Bob Zellina
Der Commerzienrath Zellina ließ sich heute schon zum zweiten Male von seinem Sohne in das Speisezimmer führen. Im Grunde wohl, um seinen Appetit durch den Anblick der bereits auf dem Credenztische servirten kalten Schüsseln ein wenig zu reizen, vorgeblich allerdings behufs letzter Inspection der Tafel. Obgleich auf dieser blos fünf Gedecke lagen, zierte ein mächtiges silbernes Schiff die Mitte derselben, und aus zwei neben diesem Prunkstücke stehenden Blumenständern zog ein süßer Duft von Heliotrop durch den Raum. Das Zimmer hatte etwas Anheimelndes, so recht zu langen Sitzungen Einladendes. Und doch machte außer der Tafel und ihren hochlehnigen Stühlen nur das riesige Büffet, eine Truhe und der Ofen, dessen Kacheln braun in braun Geschichten des alten Testaments in launigen Darstellungen zeigten, sein Ameublement aus; freilich hatten die Wände hohes eichenes Getäfel; ein paar nachgedunkelte Blumen- und Fruchtstücke hingen darüber, und die mattblaue Farbe der sammtenen Portièren, der Vorhänge und Polsterbezüge der Stühle, stand in wohlthuender Harmonie dazu. Augenblicklich waren überdies die Vorhänge trotz des kaum begonnenen Nachmittags niedergelassen, und die beiden Astrallampen der Meermaid an der Decke wie die Kerzen auf den Armleuchtern des Büffets bereits angezündet. Es ging gleichsam ein Strom zitternden Lichtes von dem Silberschiffe und dem Krystall der Tafel aus, der nur in dem reichen Laubwerke der Blumenständer zur Ruhe zu kommen schien.
Der Commerzienrath, welcher am Credenztische stehen geblieben war und mit fast zärtlicher Miene eine Terrine mit Straßburger Gänseleberpastete betrachtete, sah nun auch nach der Tafel hinüber und sagte zu dem Sohne, der träumerisch vor sich hinblickte:
„Ist auch das Sträußchen für Alma nicht vergessen worden?“
„Vergessen?“ fragte Robert oder vielmehr Bob, wie ihn das ganze Haus, selbst alle Bekannten desselben mit dem Schmeichelnamen nannten, den ihm die verstorbene Mutter gegeben; „Du hattest doch mich dafür verantwortlich gemacht.“
„Nun ja!“ begütigte der Vater; „gestern wurden Jemand die Wechsel für Kronaus auch schon Morgens anvertraut und kamen trotzdem erst Abends –“
„Aber doch noch völlig zur Zeit!“ unterbrach Bob nicht ohne Ironie. „Außerdem: höchst gleichgültige Wechsel und letzte Rosen für Fräulein Alma – das ist wahrhaftig ein Unterschied.“ Er hob den neben einem Gedecke liegenden Strauß von Rosenknospen und Orangenblüthen in die Höhe und fuhr, ihn dem Vater reichend, fort: „Friedrich und ich haben alles Beste zusammengesucht, was im Garten und Treibhause zu finden war. Der arme Friedrich wurde ganz elegisch, als auch die jungen Orangenbäume mit ihren ersten Blüthen darankamen.“
„O, das glaube ich gern,“ erwiderte der Commerzienrath, indem er die Blumen zurückgab. „Doch die Bäume treiben ja wieder neue Blüthen – die jungen wie die alten, und selbst der älteste Baum darf das noch, und seine Blüthen duften um nichts weniger stark und würzig, als die irgend eines Springinsfeld. Nur der große, unsterbliche Mensch – der darf Nichts davon –“
Er nickte vor sich hin.
Bob trat in rascher Bewegung an ihn heran: er sprach dabei nicht, sah nur mit fragender Theilnahme in die Augen des Vaters, welche dieser nachdenklich zu ihm aufgeschlagen hatte.
„Das klang fast sentimental,“ bemerkte der Commerzienrath mit einem Lächeln, das jedoch mehr ein Zucken seiner schmalen Lippen war. „Dergleichen Anwandelungen wirst Du jetzt öfters erleben – überhöre sie stets! Man möchte sich eben zuweilen mit seinen sechszig Jahren noch nicht ganz im alten Register fühlen – trotz der weißen Haare und seines malitiösen Rückgrats. Es sticht und züngelt da heute wieder, als dürfe uns auch nicht einmal diese letzte Freude gelassen werden.“
Er wies mit der zitternden Hand nach der Tafel.
„Willst Du Dich nicht gleich auf Deinen Platz setzen?“ bat der Sohn. „Ich glaube – es fuhr ein Wagen vor, das werden Rulands sein.“
„Nein, Bobby,“ versetzte der Vater kopfschüttelnd; „so ganz läßt sich der Alte noch nicht als Invalide behandeln. Alma hat sich neulich über uns Beide gefreut, fand die Figuren so ähnlich, selbst noch den Ausdruck unserer Augen – das Vergnügen müssen wir ihr heute wieder machen. Gieb mir nur den Arm; für einige Momente stehe ich noch kerzengerade neben Dir. Dann freilich heißt es: still das Feld geräumt!“ Einem Seufzer gleich verklangen die letzten Worte.
Während die Männer langsam nach der Thür zum Wohnzimmer schritten, sagte der Commerzienrath in seiner scherzenden Weise, die aber doch diesmal einen Ton des Ernstes durchfühlen ließ:
„Und nimm Dich heute zusammen, Bob! Ein Haus ohne Frauen, ohne junge Frauen bleibt einmal triste; daran läßt sich nichts deuteln oder davon nehmen. Erinnere Dich, schon Franz von Valois fand einen Hof ohne Frauen wie
‚Ein Jahr, das nicht des Frühlings Wonne kennt,
Gleich einem Frühling, der vergaß,
Mit Rosen sich zu schmücken!‘
[438] und dieser Valois war ein Prakticus. Unsere gute Lossen, die mir in jüngster Zeit noch viel verschlossener und egoistischer als früher vorkommt, kann durchaus nicht mitzählen. Also weg mit der Zaghaftigkeit! Du bist jetzt über vierzehn Tage hier, warst bereits vier- oder fünfmal, und sage stundenlang mit Alma zusammen; dennoch habe ich trotz öfteren Beobachtens noch nicht das kleinste Anzeichen entdecken könnten, daß ihr Deine Gesellschaft, wie man so sagt – gefährlich sei. Das muß anders werden; ich an Deiner Stelle hätte ihr das Herzchen längst bis in die Goldaugen gejagt. Die schimmern aber und blitzen immer noch in alter Klarheit, ohne jenes weiche Feuer, das sie erst entzückend – ah –!“
Mit einem Laute des Schmerzes verstummte der Commerzienrath und lehnte sich schwer an die Brüstung der Thür.
Bob, der sehr blaß geworden, vergaß bei diesem halben Aufschrei des Vaters jede Vertheidigung und fragte besorgt, ob ihm durch irgend Etwas zu helfen wäre. Er dankte aber für Alles und versuchte sogar, als sich jetzt die gegenüberliegende Thür öffnete und die Gäste, von der Ehrendame des Hauses, Frau von Lossen, geführt, eintraten – diesen allein entgegen zu gehen.
Alma Ruland, in dem Lieblingscostüme des Pathen Commerzienrath, einem bordeauxrothen Kleide mit gleichfarbiger, enganliegender Sammetweste, von der sich die kostbare Goldkette mit Medaillon, welche ihr der Pathe am Tage der Confirmation umgehängt hatte, doppelt funkelnd abhob – eilte in jugendlicher Hast, Bob’s Verbeugung blos durch ein leises Neigen des Hauptes erwidernd, auf den Commerzienrath zu und suchte sich in ihrer herzlichen Art vor Allem zu vergewissern, ob ihm das vorgestrige Diner bei Kronau’s auch gut bekommen wäre. Der geschmeichelte Pathe durfte sie darüber beruhigen und fuhr, ihr dankbar die Hände drückend, fort:
„Aber Sie? Ist Ihnen die Langeweile unter all den Alten gleichfalls leidlich bekommen? Ich fürchtete schon, wir würden Sie bei der heutigen Wiederholung entbehren müssen.“
„Unter all den Alten?“ lächelte Alma. „Herr Geheimrath, Ihr Herr Sohn dürfte damit –“
„Ach, Bob!“ fiel der Commerzienrath mit scheinbarer Geringschätzung ein. „Der gehört schon voll zu uns alten Herren: sehen Sie sich ihn nur einmal genauer an! Wenn ich Sie nun auf’s Gewissen früge, bekämen wir sicher wieder eins Ihrer herzhaften ,Ja‘ zu hören.“
„Was das für Annahmen sind!“ mischte sich der Regierungsrath Ruland in das Gespräch, welcher dem Freunde vorher nur flüchtig die Hand gereicht und dann mit Frau von Lossen weiter geplaudert hatte. „Bob’s achtundzwanzig Jahre zu uns zu rechnen!“
„Ich werde freilich bald neunundzwanzig,“ sagte Bob möglichst trocken, warf dabei jedoch einen raschen Blick auf Alma.
Diese, so plötzlich zum Mittelpunkt der kleinen Gesellschaft gemacht, hätte sich lebensgern mit etwas Geistreichem aus der Affaire gezogen; da ihr momentan aber nichts dergleichen einfiel, versicherte sie einfach, daß sie von Jugend auf an die Gesellschaft und Umgebung älterer Leute gewöhnt sei, und ihr diese ganz so sympathisch wie Ihresgleichen wäre.
„Charmant herausgezogen!“ bemerkte Frau von Lossen spitz, vielleicht sogar ein wenig malitiös. „Fräulein Alma will es mit keinem der beiden Theile verderben! Und das ist keine geringe Lebenskunst.“
„Bis zu welchen Jahren rechnen Sie übrigens diese Ihresgleichen?“ fragte Bob mit nervöser Lebhaftigkeit.
„O – bis fünfundzwanzig!“ erwiderte Alma, dem Pathen zunickend.
„Da haben wir es,“ rief dieser, gab jedoch keine weitere Erklärung seines Ausrufes, da ein Diener Frau von Lossen meldete, daß angerichtet werden könne.
Das Wort elektrisirte stets den alten Gourmand. So nahm er auch jetzt hastig den Arm des Freundes und befahl zu seinem Sohne gewandt:
„Die Jugend voran!“
Am oberen Ende der Tafel stand in vornehmer Einsamkeit, gleich einem Thronsessel, ein großer, auf’s weichste gepolsterter Armstuhl: zu diesem hatte Ruland den Commerzienrath zu führen, welcher gerade beim Diner nichts so nöthig fand, als freie Bewegung der Arme.
Nachdem derselbe Platz genommen und sich bequem zurecht gerückt hatte, begann seine Laune auch bald eine wahrhaft glückliche zu werden, und er beschwingte die Unterhaltung förmlich durch zündende Anekdoten oder sonstige heitere Episoden aus seinen respective Freund Ruland’s jüngeren Jahren. Nebenbei waren die Austern aus Milton gekommen; die Fasanen hatte Böhmen geliefert; auf den Dessertschalen lagen die unvergleichlichen Früchte von Kiew, und der Steinberger von 1857 wie der Chambertin mundete nicht weniger als der Champagner von Ay, dieser prickelnde, markige Trank.
Es war daher nur selbstverständlich, daß die beiden älteren Herren am Schlusse des Diners höchst animirt geworden und es angenehm fanden, sich mit einer Havana in’s Arbeitszimmer des Commerzienrathes zurückzuziehen, bis der Kaffee, den Frau von Lossen immer selbst bereitete, fertig wäre. Alma und Bob, nachdem sie diesem liebenswürdigen Geschäfte eine lange Weile zugesehen hatten, traten, von einer Bemerkung Frau von Lossen’s dazu angeregt, auf einen Balcon heraus, der nach der Gartenseite des Hauses lag.
Die Sonne mußte im Untergehen sein: sie hatte in den fernen, sich bereits gelb färbenden Landpartien jenen wundersamen rothen Schimmer entzündet, der im Herbst an Alpenglühen mahnt. Auch das Meer, welches den äußersten Horizont umsäumte, verschwamm schon in Duft und Schatten; nur die Segel eines großen Schiffes erschienen noch röthlich angehaucht.
Alma hatte sich ganz in eine Ecke des Balcons gedrückt und schien in Sinnen verloren – wenigstens kam das ihrem Partner so vor. Er blickte darum still die Allee hinunter, welche jenseits des großen Rondels, das sich vor der Mittelfront der Villa in geschmackvollster Teppichgärtnerei ausbreitete, nach dem Meer zulief. Den letzten Theil der Allee bildeten Ahornbäume, deren Laub ganz vergilbt war, und Bob’s Blicke schwelgten mit halb unbewußter Freude in diesem Strom von Gold, der so harmonisch in das dämmernde Blau des Meeres überging.
