernichtet und zertreten zu werden.
Mit 1710 erlischt endlich die Brandfackel blutiger Kriege. Unter russischem Scepter athmet das Land allgemach auf; das Blut pulst wieder in den Adern – doch noch lastet während der größeren Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine eisenharte Leibeigenschaft wie ein böser, erdrückender Alp auf dem kranken Organismus. Aber von der Wende des Jahrhunderts ab bis auf unsern Tag, zunächst langsam, dann in immer rascherem, stetigerem Tempo setzen die Enkel jener starren Ritter und Herren ihre besten Kräfte dafür ein, die alte Schuld zu sühnen, indem sie selbstisches Standesinteresse mit warmem Eintreten für das Wohl des Landes vertauschen. Durch Kirche, Schule und Landverkauf heben sie den gedrückten Bauernstand in immer reicherem materiellen und geistigen Aufschwung zu der respektablen Höhe, von der herab die Agrarfrage, die erste und bedeutendste des Landes, wenngleich nicht als abgeschlossen, so doch als in den wichtigsten und schwierigsten Punkten glücklich gelöst erscheint. Daran noch zu zweifeln bleibt denen überlassen, die aus nationaler Ränkesucht oder sonst unlauteren Motiven jenen „Rest, der noch geblieben“, zu einem baltischen Irland aufzubauschen bemüht sind.
Leider sind in allerletzter Zeit jene unlauteren Elemente in stetigem Wachsen begriffen, und so drängen sich noch zur Stunde von einander wesentlich verschiedene Culturmächte nachhaltig und zäh hervor, einander anfeindend und mit einander um die Herrschaft ringend.[1]
Wir wenden uns nunmehr zu Einzelbetrachtungen der Städte und Ortschaften der Ostseeprovinzen, und da ist es der Vorort baltischen Culturlebens, Riga, welcher zuerst unser Interesse in Anspruch nimmt: Riga der Bischofssitz, Riga die blühende Hansastadt, Riga die Centrale der Provinz. Die drei weit in’s Land und bis an die Mündung der Düna schauenden Thürme der Stadt können als Wahrzeichen dieser dreifachen Bedeutung gelten. Der Dom, dieses älteste von allen monumentalen Bauwerken der Stadt, nach Anlage und Bau-Art zugleich das imposanteste unter ihnen, zeugt noch heute in seiner räumlichen Ausdehnung, seinen Hallen und Kreuzgewölben für die Bedeutung jener bischöflichen Macht, die in der Gründung Rigas durch Albrecht von Buxhövden 1202 die Grundveste schuf für die bleibende Colonisation des Küstenlandes. Die Petri-Kirche mit dem schlanken, hochaufstrebenden Thurme, in welcher zuerst und mit nachhaltiger Wucht die Lehren der Reformation ertönten, gleicht einem Siegesdenkmal des Protestantismus, welcher, abgesehen von einer kurzen Gegenreformation in polnischer Zeit, bleibend das Land eroberte. Endlich die Jacobi-Kirche, gegenüber dem Ritterhause, unweit des Schlosses, noch heute die Kirche der Beamten, des Landadels, in der die feierliche Kanzelrede des Generalsuperintendenten vor Eröffnung des Landtages den Segen des Himmels erbittet für die Berathungen und Beschlüsse der versammelten „Ritter und Landschaft“; sie bildet gleichsam ein Symbol der durch die Selbstverwaltung aufblühenden Macht des Landes.
Außer diesen drei bedeutsamen Baudenkmälern der Vorzeit ist die Auslese klein. Der Pulverthurm, heute nur noch ein monumentaler historischer Schmuck, und das Haus der „Schwarzen Häupter“ am alten Marktplatze ragen als Reste frühester Zeiten charakteristisch aus der Masse der stillosen Bauten des älteren Riga hervor. Erwähnenswerth ist auch das alte Schloß, früher Residenz der Großmeister in Livland, jetzt Sitz des Generalgouverneurs. Was die engere Stadt sonst an bemerkenswerthen Gebäuden aufweist – die Zahl derselben ist nicht gering – gehört der neueren Zeit an, so die im gothischen Stile erbaute anglikanische Kirche, die Häuser der großen und kleinen Gilde, die Börse im Geschmacke der Frührenaissance und das Ritterhaus im florentinischen Palaststile.
