Land und Leute/Nr. 51. Die Magdeburger Börde
Land und Leute.
Nicht ohne Berechtigung hat man die „Magdeburger Börde“ eine fruchtbare Wüste genannt, in der das Auge zur Sommerzeit weit und breit nichts erblicke, als Himmel und Zuckerrüben. In der That kann man jene eigenthümliche Landstrecke tagelang durchwandern, ohne Baum und Strauch anzutreffen. Nur an den großsteinig gepflasterten Chausseen paradiren die stereotypen Baumreihen, welche das liebe Deutschland so langweilig durchziehen. Aber nicht die Pappel flüstert daselbst mit neugierigem Geplapper zum Wanderer herunter, sondern breitästig, wie übermüdet von der alljährlich hervorgebrachten Last ihrer Früchte, verträumen Obstbäume hier im trägen Halbschlafe ihr einsames Dasein. „Verdeinen, wei mott’n verdeinen (verdienen, wir müssen verdienen)," scheinen sie stummen Mundes predigen zu wollen, und sie sagen damit das, was eine große Anzahl von Bewohnern jener Gegend als einzige Lebensaufgabe betrachtet.
Die „Magdeburger Börde“[1] breitet sich am linken Elbufer von der Mündung der Saale bis zu derjenigen der Ohre um die alte Feste Magdeburg aus, und wenn man den Fuß über das rechte Ufer des Stromes setzt, so befindet man sich gleich in „des heiligen römischen Reiches teutscher Nation Sandstreubüchse“. Berg und Hügel, lauschige Wäldchen und saftig-grüne Wiesen oder gar Brachen, diese Idyllen inmitten sprossender Getreidefelder, gehören nun freilich nicht zum Typus der Magdeburger Börde. So überaus munter die Bode in fröhlicher Jugendlust vom Brocken herunterhüpft, so altersträge schleicht sie durch dieses einförmige Flachland. Sie scheint es selber einzusehen, daß es verlorene Liebesmüh’ ist, diese prosaische Gegend durch schmale, üppige Wiesenstreifen an ihrem Uferrande verschönern zu wollen. Auch ihre Schwester, die Saale, hat in der Börde nicht jenen „kühlen Strand, an dem Burgen stolz und kühn“ stehen. Kann somit die Magdeburger Börde auf landschaftliche Reize nicht Anspruch erheben, so kann sie es mit vollstem Rechte auf landwirthschaftliche; denn man braucht nicht Bauersmann zu sein, auch sein ganzes Leben lang nicht ein einziges Mal agrarische Anwandelungen erduldet zu haben, und doch muß Einem das Herz aufgehen, wenn man zur Frühlings- oder Sommerszeit durch die sorgfältig bestellten Ackerflächen, an den wogenden Getreidefeldern und den weiten Breiten kräftig geblätterter Zuckerrüben und Turnipse (Runkelrüben) vorbei wandert. Ist gerade ein erfrischender Regenschauer niedergegangen und will ein Fußwanderer mit einem für Ackerbau gar zu wenig empfänglichen Gemüthe etwas übereilig vorbei an dem Segen, den die Natur so reichlich gespendet, so mahnt ihn der fast moorig-schwarze Boden zu ruhigerem Naturgenusse, indem er, ein fettig-weicher Kleister, seine Füße an die Erde festzuheften sucht.
„Vorwärtsschreiten –
Rückwärtsgleiten,“
heißt es dann bei jedem Schritte. Zum Segen für Ritter auf Schusters Rappen ist indessen Regenwetter in der Börde etwas Selteneres als in waldreichen Gegenden und in Flußniederungen. Darin aber offenbart sich die Güte des Bodens so recht, daß auch bei anhaltend trockener Witterung die Feldpflanzen nicht so bald, vor Durst verwelkend, Stengel und Blatt neigen.