Auch Alma sah endlich nach der Allee hinüber und sagte, indem sie dabei auf die Statue eines knieenden Knaben zeigte, die inmitten des Rondels stand:
„Wie hübsch hebt sich heute die dunkle Bronze meines Lieblings von dem frischen Grün ab, das auf seiner Schale liegt! Was kann das für ein Gewächs sein?“
Bob zuckte leicht die Achseln.
„Sie haben aber Recht! – Das Grün ist von seltener Frische – beinahe Maigrün. Ich werde mich bei Friedrich erkundigen.“
Der Gedanke an Friedrich brachte ihn auf ihr heutiges gemeinsames Straußbinden; er sah unwillkürlich auf Alma’s Hände. Diese hielten jedoch keinen Strauß; der mußte vergessen auf der Tafel liegen geblieben sein.
Er lächelte bitter. den Strauß vergessen zu können! Aus diesem Empfinden heraus meinte er in etwas mühsam klingendem Scherze:
„Uebrigens wieder eine Illustration zu Ihrer Vorliebe für Ihresgleichen“
Sie sah ihn fragend an.
„Maigrün gehört doch zu achtzehn Jahren,“ erläuterte er mit unsicherem Blick.
Alma wandte sich halb ab und versetzte kühl:
„Sie sind ein böser Nachträger; schon während des Essens mußte ich Sie ein- oder zweimal –“
„Bitte, höchstens einmal!“
„Unbedingt jetzt aber das zweite Mal mit einer ganz harmlos gemeinten Bemerkung gleichsam Fangball spielen hören! Das wird –.“
„Zu viel! wollen Sie sagend“ fiel Bob erregt ein. „Wenn mir das nun immer von Neuem einfällt, einfallen muß, da ja so viel – Alles davon abhängt.“
Er war Alma näher getreten und sah sie mit einem Ausdruck an, der für sie etwas Erschreckendes zu haben schien, sie jedenfalls zu einer Bewegung veranlaßte, als möchte sie sich noch weiter von ihm entfernen.
Und doch erschien sie gerade in ihrer Besorgniß reizender als je. Der rothe Wiederschein der untergehenden Sonne erhöhte wunderbar die Farbenwirkung ihrer errötheten Wangen; die braunen Augensterne flimmerten in ihrem Goldglanz, wie der [439] Commerzienrath deren feuchtes Aufleuchten nannte, ja bis in die schwere Pracht des Haares flog das Roth der Wangen scheinbar hinauf – hernieder: wie roth leuchtend lagen die ringelnden Locken auf dem Sammet und in den Spitzen des Anzuges.
Ueber Bob ging ein Schauer hin; seine Augen tranken unersättlich die Schönheit des Mädchens, und Alma empfand das plötzlich und mußte in dem Gefühle ihrer Macht lächeln.
Selbst Bob begriff, trotz seiner Verwirrung, den Grund dieses Lächelns. So sagte er, als ob es gar keines weiteren Erklärens bedürfe:
„Sie fühlen, wie es um mich steht. Darum seien Sie gütig und fragen Sie sich auf’s Gewissen – nein! nicht auf’s Gewissen! Da hätte auch der Verstand mitzusprechen, und den nüchternen, kalten Gesellen wollen wir nicht über uns entscheiden lassen. Nur Ihr Herz, unser Tiefstes, Heiligstes mag Sie berathen. Alma, meine süße, einzig –“
Sie entzog ihm die Hand, welche er ergriffen hatte, und rief mit anfangs bebender, bald aber fester Stimme:
„Nein – nein! Ich habe – ich darf mich da mit Nichts berathen. Was würde Ihr Herr Vater –“
„Mein Vater? Er liebt Sie ja zärtlich. Nur er hat mir den Muth gegeben –“
„Allzu überraschend kommt es,“ unterbrach ihn Alma wie im Selbstgespräch. Dann sah sie zu ihm empor und fuhr leise, jedoch mit eigenthümlicher Schärfe fort. „Ich lebe mit meinem Vater so zufrieden; was er will, will ich – was mir Freude macht, ist wohl auch ihm lieb und angenehm. Noch mit keinem Gedanken habe ich an ein Aufhören dieses Lebens gedacht. Und so im Augenblick – wär’ es mir ganz unmöglich, das fassen zu sollen!“
Sie faltete dabei die Hände in so lieblich rathloser Weise, daß Bob dieselben wieder ergriff und stürmisch rief:
„Nichts weiter? Nur Ihr Vater steht meinen heißen Wünschen im Wege? – Vergeben Sie!“ bat er dann, indem er sich gewaltsam zu beherrschen versuchte, da Alma’s zitternde Hände ihm die tiefe Erregung des geliebten Mädchens verrieten. „Ich will Ihnen wenigstens beweisen, daß ich kein Egoist bin, aufhören kann, von mir und meinem Hoffen zu sprechen, so schwer ich auch darunter leiden werde, von Ihnen nichts – nichts über mein Schicksal gehört zu haben – Ich scheine ja nur zurückhaltend; Ihre liebe Nähe macht mich befangen. Aber glauben Sie es nur: noch kein Ton in mir hat den Klang der Jugend verloren; ich weiß, daß ich noch Alles besitze, um da Gluth wie Treue und Glück zu geben, wo ich – liebe, anbete.“
Die beiden letzten Worte hatten seine Lippen unvernehmbar herausgestoßen. Trotzdem wußte Alma ja nun Alles und überlegte eben klopfenden Herzens, ob sie – um ein Ende zu machen – wirklich preisgeben müsse, was sie noch Niemand, sich selbst kaum gestanden, als plötzlich ihr Vater in die Thür des Balcons trat. Zwar wollte er sich sofort wieder zurückziehen, doch gab sie das nicht zu, sondern rief wie erlöst:
„Ja! Hier bin ich, lieber Vater.“
Bob trat zurück und ließ sie stumm an sich vorüber eilen. Sogar etwas wie ein Lächeln fand sich, da er hörte, wie ihr Vater schalt, daß er ihr stets die Sträuße nachtragen müsse.
Als Bob später in’s Zimmer kam, hielt sie denn auch seinen Strauß nachlässig in der Hand.
Nach dem Diner pflegte der Commerzienrath noch spazieren zu fahren. Er machte auch heute keine Ausnahme von dieser Regel und ließ es sich dabei nicht nehmen, seine Gäste vorher nach Hause zu bringen. Trotz des weiten Umweges (man war auf einen von Alma bei Tische geäußerten Wunsch an einer kürzlich aufgestellten Statue vorüber gefahren) und trotz des Commerzienraths bester Laune hatte dieser sich nicht die geringste Neckerei Bob und Alma gegenüber erlaubt: er mußte bemerkt haben, daß irgend Etwas zwischen ihnen vorgefallen war, was noch der Klärung bedurfte.
Alma hatte ihm innerlich für diese Rücksicht gedankt, jetzt aber endlich mit dem Vater allein, empfand sie nur das eine Verlangen, Alles vom Herzen zu sprechen. So erwartete sie dessen Rückkehr in’s Wohnzimmer mit wahrhaft brennender Ungeduld und flog ihm, sobald er die Thür seines Arbeitscabinets öffnete, mit einem Ausruf der Freude an die Brust.
„Mein liebster Vater, wie dankte ich Dir – als Du mich erlöstest!“
„Wovon?“ fragte dieser gelassen.
„Von Bob! Er wollte wohl – er schien mir –“
„Nun, was?“
„Es war eine förmliche Erklärung,“ flüsterte Alma, noch wie verängstigt aufsehend.
„Und warum hast Du ihm nicht gleich Dein Jawort gegeben?“
„Aber –“
„Du konntest doch annehmen, daß ich Nichts gegen Eure Verbindung einzuwenden hätte?“
Alma sah verwirrt zu Boden; dann sagte sie mit schüchterner Abwehr:
„Ich muß Dich nicht verstehen. Du weißt doch sicherlich –“
„Ich weiß nichts,“ entgegnete der Vater kurz, „als daß Bob Zellina weit und breit die beste Partie ist und jedes Mädchen sich glücklich zu schätzen hätte, seine Gattin zu werden.“ Milder, beinahe überredend, setzte er dann hinzu: „Kind, sei mir vernünftig! Ist Bob nicht wahrhaft liebenswürdig, jung, ein eleganter, vornehmer Mann? Dabei voll Wärme, ja Feuer? Darf man mehr verlangen? Die Solidität des Hauses gar nicht in Anschlag gebracht!“
Es wäre mit dem Aufzählen solcher guten Dinge wohl noch eine Weile fortgegangen, wenn der Rath nicht wahrgenommen hätte, daß Alma kaum mehr zuhörte, ihre Gedanken mindestens irgendwo in der Ferne schweifen ließ.
Der Vater mußte diese Ferne kennen; denn er wiederholte, indem er die Stirn runzelte, sein Lieblingswort. „Sei mir vernünftig, Kind!“ noch einmal und strenger, als vorher.
Alma sah ihn wieder an, als müßte sie sich überzeugen, daß er im Ernst spräche; dann wandte sie sich mit einer ihrer gewöhnlichen, ruhig graziösen Bewegungen ab und schritt nach dem Pfeilertische, auf welchem die Lampen standen.
„Mache noch kein Licht an!“ sagte der Rath, während er sich in einer Ecke des Sophas niederließ. „Es dämmert ja kaum. Komm’, setze Dich zu mir! Ich glaube, daß wir auch hierbei in aller Gemüthlichkeit das Richtige finden werden, wie man es stets gefunden hat.“
Gehorsam, nur mit einer gewissen Reserve folgte Alma diesem Wunsche, that jedoch, als bemerke sie die Handbewegung des Vaters, neben ihm Platz zu nehmen, nicht, und wählte den nächsten Sessel.
Nach einer kleinen Pause, in welcher der Rath still zum Fenster hinaus aus einen Zug goldener Wolken gesehen hatte, der blaß und blasser wurde, begann er von Neuem:
„Zuerst wollen wir von Dir sprechen – nachher komme ich heran.“
Alma blickte auf.
„Ja,“ fuhr er fort, „diesmal geht mich Etwas ganz direct an. Mit Dir nun muß ich es heute machen, wie ich es in meiner Studentenzeit zu thun pflegte, wenn ich Secundant war – natürlich in einem durchaus ernsten Duell. Dann suchte ich mir vor Allem darüber Gewißheit zu verschaffen, ob einer der Contrahenten so tief gekränkt wäre, daß Blut fließen müßte. War das der Fall, so ließ ich dem Duell seinen Lauf; handelte es sich aber blos um leichte, äußere Ehrenschmisse, dann brachte ich in der Regel die rührendste Versöhnung zu Stande. Begreifst Du, wie diese Art zu handeln auch bei Dir verwendbar ist?“
Alma schwieg.
„Ich kann eben gleichfalls fragen: Fühlst Du Dich schon bis in’s Herz getroffen, oder ist es vor der Hand noch, um in meinem Jargon zu bleiben, ein äußerer Schmiß?“
Der Rath lachte behaglich.
„Dein Jargon –“ sagte Alma.
„Antworte mir noch nicht!“ unterbrach sie der Vater, „ich sehe, daß Dir meine trotzdem sehr gute Art und Weise nicht gefällt – also ohne Umschreibungen! Natürlich hatte ich bereits in Misdroy bemerkt, wie Du mit Herrn von Hollfeld öfter als mit den übrigen Officieren plaudertest, daß er sich uns gern anschloß und so weiter. Ich hielt es daher für meine Pflicht, über ihn Erkundigungen einzuziehen, und als ich nur das Beste in jeder Beziehung zu hören bekam, legte ich Eurem Verkehr keine Hindernisse in den Weg, von denen ich so wie so nichts hatte. [440] Hindernisse reizen gerade zu Compromittirungen – Wenn ich übrigens vorher sagte, daß ich nur Bestes gehört, so bezieht sich das blos auf die moralischen und meinetwegen geistigen Eigenschaften des jungen Herrn – an Vermögen besitzt er dagegen weniger als nichts, nämlich noch einige Schulden seiner verstorbenen Eltern, die er sich von seinem Gehalt abzutragen bemüht.“
„O wie ehrenwerth!“ rief Alma.