Zwischen Stadt und Vorstädten, auf dem Boden der früheren Wälle und Festungsglacis ist in dem letzten Vierteljahrhundert Neu-Riga erstanden. Von dem Basteiberge aus, diesem letzten Ueberbleibsel des niedergelegten Festungsgürtels, übersieht man die stolzen Reihen geschmackvoller, stilvoller Privathäuser, die mit dem Theater, dem Polytechnikum, der Gasanstalt, dem Realgymnasium und anderen stattlichen, dem Gemeinwesen dienstbaren Bauten, durchzogen von dem malerischen Grün parkartiger Anlagen, eine Stadt für sich zu bilden scheinen. Sie reden laut von dem mächtigen Aufschwunge, den Riga genommen, seit die Wälle fielen: sie lassen es begreifen, wie die Einwohnerzahl von 70,000 in circa dreißig Jahren auf rund 170,000 anwachsen konnte. Gleichwohl hat man der hohen Ziffer gegenüber bezüglich des öffentlichen und geistigen Lebens seine Anforderungen und Erwartungen auf ein bescheidenes Maß herabzustimmen. Ein unverhältnißmäßig großer Bruchtheil zählt hier nicht mit, wo es gilt, für geistige Interessen, für Fragen der Kunst und der Wissenschaft ein Publicum zu finden. Ja selbst das bescheidenere Niveau der Durchschnittsbildung des Kleinbürgers wird hier in der zahlreichen russischen und lettischen Bevölkerung wohl nur von einem geringen Procentsatz erreicht. Man findet in jenen außerdeutschen Bevölkerungsgruppen meistens im specifisch russischen und lettischen Vereinsleben volles Genüge und steht allem sonst Gebotenen kühl, wo nicht gar oppositionell gegenüber.
Charakteristisch ist überdies die Vorliebe der bessern Gesellschaft Rigas für lebhaften Verkehr in Familienkreisen, ja eine gewisse Scheu vor dem Besuch öffentlicher Vergnügungslocale überhaupt, und zum Theil wohl hieraus resultirend das überaus rege Vereinsleben, das, theils dilettantisch-künstlerische, theils gesellige Unterhaltung, theils humanitäre Zwecke fördernd, allabendlich den Vereinsgenossen gastfrei Thür und Thor offen hält. In Familie und Vereinen pflegt man vor Allem die Musik; dagegen gelingt es oft selbst Künstlern bedeutenden Ranges nicht, vor gefülltem Saal aufzutreten, und regelmäßig wiederkehrende Symphonie-Abende haben sich noch immer nicht als ein Bedürfniß für die Gesellschaft Rigas herausstellen wollen.
Bei alledem zeigt die Kunstliebe, wo sie einmal über den Dilettanteneifer hinausgeht, eine Intensität, die betont werden muß. Kaum irgendwo ist das Theater – freilich das einzige am Ort – so ausgesprochener Liebling des Publicums wie in Riga. Nicht bittrer konnte darum letzteres betroffen werden, als durch den Brand des Kunsttempels im vorigen Sommer.
Nicht unerwähnt will ich lassen, daß das musikliebende Publicum Rigas am Vorabende eines Ereignisses steht, welches dasselbe mit Recht als ein hocherfreuliches und bedeutsames feiert: Demnächst soll in der Domkirche an Stelle der früheren eine Riesenorgel prangen, die, von vorzüglichster Construction, zugleich wohl die größte der Welt sein wird, da sie, wie verlautet, selbst der hochberühmten Freiburger Orgelschwester noch um einige Register „über“ ist.
Für andere Künste steht der Sinn – unter dem Gefrierpunkt. Insbesondere gilt von der Malerei im Großen und Ganzen noch heute, was jener Beobachter livländischer Sitten und Bräuche vor langen Jahren meinen durfte: es stehe schlimm um die Kunst in einem Lande, in dem man den „Maler“ meistens mit dem Anstreicher verwechsele.