Wohl selten hat eine Culturpflanze auf Lebensweise und Beschäftigung der Bewohner einer Gegend so großen Einfluß ausgeübt, wie die Zuckerrübe in der Börde; denn sie hat in einem Zeitraume von wenig mehr als einem Vierteljahrhundert die Physiognomie derselben völlig umgestaltet: in fast allen größeren Dörfern sind zur Verarbeitung dieser zuckerhaltigen Wurzelpflanze Fabriken entstanden. Bauern, die in den fünfziger Jahren noch tief verschuldet waren oder ihr bares Vermögen nach Hunderten, höchstens nach Tausenden zählten, beziffern es jetzt als Zuckerfabrikanten auf Hunderttausende, ja, übersteigen damit mitunter gar die Million. Erhielt doch die Tochter eines solchen Zuckerbauern etwa vierzig Jahre nach der Vermählung unseres Kaiserpaares dreimal so viel Mitgift, als die Kaiserin dereinst als Heirathsgut bekommen, also 300,000 Thaler. Daß verheirathete Töchter aus geschwisterreichen Familien zu Lebzeiten ihrer Eltern jährlich bis zu 10,000 Mark „Nadelgelder" beziehen, ist dort ebenso wenig eine Seltenheit, wie ein Erbtheil von 300,000 Mark, das auf jedes Kind eines verstorbenen Zuckerfabrikbesitzers entfällt, der von seinen Eltern nichts weiter erbte, als einen nur 100 Morgen großen Ackerhof. Bewirthschaftet doch unter Anderem eine Fabrik, die in den fünfziger Jahren mit keinem einzigen Morgen eigenen Ackerlandes ihre Thätigkeit eröffnete, jetzt über 10,000 Morgen. Beispiele von gleich großen Oekonomien bei einer Fabrik sind übrigens nicht selten. So sind z. B. auf einer Oekonomie für Inspectoren und Verwalter allein 26 Reitpferde in stetem Gebrauche. Es giebt einige Fabriken, welche im Durchschnitt täglich 500 bis 600 Arbeiter, Männer, Frauen und Kinder, beschäftigen, und ganze Familien vom Eichsfelde und aus der Gegend von Landsberg stehen auf ihnen in Lohn und Brod. Für diese wurden eigens große Casernen errichtet. Doch es würde uns zu weit führen, wollten wir hier über den Reichthum der Bodenproducte dieses gesegneten Landstrichs genauere volkswirthschaftliche Studien anstellen und über [681] die verschiedensten Anbaumethoden der Zucker- und Runkelrübe berichten. Vieles davon dürfte dem größten Theil unserer Leser übrigens schon ebenso bekannt sein, wie das berühmte „Magdeburger Sauerkraut“, die Cichorie und die Zwiebeln der Börde.
Der Werth von Grund und Boden ist hier ein besonders hoher, und wer in der Magdeburger Börde 100 Morgen Acker – den Durchschnitt der Morgenzahl eines dortigen Bauerngutes – besitzt, ist seinem Vermögen nach kaum mehr das, was man anderswo unter einem Bauer versteht. Die Bördebauern wollen aber vielfach auch gar nicht Bauern oder Ackerleute sein; sie nennen sich: Ackergutsbesitzer. Ich habe mich stets an dem erstaunten Gesichte geweidet, das Fremde aufsteckten, wenn ich mit ihnen einem Bördebauern einen Besuch abstattete. „So wohnen hier zu Lande Bauern!?“ sprach’s da immer aus ihren verwunderten Mienen, und dabei sahen sie dann erstaunt um sich, wie ich es auch that, als ich – selbst Sohn eines Bauern, dessen Hof aber leider nicht in der Börde liegt – zum ersten Mal ein solches Bauernhaus betrat. Paläste, nicht Bauernhäuser sind das. Fehlt doch gar in mehreren nicht einmal ein großer Speisesaal. Es giebt Wohnhäuser auf Bauernhöfen, in denen Decorationsmaler fast ein Jahr lang an der Ausschmückung gearbeitet haben. Für ein Fach Fenster hat man das Paar Vorhänge mitunter mit 300 Mark bezahlt, und manches gräfliche Schloß hat in seinen Gemächern nicht so stattliche Möbel aufzuweisen, wie die Zimmer in diesen Bauernwohnungen, deren Fußböden mit dicken Teppichen belegt sind, über die man dann wohl noch kostspieligere Läufer gebreitet sieht.