„Gewiß – höchst ehrenwerth!“ bestätigte der Rath, seine moquante Stimmung unterdrückend; „doch für einen zärtlichen Vater, der sein Kind auch äußerlich gut versorgt wissen möchte, kann dergleichen eine Partie durchaus nicht wünschenswerther machen. Dabei gehört er noch zu den Secondelieutenants, welche ihre Hintermänner, nicht einmal die Vorderleute zählen, und hat, wie er ja selbst sagte, auch keinerlei nennenswerthe Vermögensaussichten. Daß wir aber nur von meinem Gehalte leben und für uns gleichfalls auf der weiten Welt nicht die kleinste Erbschaft in Sicht, das ist Dir doch nicht unbekannt? Was denkt Ihr Euch also – wenn das Ganze eben kein Getändel, oder Ihr überhaupt schon bis zu einem Darüberdenken gekommen seid, was immerhin wahrscheinlich, da er Dich jetzt auch hier zu treffen weiß, neuerdings, wie mir scheint, sogar Fensterparaden macht? Dächtet Ihr etwa auf einander zu warten – im günstigsten Falle also fünfzehn bis sechszehn Jahre? Und ich schlösse unterdeß die Augen – meinst Du wirklich stark genug zu sein, Dich von den Zinsen der paar tausend Thaler, mit denen ich eingekauft bin, so recht kümmerlich durchzubringen – eigentlich, was man sagt, zu vegetiren?“
„Sprich nicht von Deinem Sterben!“
„O, ich denke ja in keiner Weise daran!“ rief der Rath wieder mit leisem Lachen, „Du sollst gleich schlagend überzeugt werden, wie wenig es der Fall ist! Bei einem Abwägen von Für und Wider müssen aber alle möglicher Weise eintretenden Verhältnisse berücksichtigt werden. Ich bitte nun also um volle Wahrheit! Daß ich bisher discret gewesen bin und Dich, obgleich man, wie Du siehst, Alles durchschaute, weder in Warnungen bevormundet, noch zum Vertrauen gezwungen habe, wirst Du hoffentlich anerkennen. Ich hätte es auch noch länger mit angesehen – warum Dir Deine Jugend nicht gönnen? Doch seit sich Bob so offenbar um Dich bewirbt, unterliegt Alles selbstverständlich anderen Gesichtspunkten. Räumst Du mir das ein?“
Alma ergriff mit beiden Händen des Vaters herabhängende Rechte und sagte flehend:
„Ich bin Hollfeld aber – gut – sehr gut! Und er ist noch zur Kriegsakademie einberufen, wodurch er eine viel raschere Carriere macht.“
„Wann ist diese Ordre gekommen?“
„In voriger Woche.“
„Und Du hast mir nichts davon gesagt?“
„Er wollte es Dir persönlich bei seinem Abschiedsbesuche mittheilen.“
„So bald geht er fort?“
„Schon übermorgen.“
„Im großen Ganzen,“ erklärte der Rath nach einigen Augenblicken der Ueberlegung, „ändert diese Einberufung übrigens wenig. Um ein paar Jahre – angenommen, er käme in den Generalstab – verringerte sich die Wartezeit allerdings; was bedeutete das aber? Alt und grau würdet Ihr doch, bevor an eine Vereinigung zu denken wäre. Außerdem traue ich, offen gestanden, ihm noch eher als Dir eine solche Treue zu. Es ist bei – leidlich hübschen Mädchen eine alte Erfahrung, daß der Abwesende leicht Unrecht hat.“
„Ich liebe Paul, wie er mich liebt!“ rief Alma ungestüm, „und ich könnte gar nicht weniger treu sein als er.“
„Schön!“ erwiderte der Vater vollständig ruhig. „Es bedarf ja momentan noch keines bestimmten Entschlusses; lassen wir unsere Ansichten vor der Hand also neben einander bestehen! Nur das Eine will ich Dir noch sagen, das ich vorher schon andeutete, was mich eben persönlich betrifft. Du bist mir ja stets eine liebe Tochter gewesen, sorgst vortrefflich für mich – ich entbehre fast nichts. Dennoch kann natürlich eine Tochter auf die Dauer niemals eine Gattin ersetzen, und so gedenke ich denn mich wieder zu verheiraten.“
„O mein Gott!“
Kaum hörbar war Alma’s Ausruf gewesen, doch hatte ihn der Rath verstanden. So sagte er mit all der Schärfe, welche ihm mitunter eigen war:
„Irgend einer Kritik über mein Handeln, weißt Du wohl, liebe ich nicht ausgesetzt zu werden. Ich bin mir auch heute bewußt, Alles auf’s Reiflichste erwogen zu haben, jedes Darübersprechen und besonders ein Daranherummäkeln könnte nur ganz unnöthige Verstimmungen hervorrufen, die doch nichts ändern würden. Ich bitte Dich also, Dir den Gedanken zurecht zu legen, Dein kleines Regiment hier recht bald mit einer neuen Mutter – ja, ja! einer sogenannten Stiefmutter – theilen zu müssen.“ Der Rath stand auf. „Du kennst Deine künftige Mutter, und wirst darum meine Wahl um so mehr billigen: es ist Frau von Lossen.“
„Frau von –“ Alma stockte, den Vater wahrhaft erschrocken anstarrend.
„Lossen!“ vollendete dieser kalt. – „Ich muß noch einen Ausgang machen; wenn ich zurückkomme, hoffe ich Dich von Deinem wohl nur freudigen Schrecken erholt zu finden. Adieu!“
Damit nahm er Hut und Stock.
[457] Die Casernenwohnung des Lieutenants von Hollfeld hätte recht gut als Typus der echten preußischen Officierswohnung bis zu den letzten siebenziger Jahren gelten können. Von dem eisernen Bettgestell mit seiner harten Matratze und den in grobes Leinen gehüllten Wolldecken in der Schlafkammer an, am schlichten, roth angestrichenen Kleiderspinde und dem wahrscheinlich behufs freundlichen Gegensatzes weiß gestrichenen Waschtische vorüber – bis in die Vorderstube hinein, wo sich durch die bereitwillige, gegen eine monatliche Vergütung von zwei Thalern erschwingbare Hülfe des braven Fribourg fast eine Art von Comfort breit machte. Nur der runde eiserne Ofen und die mächtige Kohlenmulde dahinter erinnerten hier an von Staatswegen Geliefertes – das weit ausladende Schlafsopha in seinem grün und violett gestreiften Bezuge, die beiden Armsessel davor, der eine in mildschwarzem Kleide, der andere im frischesten Cardinalroth mit ganz jugendlichen Troddelbehängen an den Lehnen – und vor Allem die beiden großen Bilder in ihren schweren Barockrahmen (eins über dem Sopha, eins über dem Schreibtisch) brachten diesen für ein Casernenzimmer „wohlhabenden“ Eindruck hervor. Besonders zu dem Schreibtischbilde – jenes andere war nur die Lachtaube aus Sue’s „Geheimnissen von Paris“ – sah der alte Fribourg (wenn er sich pünktlich am zweiten des Monats sein Geld holte) denn auch stets voll der Genugthuung empor – ein solches Kunstwerk bei so geringer Miethe geliefert zu haben. Es stellte eine Kleopatra dar.
Momentan lagen auf dem Cardinalrothen allerlei Kleidungsstücke, und ein größerer Koffer stand geöffnet neben dem Schreibtisch. An diesem saß Hollfeld und blätterte in einem geschriebenen Hefte, das beinahe wie ein Tagebuch aussah.
Er horchte jetzt auf und rückte die kleine Lampe weiter fort.
Da klopfte es. Unwillig kehrte er sich um und rief nicht gerade einladend. „Herein!“
Doch kaum erkannte er in dem Eintretenden den Regierungsrath Ruland, als er freudig aufsprang und denselben mit feinster Verbindlichkeit willkommen hieß.
Nach ein paar allgemeinen Gesprächsthemen, die Hollfeld immer mit einer gewissen Beharrlichkeit ausgesponnen hatte, sagte der Rath plötzlich, während er eine ihm angebotene Cigarre ungenirt über den Cylinder der Lampe hielt:
„Mein Kommen, Herr Baron, sollte aber keine bloße Gegenvisite sein – mir liegt Etwas auf dem Herzen, was Sie nun zu berühren gestatten müssen.“
Der junge Officier, welcher dunkelroth wurde und den Rath einen Augenblick durchdringend ansah, erwiderte nichts, zeigte nur durch eine Verbeugung an, daß er zu hören bereit sei.
Ruland blickte auf die Cigarre und folgte scheinbar sinnend einem Paar der grauen Ringel, die auffallend lange vereint blieben, dann sagte er in seiner kühl über Allem und Jedem stehenden Weise:
„Es betrifft natürlich meine Tochter! Sie waren während dieses ganzen Sommers so gütig, dieselbe in jeder Beziehung auszuzeichnen, haben ihr – wenn ich Alma recht verstanden, selbst von Ihrem Hoffen gesprochen, durch Ihre Einberufung zur Kriegsakademie – wozu ich übrigens sehr gratulire!“ – der Officier verbeugte sich von Neuem – „den Lauf Ihrer Carrière beschleunigen zu können. Ist mein Schluß zu kühn, wenn ich annehme, daß Sie zu dieser Aeußerung kein bloßes pour parler antrieb, sondern ein Gedanke, den Ihr offenes – ich muß das Wort wohl brauchen! wenigstens für Vater und Tochter offenes Bewerben –“
„Und Sie, Herr Rath,“ unterbrach Hollfeld hastig. „Sie billigen – wollen mein Bewerben gestatten? O Sie sind mir blos zuvorgekommen! Morgen bei meinem Abschiedsbesuche wollte ich fragen, Sie recht herzlich bitten – mir die Erlaubniß zu geben, daß ich mich Ihrem Fräulein Tochter gegenüber erklären dürfe. Ich brauche es doch nur zu versichern, wie zwischen uns noch kein bindendes Wort gefallen ist? Für Gedanken, wohl gar Blicke – ein Meer von Hoffnungen, dafür könnte ich nicht einstehen. Doch Sie selbst haben uns, wenn auch nur durch Stillschweigen –“
„Gewiß!“ fiel der Rath schneidend ein, „das ist ein Fehler gewesen. Ich habe leider zu lange geschwiegen.“
„Leider?“ rief Hollfeld, als hoffte er noch mißverstanden zu haben.
„Herr Baron!“ fuhr Ruland jedoch trocken fort, „ich fragte eben schon meine Tochter, ob sie etwa an einen Brautstand dächte, der sich – wählen Sie selbst die Jahre! – vielleicht zwölf, fünfzehn hinauszöge. – Ich hatte mich selbstverständlich ein wenig über Sie, respective Ihre Verhältnisse informirt und habe übrigens bis auf die prosaische, für uns Väter aber nun einmal den Ausschlag gebende Geldfrage blos Gutes, ja Vorzügliches gehört.“
„Wäre es also wirklich nur diese Geldfrage?“ versetzte Hollfeld warm, „in eine Wartezeit müssen sich so Viele finden und halten sie dann auch aus. Warum sollte unsere Treue hinter der Anderer zurückbleiben? Ich fühle mich zu Allem stark, weil ich [458] weiß, daß ich nie ein anderes Mädchen als Fräulein Alma lieben könnte.“
„Aehnliches hat wohl Jeder einmal gesagt,“ antwortete der Rath, indem er eine Wolke Rauchs vor sich hinblies. „Ich bin später doch anderer Ansicht geworden, habe nicht meine erste Liebe, sondern einfach eine tüchtige Frau genommen, wurde glücklich mit ihr und denke sogar, nebenbei gesagt, bald nochmals zu heirathen. Ueber Sie, Herr von Hollfeld, möchte ich mir natürlich kein Urtheil erlauben – es soll ja Menschen geben, denen die Treue sozusagen im Blute liegt; über meine Tochter habe ich eine ganz bestimmte Ansicht, welche ich mir nicht fortdisputiren lassen würde. Sie ist nur ein Mädchen, wie es Gott sei Dank viele giebt: im Grunde häuslich, schlicht, ein wenig passiv – jedenfalls ohne irgend einen Zug des Heroinenthums. Das Einzige, was sie zu einer Ausnahme stempeln könnte, wäre, daß sie uns so unter den Händen – wie es gekommen, haben wir Eltern nie ganz ergründen können – eine Art von Schönheit geworden ist. Schönheit, wissen wir aber Beide, ist eine zweischneidige Mitgabe: in unserem Fall erschwert sie jede Treue bedeutend, da sie immer von Neuem dazu anreizt, dieselbe auf die Probe zu stellen. Habe ich darin Unrecht?“
„Wenn ich so geliebt würde, wie ich liebe – sicherlich!“ entgegnete Hollfeld, ohne sich zu besinnen. „Wirkliche Liebe läßt eine Versuchung gar nicht aufkommen.“
„Und Sie meinen,“ fragte Ruland zweifelnd, „daß auch meine Tochter eines so ausschließlichen Gefühls fähig wäre?“
„Gewiß! Sie unterschätzen Fräulein Alma.“
„Vom Vater würde das allerdings unverzeihlich sein,“ erwiderte der Rath ironisch. „Es handelt sich aber eigentlich gar nicht darum; wir sind von meinem Thema abgekommen, also – wenn Sie gestatten, zum Ausgangspunkte zurück! Ich würde mich nämlich unter keinen Umständen dazu bereit finden lassen, eine so weit aussehende Brautschaft zuzugeben. Leider lassen sich ja Väter dazu herab: doch wenn Sie sich zwingen könnten, meinen Gründen gerecht zu werden, dürften Sie mir einräumen, daß dergleichen eine menschenunwürdige Quälerei protegirt oder gar gut heißt. Sehen Sie sich heute einmal die beiden Paare an, welche die Stadt von dieser Species besitzt: ich brauche Ihnen keine Namen zu nennen. Das eine Paar ist sieben Jahre verlobt, das andere, denke ich, fünf. Sie haben wohl beide Mädchen nicht jung gekannt?“
Hollfeld schüttelte den Kopf.