Kommen so die Musen nur gerade auf ihr tägliches Brod, so weist das communale Leben einen ungleich reicheren Haushalt auf. Die bedeutsame Rolle, die Riga in der Geschichte des Landes gespielt, und ihre selbstständige, in sich geschlossene Entwickelung – sie haben in langjähriger Schule ständischen Selfgovernments ein Bürgerthum großgezogen, das sich thurmhoch erhebt über das Niveau gleichartiger Elemente in der Provinz, im benachbarten Polen und im weiten russischen Reiche. Von Alters her und zu allen Zeiten hat sich Riga hervorgethan durch reges Interesse für das Gemeinwohl, durch einen gefesteten gesunden Bürgersinn. Ihm dankt das Gemeinwesen die Stiftungen und Anstalten, deren Zahl Legion ist, ihm die Wittwen- und Waisenasyle, die Menge öffentlicher Bildungs- und Erziehungsstätten – und noch letzthin, beim Zusammenbruch der alten Verfassung und Einführung der neuen Städte-Ordnung nach Muster der in Rußland geltenden Normen, hat dieser Bürgersinn sich glänzend bewährt
[832][834] und inmitten der Katastrophe das Steuer in fester Hand gehalten, sodaß, statt eines Niederganges oder doch einer zeitweilig unheilvollen Verwirrung, die man für den Verwaltungsapparat befürchtete, dieser vielmehr mit neuer Mannschaft, neuen Mitteln ausgestattet gleichen Zwecken und Zielen dienstbar, geblieben ist wie früher und für segensreiche Förderung des Gemeinwohls nur immer reichern Impuls findet.
Wie Handel und Gewerbe Tag um Tag durch die engen Straßen wogt und lärmt, so hämmert hinter Thür und Wänden stetig und beharrlich das Räderwerk ausdauernder Berufsarbeit, aufopfernder communaler Thätigkeit durch Herbst und Winter und Frühling fort bis zu jenen gesegneten Tagen, da die beliebten „sauren Gurken“ ihr mildes Regiment antreten. Kaum irgendwo aber wird wohl die Sommererholung so heilig gehalten wie hier. Als ein Attentat auf sein innerstes Seelenleben sieht es Jeder an, verlangt man im Sommer mehr von ihm. als daß er zu seinem Theile die Staatsmaschine nur gerade nothdürftig in Gang hält, damit sie bis zu jenem langen Winterbetrieb nicht völlig einroste. Nicht nur von den Lasten des Berufes, auch von Geselligkeit und Vergnügungen nimmt man bei Beginn des Sommers Abschied – man hat, wenn die Mittel es irgend erlauben, nur Sinn für das dolce far niente auf der Villa, vornehmlich am Rigaschen Strande, in den Badeorten Dubbeln, Majorenhof, Bilderlingshof etc., die sich meilenlang an dem hügeligen, bewaldeten Meeresufer hinziehen und in unzähligen, mitten im Kiefernwalde gelegenen „Höfchen“, theils eleganten Villen, theils bescheidenen Miethwohnungen, gegen 40,000 geplagten Städtern, Rigensern und Provinzlern, ein trauliches Sommerheim gewähren. Den Uebergang zu dem „freien Leben, das wir führen“, bildet das Frühlingstreiben im Kaiserlichen Garten, vor Allem in dem mitten zwischen Stadt und Vorstädten belegenen „Wöhrmann’schen Park“. Allabendlich ist hier der Sammelplatz von Hunderten, ja von Tausenden, die sich nach frischer Luft und freier Bewegung sehnen und sich, so gut es geht, mit endlosem Gedränge und unerträglichem Staube abfinden.
Kunterbunt mischt sich das Publicum aus allen Nationalitäten, aus allen Berufs- und Altersclassen. Bei einem Rundgang kann es passiren und passirt nicht selten, daß man Conversationen in acht Sprachen mit anhört: Deutsch, Jüdisch-deutsch, Russisch, Polnisch, Lettisch und Esthnisch, daneben Englisch und Französisch. An drei Abenden in den Spätsommermonaten wird hier der „Hungerkummer“ gefeiert, ein specifisch rigisches Erinnerungsfest an vor grauen Zeiten glücklich überstandene Belagerungs- und Hungersnoth, das sich jedoch durch nichts Charakteristisches auszeichnet. Militärmusik, illuminirter Garten und ein unentwirrbarer Menschenknäuel, mit obstgefüllten Taschen, bilden die ganze Ausstattung des Festes.