Nun ist aber der Wohlstand oft genug der Tod eigenartiger und markiger Volkskraft, und so lichtet sich denn auch in der Magdeburger Börde mit dem zunehmenden Reichthume der Bewohner mehr und mehr der Stamm derber, biederer Bauern von altem Schrot und Korn. Die heranwachsende männliche Generation ist vielfach „wissenschaftlich“ gebildet, d. h. sie hat sich oftmals von höheren Schulen eine abgeknickte Quartanerbildung geholt, und die weibliche Jugend bezieht ihren Bildungsbedarf aus einer „Benehmigte“ (Pensionat, Anstalt, in der man lernt, sich zu benehmen) in Magdeburg oder Gnadau, wobei für Mägdelein wie Knäbelein gar oft die liebe Muttersprache, das Platt, gänzlich verloren geht.
Und wie mit der Sprache, so ist’s auch mit der Kleidung: auf den Straßen der Bördedörfer kann man die neuesten Moden und die theuersten Stoffe studiren, und dies um so besser, als das Auffassungsvermögen des Betrachtenden an dem sich überall aufdrängenden Contraste die beste Unterstützung findet.
Jeder Freund volksthümlichen Wesens muß mit uns tief beklagen, daß mit dem Zunehmen dieser Art von „Bildung“ unter der bördischen Landbevölkerung eigenartige Sitten und Gebräuche immer mehr schwinden. Nur eine einzige Volkssitte hat sich aus früherer Zeit ungeschwächt in die jetzige hinein gerettet, und auch sie hat gewiß diese Rettung allein ihrem realen Untergrund zu danken. Bei „Schlachtefesten“ oder bei wirklichen Festen schickt man nämlich seinen Nachbarn und Bekannten, Freunden und Verwandten die „Kenzelië“ in’s Haus – ein Geschenk vom geschlachteten Stück Vieh oder vom frischen Festkuchen.
[682] Ueberhaupt werden die Familienfeste von den Bördebewohnern in fashionabler Weise begangen. So hatten z. B. zwölf Decorateure ganze acht Tage zu arbeiten, um den Saal zu einer Bauernhochzeit in Stand zu setzen, und höchst kostbar waren bei dem in Rede stehenden Feste die Geschenke.
Mir liegen ferner wählerisch gedruckte Speise- und Weinkarten und ebenso ausgestattete Tanzordnungen von Bauernhochzeiten der Börde aus den allerletzten Jahren vor. Schade, daß man Sprachlaute nicht bildlich darstellen kann! Sonst würde ich dem Leser an dieser Stelle ein Bild liefern, wie die Hochzeitsgäste Zungenverrenkungen übten bei Bezeichnungen wie Round of beef oder Beignets à l’Anglaise oder Bombe à la vanille resp. Palombe oder Potage pure de volaille. Auf der Magdeburger Messe hatten Hochzeitgeber im Circus künstlichen Schnee fallen sehen, und so fehlte natürlich in dem Hochzeitsprogramme die Einlage „Schneewetter“ nicht. Als die Rollschlittschuhwuth am ärgsten grassirte, konnte man auf Bauernhochzeiten in der Nähe Magdeburgs die gesammte geladene Jugend Fallübungen auf dem Skating-Rink produciren sehen.
Wie der Sinn für moderne Cultur, laut der mitgetheilten Beispiele, in der Börde im Wachsen begriffen ist, so schwindet das Interesse am Althergebrachten dort mehr und mehr: Sinn für Sagen und Volksmärchen existirt in dieser Gegend fast gar nicht mehr, und das Volkslied findet außer in der Schule keine Pflege. Möchte man doch einsehen, daß es hohe Zeit ist, die spärlichen Reste volksthümlicher Ueberlieferungen, der alten Sitten und Gebräuche, Sprüchwörter und Redensarten vor Untergang und Vergessenwerden zu retten! Lehrer und Geistliche haben das zum Theil auch erkannt und sind deshalb hier und da bereits an’s Sammeln gegangen, und daß dieses auch in der Börde sich noch lohnt, mag der nachfolgende Beleg aus dortigem Volksmunde darthun, der einigermaßen an Chamisso’s Riesenspielzeug erinnert:
Als der Magdeburger Dom erbaut wurde, half der große Halberstädter Roland, der ja noch bis auf den heutigen Tag am dortigen Rathhause steht, Steine herbei tragen. Eines Abends verspätete sich der Riese bei der Arbeit, und er mußte darum den Weg von Magdeburg nach Halberstadt in der Dunkelheit zurücklegen. Als er da über Egeln, eine kleine Stadt der Börde, hinwegschritt, gewahrte er die Thurmspitze nicht und stieß mit der kleinen Zehe seines linken Fußes dagegen. Die Zehe blutete ein wenig, und das Blut tropfte auf die Wiesen von Westeregeln. Von diesem Riesenblute nun, das nach unseren lilliputanischen Begriffen in Strömen darauf hernieder floß, ist alles Wasser und aller Boden der Wiesen dieses Dorfes noch röthlich bis auf den heutigen Tag.[2]
Noch eine andere Sage!