„Nun ich kann Sie versichern – Beide waren frisch, anmuthig, voller Reize. Heute sind Beide, Herr Baron, abgehärmt, älterhaft, gleichsam erblichen in Sehnsucht. Die Natur läßt sich einmal nichts Aberwitziges gefallen. Dabei ist für beide Paare noch kein Ende abzusehen, ja der eine der Herren Bräutigams ist wohl eben erst Premier geworden.“
Hollfeld sprang jäh auf, ließ sich aber mit den Worten: „Verzeihen Sie!“ wieder in seinen Sessel fallen.
„Könnten Sie diese ganz ungeschminkte Betrachtung widerlegen?“ fragte der Rath mild.
„Nein!“ knirschte der Officier mehr, als er sprach.
„Und selbst das ist noch nicht Alles,“ fuhr Ruland in demselben Tone fort. „Seit etwa drei Wochen ist der Sohn meines Jugendfreundes, des Commerzienraths Zellina, nachdem er auf Wunsch des kränklichen Vaters seine Stellung bei dem Wiener Bankhause seines Schwagers aufgegeben hat, ganz hierher übergesiedelt. Dieser hatte Alma, glaube ich, nie gesehen oder nur als Kind: in den drei Jahren wenigstens, seit ich hierher versetzt bin, ist er zufällig mit ihr nicht mehr zusammengetroffen. Einen um so rascheren und stärkeren Eindruck scheint sie darum jetzt auf ihn gemacht zu haben – da er bereits um ihre Hand angehalten hat.“
„Und Alma?“ rief der Officier erbleichend.
„Alma werden Sie mir helfen vollends zur Vernunft zu bringen,“ versetzte der Rath wieder schroffer. „Deshalb kam ich her. Außerdem freilich halte ich auch Nichts davon, wenn Zwei ohne Abschied aus einander gehen: es bleibt allzu leicht Etwas zurück, das in einem sensiblen Gemüthe gleichsam nicht sterben kann. Die Erfüllung dieser Wünsche erwarte ich aber von einem Ehrenmann, der es nicht erträgt, daß der leiseste Makel an dem Namen ihm theurer Personen haften bleibt.“
„Wie soll das zusammenhängen? was verlangen Sie?“ fiel Hollfeld empört ein.
„Für mich hängt das insofern zusammen“ setzte Ruland mit besonderem Nachdruck hinzu, „daß ein Mann, welcher es mit der Familien-, der eigenen Ehre so genau nimmt, nicht an fremdem Wohl rütteln, oder gar den Gegenstand seiner Liebe mit in die eigene Misere – Vergebung für das landläufige Wort! – herabzerren kann. Glauben Sie es nur, wenn Alma Ihnen auch das Gegentheil versichert hätte – sie ist nicht für Dulden oder Entbehren und noch viel weniger für dieses schier hoffnungslose Warten geschaffen – über Kurz oder Lang würde sie das bitter machen oder müde. Und wie wollte es eine edle Natur dann tragen, schuld daran gewesen zu sein, daß der Geliebten Glück zerstört worden? Denn für uns ist Bob Zellina’s Antrag ein Glück, das überhaupt mit nichts Anderem aufzuwiegen wäre. Ich gebe zu – nach menschlich irdischem Ermessen.“
Der Rath erhob sich.
In Hollfeld, der mechanisch gleichfalls aufstand, wogte es von den widersprechendsten Gefühlen: ein heißer Schmerz hatte momentan die Oberhand. Zerrinnen, verdämmern fühlte er Alles, was er als sein Heiligstes geachtet hatte. Groll über sie stieg dabei in ihm auf, die ihn schon hingegeben haben mußte, Groll über sich, daß er die Blicke auf Unmögliches gerichtet – bald freilich wieder eine Liebe, ein so innig Umfassen und in sich Aufnehmen, als müßte noch ein letztes Mal ganz empfunden werden, was ihm doch gehört hatte in selig unvergeßlichen Stunden.
Ihr Glück aber? – durfte er ihrem Glücke im Wege stehen? Bob’s Erscheinung, sein Wesen, das ihn neulich selbst so sympathisch berührt hatte, trat noch wie fürbittend vor ihn hin. Auch der liebte, und was konnte er dagegen einsetzen? War es keine Misère, in welche er die Geliebte herabzerren wollte?
Mit einem Blick des Mitleids, halb über sich, halb über das Aermliche seines Heims, dieses getreuen Abbildes von seinem ganzen Sein, streifte er das Zimmer – sah dann nach den dunklen Fenstern hinüber. Fern schrie Etwas: wieder das Käuzchen drüben im Ahorn auf dem Wallgange! Und als müßten die Gedanken etwas haben, das sie von dem Andern ablenkte – so dachte er an gestern Abend, wo er sich vergeblich an dieses Käuzchen herangeschlichen hatte.
Der Rath, welcher einmal durch’s Zimmer gegangen war, blieb aber ungeduldig stehen, und Hollfeld wußte wieder Alles: was eben zu Grabe getragen worden und was von ihm gefordert wurde. Auch erinnerte er sich plötzlich, daß der Rath von einer Wiederverheirathung gesprochen habe: daran knüpfte er an und fragte:
„Natürlich weiß Fräulein Alma, daß sie eine neue Mutter bekommt? Und sie verehrt und liebt die Dame?“
„Das weiß ich nicht,“ entgegnete Ruland achselzuckend. „Als ich ihr eben davon sprach –“
„Eben erst?“
„Ich pflege bei Dingen. die mich allein angehen, selten vorher die Einwilligung der Meinigen nachzusuchen.“
„In einem solchen Fall, wo es sich auch um das Glück – –“
„Selbst nicht in einem solchen Fall!“ unterbrach der Rath kalt. Er wollte dieses Thema damit augenscheinlich erledigt wissen.
Hollfeld durchfuhr ein heftiger Gedanke – dieser Mann hatte etwas beleidigend Gewaltsames in seiner Art! es war aber Alma’s Vater – somit Beherrschung! Und im Recht, in seinem Recht wenigstens, war er auch, so sehr sich das Herz dagegen aufbäumte. Wenn es eine Schuld hier gab – nicht der Vater Alma’s, nicht er selbst oder Alma trugen die Schuld, allein das Verhängniß, ihr Schicksal – wie sie es nennen wollen – das sie zusammengeführt hatte. Die Ehre mußte rein bleiben. Nichts aus Anderer Leid Erwachsenes durfte er sich zu eigen machen. Das ertrüge er nicht – der Mann dort hatte in Allem Recht!
Und Hollfeld richtete sich hoch auf und sagte ohne ein Beben in der Stimme, als beträfe es irgend etwas Gleichgültiges:
„Also wie Sie befohlen haben, Herr Rath – ich werde morgen mein Heil versuchen.“
Ruland sah ihn forschend an, doch in dem umschleierten Blicke des Officiers war nichts zu lesen. Mit einem schweren Händedruck trennten sich die Männer.
[459] Auf den leuchtenden Sonnenuntergang war ein bedeckter Tag gefolgt. Etwas gewissermaßen Stillendes hatte sich über die ganze Natur gebreitet, und obgleich kaum ein Lufthauch ging, fielen zahllose Blätter, verdorrte, doch auch gelbe und rothe. Nur höher, elastischer freilich, schienen die ihres Blattschmuckes entkleideten Stämme der Bäume emporzustreben.
Das bemerkte selbst Alma, die schon eine ganze Weile am Fenster gestanden hatte, ohne an Bestimmtes denken zu können, und sie fragte sich im Stillen: ob es den Menschen wohl ähnlich erginge? Wenn aller Schmuck, alle Freude des Lebens fiele, ob auch der Mensch edler würde – höher strebte? Es war für sie wie das Ende, ein Resultat der Gedanken, welche sie über Nacht bestürmt und sie gleichsam reifer – trauriger gemacht hatten. Sie fand aber auch darauf keine rechte Antwort – und so wollte sie sich, müde geworden, wieder zu einer Arbeit niedersetzen, als ihr der Lieutenant von Hollfeld gemeldet wurde. Nur ein stummer Wink gab dem Mädchen die Erlaubniß, ihn hereinzuführen. Sie drückte die Hand auf’s Herz; die Lider senkten sich halb über die Augen; sonst wartete sie, an dem Pfeilertische lehnend, bewegungslos das Eintreten des Officiers ab.
Hollfeld, den Kopf erhoben, kam anfangs rasch auf sie zu, dann verhielt er plötzlich den Schritt und blieb ein Stück vor ihr stehen. Alles, was er sich zurecht gelegt, der feste Vorsatz, es leicht zu nehmen, da sich, trotz der gegentheiligen Andeutungen des Rathes, nach und nach die Ansicht in ihm befestigt hatte, daß die Trennung auch Alma nicht unwillkommen sein könne – das Alles kam ihm bei dem ersten Blick in ihre matten Augen, diese überwachten Züge abhanden. In denen lag nichts als Schmerz – er brauchte also nicht zu heucheln; jede Maske durfte fallen.
Ein paar Augenblicke stand er wenig gefaßter als Alma da, stützte sich sogar einen Moment lang auf die Lehne eines Stuhles – bald hob er jedoch wieder das Haupt, trat der Geliebten näher und sagte mit seiner sonoren, auch jetzt nur weich gedämpft klingenden Stimme:
„Man hat anders über uns bestimmt, als wir gedacht – gehofft hatten! Ein bloßer Traum soll es gewesen sein? Und doch! Wird uns der Traum nicht bleiben? Muß nicht etwas Unvergeßliches davon in uns Beiden weiter leben? – Ihr Vater wollte nichts davon wissen, und er meinte Sie auch zu kennen. O, nun ich Sie gesehen habe, erschien es selbst mir wie Wohlthat, wenn es so wäre.“
Alma erwiderte nichts. Sie hatte wohl kaum auf den Sinn seiner Worte, nur auf die Stimme gelauscht: auf die Stimme, welche sie fortan nie mehr hören sollte. Die Augen weit öffnend, sah sie Hollfeld mit einem Blicke an, in dem sich innigste Liebe und Ergebenheit mit einer Trauer mischte, welche etwas Starres, Verzweiflungsvolles hatte. Bald sich aber gleichsam besinnend, sagte sie eintönig und als wäre es Eingelerntes:
„Mein Vater hat mir ja keine Ausbildung geben lassen, die mich zu etwas Anderem, als zur Hausfrau befähigte. Jedes Verlangen danach schalt er thöricht – da ich heirathen würde.“
„Erlassen wir uns doch jede Entschuldigung,“ wollte Hollfeld abbrechen „die kargen Minuten, welche uns noch –“
„Nein, nein!“ unterbrach ihn Alma mit schmerzlicher Heftigkeit, ich muß von Ihnen hören, daß Sie – wenn auch nicht billigen, was ich nicht einmal hören möchte, daß Sie nur begreifen, warum ich gerade so und nicht anders handeln kann. Mein Vater mag Ihnen das Aeußere gesagt haben, von dem, was es entschieden hat, kann er nichts wissen, sonst hätte er mir nicht so viel angethan. Sie wird meine Mutter – ich habe nicht mehr das Recht zu klagen; dennoch fühle, weiß ich klar, daß hier an meines Vaters Seite gerade für uns Beide kein Platz ist. Ihr ist mein Wesen unsympathisch, wie sie es mir immer gezeigt hat, und ich – ich vermöchte ihre Kühle nicht zu ertragen, nicht dieses ewig Abgemessene. Und ich muß weichen, habe ich mich doch geirrt – mein Vater liebt mich nicht. Ohne ein wenig Liebe von Anderen kann ich aber nicht leben. Es war ja von jeher so! Die Mutter erst, später Freundinnen und dann – Sie.“
Eine Sanftmuth, eine Hingabe hatte in der Art ihres Sprechens gelegen; voll tiefer Erschütterung rief Hollfeld:
„Meine Alma!“
Vergessen war sein Versprechen, vergessen Alles, was er sich abgerungen hatte, um ihrem Glücke nicht im Wege zu stehen. Gab es hier denn ein Glück ohne ihn? Bewiesen nicht ihre Blicke, jedes ihrer Worte, daß sie ihm und nur ihm gehöre?