Für die entlegenen Theile der Vorstädte respective deren Bewohner sind diese Festtage die regelmäßig wiederkehrenden Rendezvous, an denen sich gute Bekannte alle Jahr einmal wiedersehen. Die Arbeiterbevölkerung waltet in großer Menge vor – von den Holmen, den kleinen in der Düna gelegenen Inseln, wie aus der entfernt gelegenen Moskauer Vorstadt strömen oft wunderliche Gestalten zusammen, die sich sonst nur in den entlegensten Winkeln Rigas auffinden lassen.
Die ausgedehnte Moskauer Vorstadt gewährt überhaupt ein eigenartiges Bild, Vom übrigen Riga räumlich getrennt, erweckt sie in uns die Vorstellung, wir befänden uns in einer mittelgroßen russischen Provinzialstadt, die zufällig die Düna hinabgeschwommen und vor Rigas Mauern haften geblieben. Ueberall erblickt man hier kleine, in bunten Farben gestrichene Holzbauten, von denen jedes dritte oder vierte eine Schenke beherbergt.
Hier finden wir die Siedelungen jener zu der Raskolsecte gehörigen Flüchtlinge, die in den ersten Decennien des Jahrhunderts vor den Verfolgungen im Reiche in Riga ein erwünschtes Asyl fanden: hier halten in überfüllten Schenken und Spelunken alljährlich, sobald die Frühlingswasser stromabwärts treiben, die Strusenschiffer Einkehr, die auf ihren ursprünglichen Fahrzeugen, welche riesenhaften Butten nicht unähnlich sind, an der Dünafloßbrücke ankern, um, nachdem sie ihre Kornschätze vergeben, zu Schaaren in die Waggons dritter Classe gepfercht, den Heimweg anzutreten. Die Dünabrücke, stromaufwärts mit zahllosen Strusen, stromabwärts mit Dreimastern und Schraubendampfern aus aller Herren Ländern umsäumt, gewährt den eigenartigen Anblick grellster Contraste, wie denn in Summa das Leben und Treiben auf dem mächtigen Dünastrome, im Sommer wie im Winter, der nordischen Handelsstadt das charakteristischste Gepräge verleiht: im Winter die Menge flüchtiger Schlitten, die Eisbahnen, auf denen die Stuhlschlitten hin- und herschwirren – im Sommer das belebte Hafenbild. Die meisten Schiffe löschen und laden an den neu ausgebauten, ausgedehnten Kais bei Riga oder in dem zu diesem Zwecke angelegten Vorhafen bei Mühlgraben, etwa auf halbem Wege zwischen Riga und Dünamünde. Und indem wir an den Kais auf- und abwandern, steigt dort die Rauchsäule des Dampfers „Fellin“ auf, der uns zu einer flüchtigen Tour einladet. Wir sagen Riga Valet, und durcheilen im Fluge die kleinen Städte Livlands.
Zunächst erreichen wir Pernau, die an der gleichnamigen Bucht gelegene Handelsstadt mit 13,000 Einwohnern, kaufmännischen Kreisen durch den Export von Flachs und Leinsaat wohlbekannt. Pernau weist mehrere altbewährte Handelsfirmen auf, deren Chefs neben solider Geschäftsführung auch hanseatischem Wohlleben ein respectables Conto frei halten. Die unscheinbare freundliche Stadt hat sich bislang das Gepräge behaglicher Wohlhabenheit bewahrt: ihre Tage dürften indeß gezählt sein, wenn der langersehnte Schienenstrang, der das Hinterland Fellin und in weiterer Folge über Pleskau das russische Kornland mit der Hafenstadt verbinden soll, noch für die nächsten Jahre hinaus nur ein frommer Wunsch bleibt. Das ganze Land krankt an der Unterbindung der modernen Verkehrsadern, die, Esthland und Curland durchströmend, im Norden nach Reval und Baltischport, im Süden nach Riga und Libau ausmünden, das dazwischen liegende Livland aber unberührt lassen.
Fellin im Norden Livlands, an dem Hügelufer eines hübschen Landsees gelegen, mit den malerischen Ruinen des alten Heermeisterlichen Schlosses, und Wenden in Südlivland, gleichfalls durch seine reizende Lage, seine Burgruinen zu den anmuthigsten Städtebildern zählend, erfreuen sich seit Jahrzehnten des besten Rufes als beliebte und bewährte Erziehungsstätten der Landesjugend. Im Laufe der letzten Jahre sind, hier wie dort, die renommirten Privatanstalten durch Landesgymnasien ersetzt worden, die zum allergrößten Theil aus Mitteln des Landadels erhalten werden und alljährlich ein ansehnliches Contingent ihrer Zöglinge zur Hochschule nach Dorpat entsenden.