Bei dem Dorfe Borne befindet sich ein Hünengrab (vergl. unsere Abbildung S. 681). Dasselbe ist noch jetzt, nachdem es von den dortigen Bauern – um mit einem nicht gerade schmeichelhaft gewählten Ausdrucke des ortsgeschichtskundigen Pastors Winter zu reden – „vandalisirt“ worden ist, bei 5 bis 10 Fuß Höhe über 100 starke Mannsschritte lang. Der Natur der Gegend gemäß, welcher Kieselsteine und erratische Blöcke gänzlich abgehen, ist es von Erde hausdachartig mit einem Einschnitte am Südende aufgeschüttet. Im Hünengrabe haben, nach der Volkssage, Zwerge ihre Wohnstatt. Sie backen sich da unten selber ihr Brod, holen aber den Teig dazu frühmorgens von den Leuten in Borne.
Ein gut Stück Poesie sprudelt übrigens den Börde-Bewohnern noch aus einem andern Born als aus dem der Volkssage – nämlich aus den Kinderliedern, welche mit demselben Rechte, kraft dessen man die Sprüchwörter die Weisheit der Gasse nennt, wohl auf das Prädicat: Poesie der Gasse Anspruch erheben dürfen. Aus dem reichen Schatze, den wir in der Börde an Kinderliedern gehoben haben, möge hier nur eine einzige Probe mitgetheilt werden:
„Puije (schlafe in der Wiege), puije, Soldatenkind,
Schlaope, bet (bis) Dien Vader kimmt!
Vader sitt (sitzt) in Schenken,
Springt äwwer (über) Disch und Bänken,
Lett (läßt) de Gläser rummer (herum) gahn,
Lett Dien Puije (Wiege) stille stahn.“
Das überall verbreitete Bedürfniß kleinerer Ortschaften, sich unter einander zu necken, scheint in der Magdeburger Börde das Dorf Borne ganz allein befriedigen zu müssen, wobei es aber nur eine passive Rolle spielt.
An der Dorfstraße in Borne sprudelt aus einer klaren Quelle vortreffliches Trinkwasser hervor. Die Quelle nennt man den Bornschen Spring, und redet man seinem erfrischenden, kühlen Wasser nach, daß es dumm mache. Weit und breit heißt es darum: „In Borne sind sie dumm.“ Kein Einwohner des Ortes giebt sich draußen gern als solchen zu erkennen, und Jeder will aus Bisdorf sein, welches mit Borne geographisch eine Ortschaft bildet. Neuerdings scheint man jedoch Bisdorf in Betreff dieses Bornschen Erbübels in Mitleidenschaft gezogen zu haben. Hörte ich doch jüngst die „Kahlen“ (kleinen Kinder) Straße auf und ab ganz vergnüglich singen:
„Rum, rum, rum!
In Borne sind sie dumm.