Doch ehe die paar Schritte bis zu ihr gethan waren, ehe sich die Hand nach der ihrigen ausstrecken konnte, sah er sie zittern und in den Augen wieder das Starre hervortreten, dabei etwas gleichsam Verängstigtes. Und ein unbezwingbares Empfinden wehrte ihm plötzlich jede weitere Annäherung. Erschien Alles auch nur wie Unwillkürliches, gerade daraus meinte er zu ersehen, daß sie sich im Herzen trotz aller Worte ihm nicht mehr zu eigen fühle, von ihr doch wohl bereits überwunden sei, was ihm noch jeden Nerv zucken machte. In einer Nacht überwunden!
Alma begann, zu Boden blickend, von Neuem:
„Nicht mehr Ihre Alma! Bin ich das überhaupt gewesen? Wohl haben Sie sich zu mir herabgelassen, doch an meiner Statt hätte eine Edlere, eine Stärkere stehen müssen, nicht ich armes schwaches Geschöpf.“
Wie im Schluchzen fuhr sie fort:
„Solche Starke hätte wohl auch hier ausgehalten oder wäre in die Fremde gegangen, dienend um ihr Glück – für Sie! Ertragen hätte sie die Vorwürfe, den Kummer des Vaters, seine Bitten verlacht und nur auf das Ende gesehen. Ich – ob ich seit gestern auch gedacht und mich zerquält habe, gebettelt um einen einzigen Ausweg – ich fand nichts. – Aber Sie!“ rief sie plötzlich, wie von neuer Hoffnung belebt, „Sie wissen einen. Ihr Blick sagt es mir! O mein Gott – wäre dieses noch möglich?“
Doch nur Hollfeld’s Liebe hatte sich nochmals emporgerungen. Erschien Alma doch beinahe noch rührender in ihrem Kleinmuth, dieser Schwäche, die einer Stütze so bedürftig war!
Schon faßte er sich aber und sagte mit höchster Selbstüberwindung:
„Auch ich weiß von keinem anderen Auswege, als dem, welcher für Sie der einfachste, der Ihrer Natur allein gemäße ist. Ihr Herr Vater wußte wohl, was er mit dem Abschiednehmen forderte. Hätten wir uns nicht mehr gesprochen, wäre auch in uns vielleicht Etwas zurückgeblieben, das uns immer geklagt: der Andere hätte einen Ausweg gewußt. Und das wäre uns wie ein stetes Weh im Herzen geblieben. Jetzt ist davon nichts möglich: Sie fragten schlicht und klar, und ich muß als Ihr Freund – der darf ich doch bleiben? – ebenso klar antworten: thun Sie nach Ihres Vaters Willen! Es ist so für Sie das Rechte.“
Er mußte bitter lächeln; mehr als solches Zusprechen hätte selbst Ruland nicht fordern können; das würde über eines rechten Mannes Kräfte gehen.
Es drängte ihn nun aber wahrhaft fort; so setzte er hastig hinzu:
„Ihr Herr Vater hat sich so tief in mein Gedächtniß gegraben, daß ich ihn niemals vergessen kann – es bedarf also keines persönlichen Abschieds mehr. Von Ihnen,“ er fuhr sich mit der Hand über Stirn und Augen, „doch ich will und kann mit nichts als Dank scheiden – für Alles, was so schön und hold gewesen. Es mag wohl in jeder Liebe so sein, daß wir viel von uns selbst dazu thun und die Geliebte dann gerade in dieser Gestalt sehen. Bald – bald werde ich Sie auch wieder so sehen; – im Augenblicke nur vermöchte ich wohl gar nicht, Allem gerecht –“
„Auch Sie denken nun klein von mir,“ fiel Alma mit zuckender Lippe ein, „ich fühle es. Doch wie ich dem Vater gesagt habe, daß ich Sie nie vergessen könnte, dieser einzige kurze Sommer mein Sommer gewesen ist, so darf ich es Ihnen sagen, trotzdem ich Bob Zellina – heirathen werde, weil ich muß, wie es so Viele von uns müssen. – Und es mag ja dann auch zum Guten werden, da ich weiß, wie ich dort geliebt bin und man Nachsicht mit mir haben, nichts anderes von mir fordern wird, als daß ich eine getreue Gattin werde. Das ist mein Hoffen.“
„Alma!“
„O haben Sie tausendmal Dank! Das war er ja noch, der alte unvergeßliche Ton.“ Sie faltete die Hände über die Brust. „Jetzt nichts mehr – nichts! Ich weiß nun doch, daß Sie mich trotz all meiner Schwachheit lieb behalten werden.“
„Nur lieb behalten?“ Hollfeld schien sie stürmisch an sich reißen zu wollen – sie hatte aber das Gesicht in den Händen verborgen.
So wandte er sich mit einem Schmerzenslaut ab und verließ, ohne sich noch einmal umzukehren, das Zimmer.
[460] Ueber eine Woche war vergangen. Eine Woche, die draußen in der Natur mit Sturm und Regen begonnen hatte, nach ein paar Uebergangstagen aber gleichsam durch einen neuen Sommer überraschte. Es war eine Wärme in der Luft – ganz wundersam: Schwärme von Mücken tanzten wieder; verspätete Schwalben jagten und Schmetterlinge, weiße, matte, sonnten sich ein letztes Mal.
Nicht sonderlich anders war es in Alma’s Gemüthsleben ergangen. Sie hatte sich in den ersten Tagen nach Hollfeld’s Abschied immer von Neuem in’s Gedächtniß zurückgerufen, was dabei gesprochen worden: und seltsamerweise war ihr gerade der Ausdruck seiner Mienen bei dieser und jener Wendung des Gesprächs gleichfalls mit erschreckender Deutlichkeit gegenwärtig gewesen. Nicht seine Worte ängstigten sie darum so, wie das, was er trotz seiner Weichheit in den letzten Augenblicken jetzt über sie denken möchte. Schon hatte sie deshalb beschlossen, ihm noch einmal Alles zu schreiben, was nur angedeutet, was gar nicht berührt worden, ihre ganze Schwäche, aber auch ihre Stärke – doch wozu? wozu noch? Die Frage gab schließlich den Ausschlag, es nicht zu thun. Und war es denn überhaupt etwas so Unverzeihliches – vor solchem sich Herumstoßen in der Fremde, wie vor dem Zusammenleben mit dieser Stiefmutter ein völlig unbezwingliches Grauen zu haben?
Thränen waren ihr immer Erleichterung. Nur an dem Morgen von Hollfeld’s Abreise hatte sie keine gefunden: da war sie ruhelos durch Garten und Haus geirrt und hatte ihr einziges Genügen daran gehabt, ihn zu geleiten von Station zu Station. Und als ihre Gedanken am Abend gleichsam still standen, er an Ort und Stelle sein mußte, da war es erst über sie gekommen – das Gefühl des Geschiedenseins auf ewig.
Doch die erschöpfte Seele verlangt nach ihrem Gleichmaß, nimmt darum das Geringste, was dazu verhilft, mit doppelter Dankbarkeit hin: und Alma’s Vater, sobald er fühlte, daß sein Zweck erreicht war, die Liebe zu Hollfeld seinen Plänen – mindestens nicht mehr hindernd im Wege stand, hatte der Tochter gegenüber sofort wieder die alte joviale Weise angenommen, die ihn so liebenswürdig und Alma zufrieden und ruhig machte. Er schien ihr dann ja nur ein älterer Freund und sogar ein milder, kein strenger. Besonders jetzt that er ihr durch wahrhaft freie, jedoch wie ganz selbstverständliche Zuvorkommenheit zu Liebe, was er wußte, und hatte wohl auch Frau von Lossen bewogen, sich ihr mehr zu nähern. Diese holte sie an zwei Tagen hinter einander zu Morgenspaziergängen ab und plauderte dabei so ungezwungen und heiter, daß Alma diesem Grundzuge ihrer eigenen Natur um so weniger besonderen Widerstand entgegensetzte, als keinerlei Anspielung auf Vergangenes fiel. Eine solche konnte aber nicht fallen, da Ruland zu Niemand, selbst zu Frau von Lossen nicht, über Alma’s Neigung gesprochen hatte, um derselben so wenig als möglich Gewicht beizulegen und, wenn Vermuthungen oder Klatschereien bis zu Zellina’s dringen sollten, diese mit einem Scherzworte beseitigen zu können. Doch nicht einmal der Abwehr bedurfte es: der Geheimrath, welcher bereits den ganzen Sommer über gekränkelt, darum viel an’s Zimmer gebunden war, hatte keine Beziehungen nach Misdroy unterhalten, Bob war erst kürzlich angekommen, und vor Allem – der Verkehr zwischen Alma und Hollfeld hatte sich bisher nur in den einfach galanten Formen bewegt, die zwischen einem schönen Mädchen und einem feurigen jungen Officiere so natürlich sind.
Am Ende jenes zweiten Spaziergangs waren die Damen scheinbar zufällig Bob begegnet. Er schloß sich denselben an und machte auf Alma durch sein gehaltenes, wie unter leise Schwermuth gebanntes Wesen den günstigsten Eindruck. Selbst seine hohe Figur hatte, wenn er sinnend vor sich hinsah, etwas Gebeugtes, was Alma früher nicht bemerkt zu haben glaubte: dabei trat aber in keiner Weise Gesuchtes oder Forcirtes hervor; man ahnte nur, daß ihm etwas angethan sein müsse – daß er leide. Und Alma war immerhin junges Mädchen genug, es nicht quälend zu empfinden, daß sie die wahrscheinliche Ursache davon sei. Dieses Bewußtsein gab ihr nur etwas Befangenes – was freilich ihre noch ein wenig matte Erscheinung auf’s reizendste hob und Bob schließlich trotz aller Vorsätze wieder offen zeigen ließ, wie jeder seiner Gedanken von ihr beherrscht würde. So nahm man vor dem Hause, wo Ruland’s wohnten, einen verhältnißmäßig langen Abschied und Alma vergaß auf der Treppe, wer hier auch gegangen war – zum ersten Mal seit Hollfeld’s Scheiden. Sie sprach Bob dann nochmals und zwar auf längere Zeit; der Geheimrath besuchte wiederholt ihren Vater, wobei die Herren besonders herzlich gegen einander waren – bis der Pathe einmal wieder vorfuhr und in aller Form den Freiwerber für den Sohn machte. Ihr Vater stand leuchtenden Blickes dabei; der Pathe wußte so warme Worte für seinen Bob zu finden – und für den neuen Sonnenschein, der mit ihr auch für ihn, den Alten, Kranken in’s Haus und Leben dringen müsse. Kurz ihr Ja kam ihr gar nicht so schwer an, als sie sich das gedacht hatte.
Natürlich bestand der Geheimrath, schon damit sich sein bekannter Ruf, die beste Küche und die gewähltesten Weinkeller in der Stadt zu besitzen, wieder glänzend bewähre, auf einem solennen Verlobungsdiner. Alma hatte sich in so viel mehr gefügt – von ihrer Seite fiel kaum eine Einwendung.
So kam und ging denn auch dieser Tag, und Bob hatte mit tiefster Genugthuung gehört, wie sich Alma durch ihre Anmuth und ihr unter der Last des Glückes gleichsam erliegendes Wesen die Herzen aller Gäste erobert hatte. Das mußte er ihr noch sagen und noch viel mehr – so zog er, als die letzten fremden Equipagen fortgerollt waren, ihren Arm unter den seinigen und trat mit ihr auf jenen Balcon heraus, wo sie damals gestanden, als Alma vor ihm geflüchtet war. Mit glücklichen Augen erinnerte er sie daran.
[473] Alma bat ihn, ihres früheren Zusammenseins auf diesem Balcon nicht zu gedenken.
„Ei, ei,“ sagte Bob neckend, „woran man nicht gerührt haben will, das pflegt noch eine Macht zu sein: vielleicht gar eine unüberwindliche?“
Er lachte übermüthig auf.
„Ein so liebenswürdiger Papa,“ begann er wieder ernster, „ist aber eine Macht; ich hatte das gar nicht geglaubt, und mußte es schwer empfinden lernen.“
„Schwer?“ versuchte auch Alma zu scherzen, da er schwieg, „die paar Tage –“
„O, nicht in Jahren,“ fiel er hastig ein, „habe ich so viel bange Stunden durchlebt, wie in den paar Tagen, wie Du lächelnd sagen darfst.“
„Wirklich lächelnd?“ dachte sie bei sich, „meine Stunden waren andere noch!“ Sie blickte in die Weite und sagte:
„Nun ist Alles lange überwunden.“
„Das war,“ versetzte Bob, aufmerksam geworden, „als hättest Du doch gelitten?“
Sie sah ihn still an.
„Es lag in der Betonung Deiner Worte,“ fuhr er, wie sich entschuldigend, fort. „Du dachtest dabei nur an mich – ich verstehe nun schon. Und aus ganzer Seele danke ich es Dir; denn die Schwäche muß ich gleich von Anfang eingestehen – ich bin eifersüchtig. Ich werde es bei Dir immer sein; das fühle ich mit wahrhaftem Entzücken, eifersüchtig auf jeden Deiner Gedanken, den geringsten Deiner lieben Blicke. Du erschrickst darüber?“
Alma schüttelte das Haupt.