Klein-Wolmar, am Ufer der livländischen Aa gelegen, und das regen Binnenhandel treibende Walk sind durch ihre Lage im Herzen der Provinz dazu ausersehen, alljährlich abwechselnd den Sammelort für die Synoden abzugeben, zu denen sich die lutherischen Geistlichen des Landes nahezu vollzählig einzufinden pflegen.
Erwähnen wir noch des Städtchens Lemsal, zehn Meilen von Riga, und des durch den souverainen Willen der Kaiserin Katharina erstandenen Werro, so haben wir die Reihe der kleinen Städte Livlands erschöpft, die, dünngesäet, auf einem Territorium zerstreut liegen, das an Ausdehnung größer ist als die gesammte Schweiz und dreimal so groß wie das volkreiche Königreich Sachsen.
Wir wenden uns nun der nächst Riga größten Stadt des Landes zu, die an Bedeutung in gewissem Sinne noch die Centrale der Provinz überstrahlt: der 30,000 Einwohner zählenden Universitätsstadt Dorpat. Die hier blühende deutsche Hochschule zählt nicht zu Livland allein: sie gehört den baltischen Landen gemeinsam an. Mehr, als das sonst wohl der Fall zu sein pflegt, gebührt gerade ihr, als der Pflanzstätte allen geistigen Lebens in Livland, Esthland und Curland, der Name einer Landesuniversität: denn was in den Provinzen an Pastoren, Aerzten, Beamten, Richtern und Advocaten wirksam ist – fast ausnahmslos haben diese Männer sich ihre wissenschaftliche Bildung von der „alma mater Dorpatensis“ geholt.
Wir stehen am Ende unserer Betrachtung. Viel erübrigt noch von dem Leben, den Verhältnissen des „flachen Landes“ zu sagen, doch läßt sich nicht einmal eine nur flüchtige Umschau hierüber in den engen Rahmen dieser Skizze zwängen. Nur soviel sei hier bemerkt:
Livland, zur Hälfte getheilt in eine esthnische und lettische ackerbautreibende Landbevölkerung, erfreut sich von Jahr zu Jahr zunehmenden Wohlstandes. Die Scholle ist zur größeren Hälfte erbliches Eigenthum der Bauern, die seit der freisinnigen Landgemeinde-Ordnung vom Jahre 1866, unabhängig vom Landadel, in eigenen Gemeinden ihre communalen Angelegenheiten ordnen. Zur Zeit freilich gährt die jungesthnische und junglettische Bewegung verhängnißvoll und greift, von gewissenlosen Führern geschürt, [835] immer bedrohlicher unter den besitzlosen Classen des bäuerlichen Proletariats um sich.
Wenn es aber erst wieder gelingt, die unheimliche Beleuchtung der Brandfackel zu löschen, dann wird helles Sonnenlicht erkennen lassen, wie für Land und Leute alle Bedingungen vollauf gegeben sind zu friedvollem ersprießlichen Nebeneinander, in welchem jede Berufsclasse, jede Bevölkerungsgruppe ihre ganze Kraft einsetzen darf und soll für das Gedeihen und die Wohlfahrt des Landes.
Von Bremer Kaufleuten ward der baltische Küstenstrich dem europäischen Handel gewonnen – das Kreuz des livländischen Ordens war das Zeichen, unter dem die Cultur siegte. Siebenhundert Jahre sind seither in’s Land gegangen. Die materielle Existenz, die coloniale Cultur – sie stehen und fallen noch heute mit der größeren und geringeren Erkenntniß der Bedeutung Livlands als des Mittlers ost- und westeuropäischer Interessen.
- ↑ Wem es darum zu thun ist, tieferen Einblick in die ethnographischen und socialen Zustände des Landes zu gewinnen, den verweisen wir auf: „Die baltischen Provinzen Rußlands von Julius Eckart“. (Leipzig, Duncker und Humblot 1868.)