In Bisdorf sind sie ganz verrückt;
Da hat der Knecht den Herrn geschickt.“
Einige sprüchwörtliche Redensarten der Bördedörfler sind von erfrischender Natürlichkeit. Zum Beispiel von einem Trägen sagt man:
„Der denkt auch, unser Herrgott guckt alle Jahre einmal vom Himmel herunter, und wen er dann bei der Arbeit sieht, der muß immer arbeiten.“ In Gedanken setzt man hinzu: „Darum arbeitet er an keinem einzigen Tage im Jahre; nun mag der Herrgott gucken, wann er will – ihn sieht er dann niemals an der Arbeit.“
Die Bördedörfer haben meist eine beträchtliche Einwohnerzahl, die sich selten unter Tausend bewegt, meistens aber zwei, drei, ja vier Tausend erreicht. Eigenthümlich baut man in diesen Dörfern: da dort Holzarmuth herrscht, so sind alle Häuser massiv, und als Baumaterial hat man früher fast ausschließlich Bruchsteine verwandt, die mit Kalk, oft recht primitiv, verputzt worden sind. Bei den alten Häuschen scheint das Strohdach den winzigen grauweißlichen Unterbau jeden Augenblick niederdrücken zu wollen. Die neueren Gehöfte mit den pompösen Einfahrten und den stattlichen Wohnhäusern heben sich dagegen vortheilhaft von den zusammengeklebten alten Gebäuden und niedrigen Häuschen ab. Die Ortschaften sind geschlossen. Nur an den alten großen Verkehrsstraßen, wie an der Magdeburg-Leipziger Chaussee, stehen Einzelgehöfte, in denen Gastwirthschaft betrieben wurde und hier und da noch betrieben wird. Stundenweit sind die Dörfer von einander entfernt, und wohl keine Gegend Deutschlands hat bei gleich starker Bevölkerung so weit von einander liegende Dörfer, Flecken und Städte aufzuweisen. Aber auch hier war in früherer Zeit die weite Feldmark mit Einzelgehöften in eben der Weise übersäet, wie noch heute in einem Theile von Westfalen und am Niederrhein. Die Bewohner zogen im Laufe der Zeit näher zu einander, und es entstanden so kleinere Dörfer.
Kaum irgendwo giebt es so viele wüste Dorfstätten wie hier; finden sich deren auf vielen Feldmarken doch bis zu einem halben Dutzend. Bei Borne ragt als solch ein einsames Denkmal eines untergegangenen Dorfes der stark verwitterte Rest eines Kirchthurmes gegen 80 Fuß in die Höhe (vergl. das Initial am Anfang dieses Artikels). Das Dorf, zu dem er gehörte, hieß Nalbke und wird als wüste Stätte urkundlich schon 1509 erwähnt. Auch knüpfen sich einige Sagen an diese Ruine: wer an dem Thurm um Mitternacht der Jahreswende einen ganz schwarzen Kater trägt, der wird dort den leibhaftigen Gottseibeiuns treffen. Der tauscht ihm dann den Kater gegen ein blinkendes Geldstück um, welches für alle Zukunft immer wieder sofort in die Tasche der betreffenden Person zurückwandern wird, mag sie es ausgeben, so oft sie will. Leider ist das Geschäft mit dem „rothen Heinz“ aber nicht ohne Gefahr für Leib und Leben. Bringt ihm nämlich Jemand einen Kater mit einem einzigen weißen Härchen im Pelze, so ist’s um den Hals des armen Menschen geschehen. – –
Aber nicht nur über der Erde bietet die Magdeburger Börde manches interessante Denkmal vergangener Zeit – auch unter dem Erdboden fand man dort Zeugen aus alten Tagen; denn während man früher der Ansicht war, die Börde sei an Denkmälern der Cultur vergangener Zeiten vollständig arm, hat ein eifriger Sammler, Lehrer Rabe in Biere, auf der Berliner Alterthumsausstellung die Gelehrten vom Gegentheil überzeugt. Aus Kiesgruben der Umgegend Magdeburgs legte er Funde vor, die unstreitig [683] zu dem Aeltesten gehören, was in Deutschland an Alterthümern bis jetzt bekannt geworden ist: Messer, Sägen, Schaber, Bohrer, Polirer aus Feuerstein, sämmtlich nur geschlagen, nicht geschliffen, sämmtlich Spuren des Gebrauchs tragend, befinden sich darunter. Das Magdeburger Provinzialmuseum und das Museum in Quedlinburg weisen eine Anzahl dieser alten Geräthe aus den Sanddünen und Kiesgruben von Biere auf.[3]
Von historischem Interesse aus neuerer Zeit ist Dodendorf, eine Meile vor den Festungsmauern Magdeburgs.