„Nein, Du dürftest es auch nicht. Obgleich wir Zellinas aus dem Süden stammen und uns vielleicht noch Tropfen heißeren Blutes bewahrt haben – was man dem Worte nach eifersüchtig nennt, das bin ich nicht. Nichts vom armen Othello! Ich bin nur mit Eifersucht der Wahrheit ergeben: Gemachtes oder gar Erheucheltes vermöchte ich nicht zu ertragen. Und das war immer so. Darum bin ich selbst von meinem Berufe, wo ich überall Täuschungen und Härteres in den Kauf nehmen mußte, niemals voll befriedigt worden, und ich freue mich unaussprechlich unseres neuen Lebens. Verborgen auf dem Lande, nur mit Dir und der Natur vereint – Alma, mir ist, als gingen wir schon auf Erden aller Seligkeit entgegen. Schilt mich nicht Schwärmer! Warum hast Du mich trotz des Wehes dieser letzten Tage so wahrhaft beglückt? Sah ich, fühlte ich doch, daß mein gutes Glück mich nicht irre geführt; Du wie ich – wir sind ganz Wahrheit. Eine Andere hätte vielleicht mehr an Aeußeres gedacht, sich wohl gar gebunden, obgleich in ihr nichts für mich gesprochen hätte. Du überwandest vorher, was in Dir gegen mich gewesen, und erst, als Du fühltest, wie Du mich glücklich machen dürftest, da gönntest Du Dich mir. Ist es anders?“
Alma senkte den Kopf, daß ihre Locken über Bob’s Arm fielen. Ein Bitten kam aus ihrem Herzen heraus, seine Wahrheit mit der ihrigen zu lohnen, wirklich ganz das zu sein, was er zu finden wähnte, doch ein kluges Zögern flog einem Hauche gleich hinterher, und der Hauch siegte über das Schwere. Selbst hier – wozu ein solch Erörtern und Bekennen? So zart war Alles geblieben; darüber zu sprechen – das hätte nur wieder herbe oder traurig machen können. Und sie hatte ja mit dem Vergangenen gebrochen.
„Bin ich auch nicht, was Du mir zutraust,“ sagte sie, „– es werden zu wollen, darf ich Dir versprechen.“
„Alma! Meine Alma!“ rief Bob da mit einem Jubelton, daß selbst die Natur aufzuhorchen schien. Einen Augenblick verstummte alles Rauschen in den Ulmen; das Geschrei der Eulen brach plötzlich ab – und ein blasser Strahl des Mondes ruhte wie segnend auf den jungen Häuptern.
Der geheimnißvolle Kreislauf von Herbst und Winter, Frühling und Sommer hatte sich beinahe vier Mal wiederholt. Zwar stand jetzt das Getreide noch überall auf den Feldern, doch fielen bereits hier und da wieder früh ergilbte Blätter, und die natürliche, reifende Sommerhitze ging in die schwüle Gluth letzter Augustwochen über.
Für das Haus und die Familie Zellina hatten die vergangenen vier Jahre mancherlei Veränderungen gebracht. Schon im Frühjahr nach der Hochzeit Bob’s erlag der Geheimrath seinen nach und nach immer peinigender gewordenen Leiden. Da er sich in Folge des Steigerns derselben von seiner gewohnten Umgebung allzu schwer getrennt hätte, Frau von Lossen es auch wie eine Pflicht empfunden, treu bei ihm auszuharren, war deren Vermählung mit Ruland erst im Beginne des Herbstes nach des Geheimraths Hingange in aller Stille erfolgt.
Der Tod des Vaters hatte Bob genöthigt, längere Zeit hindurch in der Stadt zu wohnen, da er das väterliche Bankgeschäft, nachdem das Erbgut seiner einzigen Schwester herausgezahlt worden, sofort auflöste, um sich seinem Geschmacke nach fortan ganz auf’s Land zurückzuziehen.
[474] Alma hatte sich ohne ein Wort des Widerspruchs in diese Veränderung gefügt, obwohl sie es eigentlich lieber gesehen, daß der Modus des ersten Jahres ihrer Ehe, den Winter in der Stadt zuzubringen, beibehalten worden wäre. Doch machte ihr das große ländliche Hauswesen auch genügend Freude, um nicht zu viel zu vermissen, besonders da gerade von Sunditten aus ein reger Verkehr mit benachbarten Gutsbesitzer-Familien möglich war. Das Rege des Verkehrs wechselte allerdings: mitunter schienen sowohl Bob wie Alma desselben wahrhaft zu bedürfen, und man fuhr in der einen Woche mehrere Mal aus, um in der nächsten wieder ebenso oft Gäste zu empfangen, die mit einer gewissen Dringlichkeit eingeladen wurden. Es folgten aber auch Zeiten, wo ihm die geringste Veranlassung genügte, ganze Monate lang nicht das Haus zu verlassen: kaum daß die Stadt, wo Bob die Villa des Vaters als Absteigequartier behalten hatte, in Geschäften oder Alma’s Eltern wegen aufgesucht wurde. Und merkwürdiger Weise kamen sich die Eheleute in diesem Wechsel der Stimmungen stets entgegen.
Schon nach dergleichen Aeußerlichkeiten behauptete man übrigens ziemlich allgemein, daß die Ehe der Sunditter Gutsherrschaft eine glückliche wäre – und etwaige vereinzelte Zweiflerstimmen wurden immer bald zum Schweigen gebracht.
Aber selbst, wenn es Jemand gewagt haben würde, Alma persönlich über ihre Gefühle auszuforschen, so hätte sie einen Zweifel an der Vollkommenheit ihrer Ehe wahrscheinlich nur für etwas Kurzsichtiges oder gar Böswilliges angesehen. Was Bob bestimmte, war ihr genehm; was sie anordnete oder für nöthig fand, hieß er gut – es war in Wahrheit ein kaum anderes, nur weit vielseitigeres Leben, als das, in welchem sie sich einst an der Seite ihres Vaters so wohl befunden hatte. Freilich war es zu dieser Höhe ihres Glückes eigentlich erst im letzten Jahre gekommen, seit Bob so viel stiller und dadurch dem Vater – während der liebenswürdigen Zeiten desselben – gleichsam ähnlicher geworden war: in den früheren Jahren hätte sie sich wohl über allerlei Nervositäten ihres Mannes, zuweilen sogar gewaltsame Ausbrüche von Heftigkeit beklagen können. Daß ihr Kinder versagt worden, blieb allerdings ein leiser Schatten – dieses immer ungetrübtere Zusammenleben mit ihrem Gatten ließ aber ja selbst dieses Entbehren kaum recht empfinden.
Ob der Gatte gleichfalls so freundliche Antwort auf irgend eine thörichte Frage nach seinem Glücke gegeben hätte? Wie gern nähme man es an! Wer Bob jedoch früher gekannt, vor Allem in seiner letzten Wiener Zeit, wäre schon durch sein zerstreutes und abgespanntes Wesen – was Alma „still“ nannte – kaum darauf gekommen, daß es derselbe Mann sei, der damals so viel Leben sprühte und in seinen Kreisen wegen des weltmännisch Feinen seines ganzen Auftretens und einer dabei gleichsam unberührten Reinheit des Herzens eine gewisse Aufmerksamkeit erregt hatte.
Heute schien jenes reiche innere Leben einer Art von Gleichgültigkeit gegen Alles gewichen zu sein. Höchstens bemerkte man ein Bemühen – und selbst das mehr äußerlich – der Gattin nachzueifern und, wie diese, nur in dem neuen Berufe aufzugehen. Da keine Kunst, selbst Musik nicht, die Bob in Wien gleichsam mit zur Lebensluft geworden, ein tieferes Bedürfniß für Alma war, vernachlässigte auch er nach und nach, wie selbstverständlich, sein früher so bewundertes Clavierspiel, ja regte nach einigen Absagen, welche er sich von Alma aus den nichtigsten Gründen geholt hatte, nicht einmal mehr zu Fahrten nach der Stadt an, wo ein reges Musikleben herrschte und darum gediegene musikalische Genüsse nicht zu den Seltenheiten gehörten.
Für jeden tiefer Blickenden, als Alma, für jede wahrhaft liebende Frau hätte ein solches Aufhören von Gewohnheiten, die mit dem ganzen Menschen verwachsen sein mußten, etwas Beunruhigendes gehabt – sie empfand es aber eher angenehm, daß in all solchen Beziehungen keinerlei Ansprüche mehr an sie gemacht wurden, und nahm es nur leichthin als eine jener freundlichen Rücksichten Bob’s, an welche sie sich längst gewöhnt hatte – die sie nun beinahe schon als ihr einfaches Recht ansah.
Da die Gatten außerdem in getrennten Flügeln des Schlosses wohnten – was man aus dem Stadtaufenthalt (wo eine bauliche Veränderung dazu gezwungen) mit nach Sunditten hinübergenommen hatte – so sahen sie sich oft Tage hinter einander nur während der Mahlzeiten. Bei diesen gab es aber, in der Regel von Alma angeregt, so viel Wirthschaftliches zu besprechen, daß das innere Leben der beiden Gatten überhaupt wenig oder gar nicht hervortrat. Mindestens bei Alma nicht; in Bob rang sich wohl bei der geringsten Veranlassung immer noch die Hoffnung empor, daß ihm für sein aufopferndes Dienen endlich der Lohn würde, der einzige, den er ersehnte: Alma ihren unerschütterlichen Gleichmuth verlieren, in ihren Augen wieder den Goldglanz von ehemals aufleuchten zu sehen; sie ergab sich ja in Alles, was er verlangen mochte – mit einem Lächeln konnte sie gewähren – aber Liebe, Liebe mußte anders geben.
Dieses Bewußtsein, nicht geliebt zu werden, war ihm eben vom Beginn seiner Ehe an unerbittlich aufgegangen, und er fühlte es noch heute in demselben, eher geschärften Maße in sich. Wie oft hatte er sich gefragt, ob Alma überhaupt anders könne, ob es nicht Naturen gäbe, die, gleichsam den Blattgewächsen ähnelnd, nie eine Blüthe trieben? Was bedeutete dann sein Ringen – er konnte davon nicht lassen. In noch schwereren Stunden flüsterte es ihm sogar zu: nur dich kann sie nicht lieben; du allein vermagst in ihr nichts zu wecken; Andere vermögen es. Und er beobachtete sie dann im gesellschaftlichen Verkehr, in Freundeskreisen und bei Festen – in stiller Qual, halb fürchtend, halb hoffend; doch blieb sie sich in jeder Umgebung unverändert gleich – selbst im wildesten Tanze ganz Ruhe. Sah sie dabei aber einmal zufällig nach der Richtung, wo er stand, oder nickte ihm gar beim Vorübertanzen zu, so bat er ihr wohl heimlich Alles ab und verurtheilte sich ob seines Kleinmuthes. War sie doch, was er einst von ihr gefordert hatte: in jedem Zuge wahr und nichts erheuchelnd. Durfte er ihr also um ihrer Eigenart willen zürnen?
Es nahm nur von dem vielen Traurigen nichts. Auf Ganzes hatte er gehofft und bloßes Stückwerk höhnte ihm überall entgegen. Wie verachtenswerth wollte ihm in solchen Stunden das Menschsein vorkommen! Doch mußte es getragen werden; denn trotz Allem wußte er es immer klar, daß selbst dieses Leben noch ein gewisses Glück in sich schloß – besaß er die Eine doch, die ihm Alles war. Und konnte nicht in jedem Augenblick die Liebe über sie kommen? War das noch nie dagewesen? O gewiß! Darum warten – geduldig warten! Müde durfte das mit der Zeit machen, doch nur müde.
Schon im Frühjahr war in der ganzen Gegend davon die Rede gewesen, daß ein Theil des großen Generalstabs eine Neuaufnahme der Küste veranstalten würde. Wegen anderweiter Aufgaben war es wohl damals nicht dazu gekommen; jetzt im Spätsommer, kurz vor den Manövers, trafen aber plötzlich noch Generalstabs-Officiere zu diesem Zwecke ein und wurden in Sunditten wie verschiedenen benachbarten Gütern einquartiert.
Alma, welche an jeder militärischen Einquartierung eine ganz besondere Freude hatte – da sie auch ein Militärkind sei, wie sie gern behauptete (ihre Mutter war die Tochter eines Majors gewesen) – nahm die Herren mit gewohnter Auszeichnung auf. Bob erschienen Gäste, da die Ernte beginnen sollte, jetzt weniger bequem. Dennoch widmete er sich denselben in ihren unbeschäftigten Stunden auf’s Zuvorkommendste, ging und ritt mit ihnen aus oder begleitete sie auf Besuchen in der Nachbarschaft, welche auch Alma mitzumachen pflegte.
So hatte er heute die Einladung seines nächsten Nachbarn, eines Herrn von Grumbach, zum Beginn der Ernte desselben angenommen und fuhr nun mit seinen Gästen und Alma schon am frühen Nachmittag von Hause fort. Als sie kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, kam ihnen eine Cavalcade von Damen, Officieren und anderen Herren entgegen gesprengt, um ihnen das Geleite nach Krackow, der Besitzung Herrn von Grumbach’s, zu geben.
Nach der Vorstellung der Officiere und einem lebhaften Hin und Her von Begrüßungen setzte sich der ganze Zug wieder in Bewegung und langte schließlich unter lautem Lachen und Scherzen in Krackow an. Alma vorzugsweise schien sich in wahrhafter Aufregung zu befinden: das Blut kam und ging in ihren Wangen, und sie hatte sich mit fieberischer Lebendigkeit an der Unterhaltung betheiligt, welche auf ihrer Seite, dem Gatten abgewendet, geführt worden. Es war nämlich vorher, beim Begrüßen der Officiere unter einander, ein Name gefallen – als der eines noch nachträglich in [475] Krackow Angelangten – welcher sie im ersten Augenblick vollständig fassungslos gemacht hatte. Und doch dankte sie dem günstigen Zufall, der sie auf das Bevorstehende gleichsam vorbereitet; immerhin war es nun ein Gerüstetsein, jedes Verbergen so viel leichter.
Trotzdem überflogen ihre Blicke bei der Einfahrt in den Hof mit Bangen – und zugleich unbewußt mit heller Freude die Gesichter der auf der Rampe Stehenden. Er schien nicht darunter zu sein. Sie streifte nochmals Kopf bei Kopf – da ganz im Hintergrunde traf sie auf ein Augenpaar, wie es für sie nur ein einziges auf der ganzen Welt gab. Und die Blicke dieser Augen suchten noch die ihrigen, hatten also nichts vergessen, wie sie nichts vergessen hatte: Alles noch wie damals, als geschieden werden mußte! So sollte das wehe Ende wirklich noch einmal neuem Anfang weichen?
Zusammenschauernd besann sich Alma, und ihre fliegende Röthe erblich.
Da hielt der Wagen auch, und die fünf Grumbach’schen Kinder – alle vier Mädchen und der süße blonde Junge drängten sich lärmend an die Tante heran. Alma küßte sie, nahm Liddy an die eine, Mäxchen an die andere Hand und verbeugte sich gleich darauf trotz einer zum Herzen stürzenden Blutwelle, die sie zu ersticken drohte – auf’s graziöseste, als Frau von Grumbach ihrem Gatten und ihr den Lieutenant Freiherrn von Hollfeld vorstellte. Bob erinnerte sich auf die Frage des Officiers nicht, ihm jemals im Casino der Stadt begegnet zu sein; Alma, von ihren kleinen Begleitern vorwärts gezogen, schritt weiter und verschwand mit den übrigen Damen in den Zimmern der Frau vom Hause.
Nach einer Weile kehrten die Damen in den Gartensaal zurück, und nachdem eine Erfrischung herumgereicht worden, begab sich die ganze Gesellschaft nach dem nächst gelegenen Roggenfelde, das gleich an der einen Seite des Parks begann und auf welchem deshalb mit der Ernte angefangen worden.
Alma ging am Arme ihres Gatten. Sie wurde wie gewöhnlich von den Kindern umschwärmt, welche ihr nach einander und stets mit derselben Wichtigkeit mittheilten, wie auch jedes von ihnen einen „ganzen Nickel“ bekommen hätte – und daß sie die Hulda binden würde.
Bob hatte, obwohl er mit andern Gutsbesitzern in ein Gespräch verwickelt war, gleich vorher bei Alma’s Wiedereintritt die Veränderung in ihrem Wesen und ihr besonderes Aussehen mit höchster Ueberraschung bemerkt. Und dabei schien sie ihn zu suchen: nicht nur wiederholt mit Blicken – sie war schon ein zweites Mal plötzlich an seiner Seite gewesen und hatte seinen Arm genommen. Es war ihm erschienen, als verlange sie nach Schutz. Aber weshalb? Hier in der großen Gesellschaft, von beinahe lauter Bekannten umgeben?
Er wollte sie schon fragen, sie necken – davor warnte ihn aber etwas: warum den Zauber stören? War das nicht beinahe schon, was er geträumt, so heiß ersehnt hatte? Jetzt glänzte ihr Auge; jetzt schien es von innerem Glück zu glühen – und ihm – ihm galt das! Doch nur einen einzigen Grund dafür? Warum gerade jetzt?
Er zermarterte sich das Gedächtniß: seit Wochen, seit Monaten war nie ein Anlaß gewesen, über sich oder sein Fühlen zu sprechen. Was war vorgegangen? Einer der Officiere hatte Mittags in so feiner Weise auf Alma und das Glück solchen Besitzes getoastet. Bob hatte sie dabei angesehen: mochte in seinen Augen Anderes gestanden haben, und hatte sie das endlich gerührt? Wollte sie endlich versuchen, ihm gerechter zu werden? Aus solchem Kleinen könnte so unsagbar Großes hervorgehen? Aber Nichts mehr von kaltem Sinnen! Hinnehmen – wie alles Höchste geschenkt hingenommen werden muß. Erdient in den langen Jahren war ja doch Alles.
Und so ruhten auf dem schönen Paar, das dem größeren Theil der Gesellschaft ein wenig voranschritt und, umflattert von all den holden Kinderengeln, wie vom Glücke selbst geleitet schien – viel bewundernde Augen.
Es war ein ziemlich schmaler Rain, einen Graben voll Brombeergesträuch und Gaisblatt entlang, auf welchem man der Stelle zuschritt, wo der Haupttheil der Schnitter Garben band oder dieselben in Wiepen zusammenstellte. Sobald man diesem Platze näher gekommen war, flogen die Kinder in einem wahren Wettlauf auf ein jugendliches Mädchen zu, welches durch sein grellrothes Mieder vor allen Anderen hervorleuchtete. Gleich einem Völkchen Repphühner blieben sie um ihre Hulda stehen und ließen sich, Jedes unter dem Jubel der Uebrigen, ein Sprüchlein sagen und einige Roggenhalme um den Arm binden, worauf halb stolz, halb zögernd der „ganze Nickel“ in die offene Hand der Binderin fiel.
Als sich nun auch Zellinas näherten, verließ ein hübsches, kräftiges Mädchen mit solchem Garbenbande in der Hand die Reihe der Schnitter und trat mit niedergeschlagenen Augen und brennender Röthe aus den Wangen, aber in natürlich sicherer Weise an sie heran.
Während Liddy rief: „Ach, die Auguste!“ schlang diese ihre Wiede um die vereinten Hände der Gatten und sagte ohne zu stocken:
„Ich hab’ es vernommen,
Daß der gnädige Herr
Und die gnädige Frau
Sind gekommen.
Ich will sie bestricken
Mit lieblichen Blicken,
Mit lieblichen Sachen.
Viel Complimente
Kann ich nicht machen.
Ist mein Band auch schlecht,
Ist mein Wunsch doch recht.
Es ist kein Band aus Disteln und Dorn’;
Es ist aus reinem Roggenkorn.
Auch bind’ ich’s nicht zu los und nicht zu fest,
Daß es sich wieder lösen läßt.“
Alma fühlte, daß bei dem letzten Verse ihres Gatten Arm zuckte, und sah erschrocken, wie er finster und völlig geistesabwesend vor sich hinstarrte. Die übrige Gesellschaft war zum Theil herangetreten und stand plaudernd im Kreise umher; Auguste ging nach einem schüchternen Aufblick seitwärts fort.
Bob schien nichts von Allem zu bemerken. Verlegen suchte Alma ihre Hand frei zu machen: da sah er sie aber mit einem so entsetzten Blicke an, daß sie wie vor etwas Unerträglichem die Augen schloß. Das gab ihm die Besinnung wieder, und er vermochte sich sogar zu den gleichfalls gebundenen Grumbach’s mit dem Scherze zu wenden:
„Nicht wahr, solche neu getrauten Paare dürfen mindestens den Tag nicht wieder aus einander gehen?“
Der joviale Grumbach stimmte lebhaft zu und schloß, wie zur Bekräftigung, seine Gemahlin in die Arme und küßte sie herzlich.
Das that Bob nicht, doch ließ er Alma’s Arm nicht los und ging mit ihr auf Auguste zu. Während er derselben sein großes Lösegeld in die Hand drückte, sagte er:
„Ihr müßt aber die letzten Verse ändern. Da sollte gerade etwas von niemals Lösen vorkommen. Wie lauten sie doch?“
Auguste wiederholte nach kurzem Besinnen:
„Es ist kein Band aus Disteln und Dorn’;
Es ist aus reinem Roggenkorn.
Auch bind’ ich’s nicht zu los und nicht zu fest,
Daß es sich wieder lösen läßt.“
„Euer Band,“ fuhr Bob fort, „soll doch Segen, dauernden Segen bedeuten?“
„Das wohl!“ erwiderte Auguste.
„Nun so müßt Ihr künftig etwa sagen:
‚Drum bind’ ich’s nicht zu los – ich bind’ es fest,
Daß es sich nimmer lösen lässt.‘“
„Ja – aber?“
Auguste stockte, erröthete wieder bis in die Schläfen hinauf, streckte jedoch die Hand mit dem Gelde ein wenig vor.
„Wie wird es dann mit dem Auslösen, meinst Du?“
Sie nickte.
Bob sah Alma an, welche lächelte. So lachte er auch und meinte, indem er sich abwandte:
„Da wird es freilich wohl beim Alten bleiben müssen.“
Die Damenwelt mit den Kindern und einigen der Officiere trat den Rückweg an: die übrigen Herren gedachten noch ein Stück weiter in die Felder zu gehen, wo ihnen Grumbach besonders gut stehenden Weizen zeigen wollte. Bob hatte Alma zum Abschiede zwar nur stumm die Hand gedrückt, sah ihr aber noch eine ganze Weile nach, während ihm einer der Gutsbesitzer den Körnerertrag des diesjährigen Weizens pries. Die Wiede behielt er um seinen Arm geschlungen.
[476] Als die Herren wieder den Park betraten, blieb Bob hinter ihnen zurück und schlug einen Nebenweg ein, der, wie er wußte, in einer geschorenen Buchenhecke dicht am Hause endete. Es verlangte ihn darnach, noch einige Augenblicke mit sich allein zu sein; denn wenn das Große, was gewesen, die Fluth seiner Gedanken, auch längst wieder stillem Besinnen Platz gemacht hatte – ein Hauch davon war noch immer um ihn, und schon dieser Hauch schien so köstlich, daß er beachtet sein, genossen werden mußte.
Wenn ein lieber Zufall sie doch auch ihn suchen ließe, er sie gerade auf diesem Wege fände!
Seine Phantasie stellte ihm Alma so treu vor; er sehnte sie herbei, daß es ihm war, als dürfe er nur noch jene Biegung erreichen – da werde sie stehen in all ihrer Schöne. Wie möchte das von der untergehenden Sonne erglühende Laub da hineinstimmen! Es wäre, als stiege sie aus dem Himmel zu ihm hernieder.
Doch er kam an die Biegung und an noch eine – Niemand, so weit er sehen konnte; nur Sonnenfunken tanzten am Boden vor ihm hin, und der Abendwind raschelte in den Blättern.
Er war rasch zugegangen. Diese Eile, sein ganzes Gebahren erschien ihm plötzlich ein wenig lächerlich. Hatte er nicht überhaupt zu viel gesehen? Oder sein heißes Wollen nur vergrößert, was irgend ein Ungefähr heraufbeschworen hatte? In Gegenwart von Kindern war sie stets eine Andere. Aber nein! Diesmal war es mehr gewesen – viel mehr. Darum war an seinem Treiben auch nichts lächerlich, sonst wäre alles Empfinden lächerlich. Und daß der Gatte endlich die Gattin finden sollte – gab es Höheres? Entschuldigte diese Hoffnung, die Möglichkeit solchen Erringens nicht jedes Thun? Was bedeutete es also, sich wie ein Liebender anstellen zu müssen, nicht wie ein Ehemann von Jahren? War er nicht noch ein Liebender? Ist der etwas Anderes als ein Werbender? Und warb er nicht heute noch?