„Bei Dodendorf färbten die Männer gut
Das fette Land mit französischem Blut;
Zweitausend zerhieben die Säbel blank,
Die übrigen machten die Beine lang –“
singt Ernst Moritz Arndt in seinem „Lied von Schill“. Die Gemeinde Dodendorf hat dem Andenken jener Tapfern, die in der Schlucht des Hohlweges vor dem Dorfe den Heldentod fanden, ein schmuckloses Kreuz gestiftet, das auf der Vorderseite seines Sockels die Inschrift: „Dem Gedächtnisse der am 5. Mai 1809 hier gefallenen und in Gott ruhenden 21 Preußen vom Schill’schen Corps“ trägt, während auf der Rückseite zu lesen ist: „Gewidmet von der Gemeinde Dodendorf am 5. Mai 1859“ (vergl. unsere Abbildung S. 681).
Zum Schluß noch ein Wort über die Thierwelt der Börde! Hier muß vor Allem des Hamsters gedacht werden, welcher in den Getreidefeldern nicht geringen Schaden anrichtet. In einem Hamsterbau, der bis zu zwei Fuß Tiefe in der Erde mit mehreren Kammern ausgeschichtet ist, findet man mitunter einen ganzen Scheffel Gerste, Hafer oder Weizen, welches das gegen ¾ Pfund schwere Thierchen in seinen Backentaschen in emsiger Thätigkeit für die ungastliche Jahreszeit eingeheimst hat. Roggen verschmäht der Felddieb. Unter diesen Umständen ist der Hamsterjäger eine wichtige Persönlichkeit in der Reihe der Angestellten der Zuckerfabrik-Oekonomien. Er beginnt seine Thätigkeit, sobald „der erste Frühlings-Donnerschlag den Hamster aus dem Winterschlafe geweckt hat“, und setzt dieselbe fort, bis der Winter mit Schnee und Eis Einzug gehalten. Wie mir ein Hamsterjäger berichtete, hatte er noch drei Tage nach dem letzten Neujahrsfeste sieben Hamster gefangen; er hatte an dem Tage, an dem ich ihn besuchte, 107 Hamster erlegt, und der Durchschnitt des täglichen Fanges betrug bei ihm 60 Stück. Das Fell dieser Nager wird, nachdem es vom Weißgerber bearbeitet, zu Tafeln von einem Schock Häute an einander genäht und dann auf der Leipziger Messe als weiß Gott was für russisches Pelzwerk in den Handel gebracht. In rohem Zustande variirt der Preis für das Schock zwischen zwei und zehn Mark.
Fast nicht minder zahlreich als der Hamster ist Meister Lampe in der Börde vertreten.[4] Wer nicht Gelegenheit gehabt, sich durch Augenschein zu überzeugen, wird es für „Jägerlatein“ erklären, wenn man ihm erzählt, daß man auf Breiten von etwa 50 Morgen mitunter 60, 70, 80 Hasen hüpfen und spielen sehen kann. Solcher Hasenreichthum veranlaßt denn auch den Kaiser Wilhelm, in Barby fast alljährlich einer Jagd anzuwohnen.
Einen eigenartigen Reiz hat es, in dieser hasenüberfüllten Gegend „auf den Anstand zu gehen“. Man gräbt sich ein halbmannstiefes Loch mit Sitzvorrichtung und setzt sich bei Eintritt der Dämmerung in demselben auf Stroh nieder. Nicht lange, und den verborgenen „unterirdischen“ Jäger umhüpfen auf allen Seiten Häslein im harmlosen Spiel; er streckt ein „Häselein“ nach dem andern auf’s Gras respective auf den Schnee nieder. Bei eingetretener Dunkelheit kann ein solcher Jägersmann – wenn’s Glück gut war – bis zu 10 Hasen erlegt haben.
Von befiedertem Wilde ist neben Rebhuhn und Wachtel besonders die Trappe zu nennen. Diese Thiere leben bekanntlich in Schaaren. Auf dem Eickendorfer Felde zählte ich einst 104, die bei einander saßen. Beim Niederlassen wählen sie sich gern ein freies, blaches Feld, von dem aus sie weithin Auslug halten können, und damit nicht ein unliebsamer Störer ihrem friedlichen Beisammensein ein Ende mache, stellen sie stets eine Wache aus. Harmlos lassen sie sich dicht bei Feldarbeitern nieder, und Fuhrwerke und Pfluggespanne stören sie nicht im mindesten. Sobald aber ein Jäger naht, erheben sie sich mit mächtig rauschendem Flügelschlage und setzen sich vor mindestens einer halben Stunde Weges nicht nieder. Des Jägers List übertrifft denn aber doch mitunter der Trappe Klugheit. Auf Wagen, die mit Ochsen bespannt sind, oder als Frauen verkleidet, mit einer Tragkiepe auf dem Rücken, oder gar – wie ich es einmal sah – in einem Gestell verborgen, das äußerlich einem Ochsen ähnelt, nahen die Schützen den schlauen Thieren. Es bildet stets ein Ereigniß im Jägerleben, einen glücklichen Treffer auf Trappen gethan zu haben; von Nah und Fern wird Kunde davon getragen, und mit Festessen und Weintoasten wird ein solcher Held gefeiert. Selbstverständlich fehlt dabei der Trappenbraten auf der Tafel nicht, und einmüthiglich haben mir stets alle Schmauser versichert, nichts in der Welt schmecke besser als so ein Trappenbraten. Ich habe das aber nie recht finden können; mir hat’s immer scheinen wollen, als ob ein Stück gebratenes Trappenfleisch ebenso gut schmecke, wie nicht gerade allzu zähes Rindfleisch. Habe ich Recht? Mit dieser offenen Frage – alle Fragen des Geschmacks sind bekanntlich offene – schließe ich meine Schilderung aus der Magdeburger Börde.
Nicht war es einer jener „verlornen Winkel“ in deutschen Landen, zu dessen Durchwanderung ich den Leser einlud, nein, ein Landstrich an befahrenster Verkehrsstraße war es, ein Landstrich, der allerdings nicht dazu beiträgt, Deutschlands landschaftliche Schönheit zu erhöhen, der aber Deutschlands Nationalwohlstand stetig mitgehoben hat und mitheben wird. Möge dieser Vorzug der Magdeburger Börde den Leser mit dem Gedanken aussöhnen, sich ein Stündchen auf recht einförmigen Gefilden bewegt zu haben!
- ↑ Das Wort „Börde" wird von germanischen Sprachkundigen erklärt als „die sich hinziehende Ebene, besonders an einem Flusse, also Flußebene“. Man ist geneigt, es etymologisch auf das gleichbedeutende niederdeutsche bœrde zurück zu führen, das von bord „Rand“, angewandt auf Flußrand, stammen soll. Keltische Forscher leiten es vom irischen und gälischen buar, „Vieh", und vom irischen bu, „Land“, her, wonach es also „Viehland“, das ist: fruchtbares, zur Viehzucht geeignetes Land heißen würde. Immer aber bedeutet Börde fruchtbares Feldland, und außer der Magdeburger Börde giebt es noch die Warburger, die Soester und unterhalb Bremens im Binnenlande die Lamstedter und die Beverstedter Börde.
- ↑ In der „Edda“ heißt es:
„Eikthyrnir heißt der Hirsch vor Heervaters Saal,
Der an Lärad’s Laube zehrt;
Von seinem Horngeweih tropft es nach Hvergelmir,
Davon stammen alle Ströme.“
(Simrock’s Uebersetzung, Seite 17.) - ↑ Professor Klopffleisch in Jena arbeitet gegenwärtig an einem ausführlichen Berichte über diese Funde, denen Abbildungen beigegeben werden sollen.
- ↑ Bei Staßfurt wurden in einem einzigen Jagen gegen 400 Hasen geschossen. In Biere, dessen Jagdgebiet 3000 Morgen groß ist, erlegte man bei der Treibjagd im Herbste 1880 1000 Hasen. Der Hasenmenge auf den Gefilden entsprechen denn auch die Jagdpachte. So ist die Jagd einer 3400 Morgen großen Feldmark augenblicklich für 1300, eine andere 2300 Morgen große für 660, eine dritte, etwa 5000 Morgen große etwas höher als für 2000 und endlich eine vierte von 3000 Morgen gar für 10,000 Mark verpachtet worden.