Während er sich so beschwichtigte und die dunkle Empfindung, er sei dennoch zu weit gegangen, zum Schweigen bringen wollte, war er an die letzte Biegung des Heckenweges gekommen und stand nun dem Hause gegenüber. In dem Ausgange der Hecke, wie in einem Rahmen gefaßt, lag eines der breiten Fenster des Gartensaals vor ihm. Der eine Fensterflügel stand offen, und an demselben lehnte der Officier, welcher vorher behauptet hatte, ihm bereits einmal vorgestellt worden zu sein. Die ernste Würde seines Kopfes fiel jetzt besonders auf: Das Profil schien von classischer Reinheit, und der dunkle, kurze Vollbart gab dem Ganzen etwas kraftvoll Männliches. Er mußte eindringlich sprechen; sein Mienenspiel war so erregt. Unwillkürlich schritt Bob mehr nach links hinüber, um zu sehen, mit wem er spräche. Solch ein blaßblaues Kleid, die vielen Spitzen trug nur Eine. Noch aber konnte er das Gesicht nicht sehen. Da – als vermöchte sein Wünschen doch in die Ferne zu dringen, bog sich Alma mehr vor und stand, die Hände leicht vor sich hin geschlossen, in einer Haltung vor dem Officier, welche Bob athemlos an der Stelle haften ließ. Wie unaussprechlich reizend sie war! Diese holde Jungfräulichkeit! Doch der Kopf – so demuthsvoll gesenkt? Ihr ganzes Sein wie völlig an den Fremden hingegeben? Er mußte sich täuschen. Nun sah sie aber auf. Zu dem Officier auf. Dieser nicht endende Blick!
Bob’s Rechte krampfte sich zusammen; seine andere Hand faßte nach den Buchenzweigen. Und in heiserem Flüstern kam es über seine Lippen:
„Der also war es? Nichts weiter? Und dennoch! Nichts ist’s – blankes Nichts! Wie könnte Eine so jungfräulich rein aussehen und Gedanken im Herzen tragen – Gedanken! Nein – nein! In solchem kleinen Nachmittage kommt Keine so weit, die immer ehrbar gewesen. Da ist es auch fort – das Bild! Der Officier stand wieder allein am Fenster. War er vielleicht vorhin auch allein gewesen? Hatte nur das überhitzte Blut – –? Nicht – nicht doch! Da gestanden hatte auch sie.“
Bob kehrte sich jäh um und ging den Weg zurück, den er gekommen war.
Erst nachdem man Licht angezündet und die älteren Herren sich zum Spiel niedergesetzt hatten, stand er plötzlich an einem der Spieltische.
„So!“ rief der Regierungsrath Ruland, indem er die Kellerschlüssel wieder an ihr Brett hing und eine mit Spinnweben und Staub bedeckte Flasche auf den Tisch stellte. „Jetzt ist meine Alte“ – er duckte sich, wie über sich selbst erschrocken, „verrathe mich nicht! – auf den Trab gebracht, und ich habe uns ein Fläschchen vom väterlichen Steinberger – beinahe glaube ich, es ist Vierunddreißiger! – heraufgeholt. Nun wollen wir uns hier in aller Gemüthlichkeit etabliren! Vor zwei Stunden kehrt meine Frau von der Oberräthin nie zurück, und mehr Zeit werden Deine Eröffnungen wohl nicht beanspruchen.“ Er setzte auch Gläser auf und schenkte dieselben, nachdem er die Flasche behutsam entkorkt hatte, voll. „Also Bobchen – ein pereat jeder Kopfhängerei!“
Während die Gläser zusammenklangen und der Rath behaglich seinen Feuerwein schlürfte, sagte Bob, der nur am Glase genippt hatte:
„Ich hänge nicht den Kopf.“
„Qui s’excuse und so weiter!“ lachte der Rath, indem er sich gleichfalls auf’s Sopha setzte. „Und im Grunde bist Du noch nicht einmal direct angegriffen worden. Doch nun los die Klage! Ich bin wirklich sehr neugierig, da Du so dringend auf dieser Unterredung bestanden hast.“
„Es ist eigentlich blos eine Frage –“
„Schade, daß es nicht zehn sind! Der alte Junge hier“ – Ruland goß sich von Neuem ein – „löst jede Zunge, und wenn Du ein Stündchen Geduld hast, kannst Du nicht mehr als Alles von mir herausbekommen.“
„Du würdest mich verbinden, wenn Du Dich ein wenig ernster stimmen könntest.“
Der Rath sah den Schwiegersohn groß an.
„Versteht sich nun von selbst!“ Eine Falte leichten Mißvergnügens vertiefte sich dabei zusehends auf seiner Stirn.
Bob zögerte einen Augenblick, dann fragte er kurz:
„Hat Baron Hollfeld meiner Frau einmal näher gestanden?“
„Wie kommst Du auf dergleichen? Näher gestanden!“ erwiderte Ruland langsam und so voll Beherrschung, daß sich nur sein Blick ein wenig verschärfte. Er wollte durch die Gegenfrage wohl Zeit zum Ueberlegen gewinnen, oder sich doch, bevor er eine Antwort gab, möglichst darüber zu orientiren suchen, was Bob wüßte oder erfahren hätte.
„Habe ich nicht deutlich genug gefragt?“ versetzte dieser erregter. „Du thust eine Frage dagegen; das ist keine Beantwortung der meinigen. Und ich dächte, gerade mir könnte Niemand das Recht bestreiten, eine Antwort selbst zu erzwingen.“
„Ueber Dein Recht dazu will ich nicht streiten“ loderte auch der Rath auf, „doch über Deine Art – den Ton vor Allem! – Ich muß aber wohl annehmen,“ fuhr er gelassener fort, „daß etwas passirt ist, was Dir unerklärlich vorgekommen, oder gar ein falsches Licht irgend worauf geworfen hat. Darum vor allen Dingen – was ist geschehen?“
„Die Möglichkeit, daß Etwas geschähe,“ rief Bob aufspringend, „war also vorhanden? Damit wäre meine Frage ja beantwortet.“
„Ein seltsamer Schluß!“ entgegnete der Rath, die Brauen noch mehr zusammen ziehend. „Willst Du übrigens, daß wir unseren interessanten speech fortsetzen, oder wenigstens, daß ich Dir die Antwort gebe, welche Du erzwingen zu können meinst, so muß ich um größere Ruhe bitten. Ich pflege einem Menschen nie Rede zu stehen, der nicht in der Verfassung scheint, meine Argumente als das nehmen zu können, was sie sind.“
[502] Bob lehnte sich rückwärts an den Pfeilertisch, kreuzte die Arme über der Brust und sagte:
„Du siehst, daß ich wieder ruhig bin. Wenn Du ahntest, wie sehr! Und ich will sogar großmüthig sein, Dir einfach sagen, was mich zu meiner Frage veranlaßte. Unter den Generalstabsofficieren, die bei uns Aufnahmen vorgenommen, war auch dieser Baron Hollfeld. Ich sah ihn bei Grumbachs zufällig in einem tête-à-tête mit meiner Frau, das mir auffiel: so brachte ich auf der Heimfahrt das Gespräch unserer Officiere auf ihn und seine Vergangenheit; auch fragte ich Alma beiläufig, ob sie nicht schon früher mit ihm zusammengetroffen, was sie natürlich bejahte.“
„Du sagst das so pointirt –“
„Ah! ich weiß warum. Oder hätten sie sich nicht gekannt?“
„Allerdings haben sie sich gekannt –“
„Und geliebt?“
Gleich einem Schrei hatte es geklungen. Ruland schwieg einen Moment; dann wiederholte er in geringschätzigem Tone:
„Und geliebt!“
Wie außer sich, in den Augen ein glühes Funkeln, rief Bob:
„Warum erfahre ich das erst heute?“
„Weil Du erst heute danach fragst,“ antwortete Ruland mit leisem Hohne.
„Herr!“ fuhr Bob schneidend fort, „ich bitte noch einmal, endlich anzunehmen, daß es hier um Menschenschicksale geht, wobei Laune oder gar Witz unerträglich werden – wie das Verbrechen selbst!“
„Ich glaube nun doch,“ versetzte Ruland, sich ebenfalls erhebend, „wir thäten gut, wenn wir diese Materie fallen ließen.“
„Da ich Alles weiß?“
„Nichts weißt Du,“ brach der Rath, nun selbst heftig werdend, los. „Schon aus dem Tone, in welchem ich von dieser Liebelei sprach, hätte ein Anderer geschlossen, was ich damit sagen wollte. Forsche meinetwegen, bei wem Du willst! Du könntest stets nur hören, daß es sich im äußersten Falle um solches Hin und Her gehandelt hat, ohne das sich überhaupt kein Mädchenherz auswächst, das werth ist – ein Herz von Fleisch und Blut genannt zu werden. Ein paar Worte von mir am rechten Orte, und die Schaumblase zerplatzte – als wäre sie nie gewesen. Ueberhaupt jetzt noch die alte Geschichte!“
„Solche alte Geschichten,“ erwiderte Bob herb, „haben mitunter ein zäheres Leben, als wir denken. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie es um Beide steht. Die Liebe – selbst die ärmste, noch so zertretene, sieht schärfer, als alle Klugheit der Welt. Doch ich fürchte, es war schon damals mehr als eine Liebelei – Du hast das nur nicht gewußt. Warum siehst Du zu Boden? Ich will ja nichts als Offenheit.“
„Für mich war es eine bloße Liebelei.“
„Für Dich! Auch nicht etwa, weil es so paßte? – Vergieb! ich bin doch wohl ein wenig fassungslos: im Ernste könnte ich Niemand solche Schurkerei zutrauen.“
Ruland erblich bis in die geschlossenen Lippen und sagte mit Anstrengung:
„Wählerisch bist Du heute in Deinen Ausdrücken nicht.“
„Wählerisch!“ fuhr Bob wieder auf. „Du wirst doch mit mir den Mann, und zwiefach, wenn er ein Vater ist, einen Schurken nennen, einen Schurken an seinem Kinde, an dem unglücklichen Gatten, an der Ehe selbst, wenn er es über sich bringt, sein Kind mit einer Liebe im Herzen zur Ehe mit einem Andern zu zwingen?“
„Sieht man dergleichen Fälle genauer an, so findet man oft –“
„Du willst mir ausweichen!“ unterbrach ihn Bob ungestüm. „Ich habe Recht.“
,,Du hast Recht,“ versetzte Ruland in der verbindlichsten Haltung des Cavaliers.
Bob kam zu sich und sagte, seine Heftigkeit entschuldigend:
„Man ereifert sich mitunter um ganz Unnützes. Was kümmert es uns im Grunde, ob irgend welche Väter ihre Kinder zu einer Ehe oder sonst Etwas zwingen? Es bedarf übrigens dessen ja kaum. Ueberreden, schön zusprechen thut ja dasselbe und ist vor Gott und Menschen so beliebt und geehrt, weil es eben hundertmal zu gutem Ende führt. Und mit der Zeit wird man dann alt und gichtbrüchig, hockt bei einander in den Krankenstuben und lobsingt seiner glücklichen Ehe.“
„Wozu ereiferst Du Dich nun schon wieder?“
„Um einer glücklichen Ehe willen darf man sich wohl ereifern!“ antwortete Bob. „Besonders Einer, dem es nicht so gut geworden, weil er warm erschaffen und sein Lebelang aus dem Rohen herausgestrebt hat! Wenn der auf einmal findet, was er übrigens schon lange geahnt, daß ihm sein Weib nie zu eigen war, weil es in die Ehe mit ihm gezwungen – nicht doch! Weil Schaumblasen platzen gemacht wurden –“
„Du rasest.“
„O könnte ich rasen, mich ausrasen! Vielleicht würde es dann auch mit uns noch einmal gut! Freilich stünde es da schlecht um die Zusprecher oder elenden Ueberreder!“
Die beiden Männer standen einen Moment lang hochaufgerichtet, wie in den Boden gewurzelt, einander gegenüber.
„Doch,“ schloß Bob mit einer abwehrenden Bewegung, „ich werde Niemand mehr nach den alten Geschichten fragen. – Es war mir eben, als könnte die Sühne dafür von einem Andern, einem ganz Andern gefordert werden, ob der auch an Allem schuldlos ist. Nun, daß das Ende wenigstens Allen zum Heile gereiche, darauf will ich mein Glas leeren.“ Er stürzte den Wein hinunter. „Und jetzt lebe wohl! Keine gêne – ich finde meinen Weg!“ Damit fiel die Thür hinter ihm zu.
Alma saß in ihrem Schaukelstuhl; sie hatte auch eine Näharbeit im Schooße liegen, stützte aber momentan den Arm auf’s Fensterbrett und sah in den Garten hinab. Eine gewisse Sorge lag auf ihrem Gesicht: seit Bob’s plötzlicher Fahrt nach der Stadt
[503] mußte sie immer wieder an ihn denken. Allerlei wollte ihr nun sonderbar vorkommen — und gerade seit dem Nachmittage bei Grumbachs, obgleich er dort sehr heiter geschienen hatte. Schon gestern, den ganzen Tag hindurch war er gleichsam unnahbar geblieben: nichts von seiner gewöhnlichen Aufmerksamkeit. Selbst ihren Gästen gegenüber hatte er sich augenscheinlich Zwang anthun müssen und schien wie erlöst, als sie Nachmittags abreisten. Um Wichtiges mußte es sich handeln — sonst wäre er nicht während des Erntebeginns fortgefahren, was er nie zu thun pflegte. Und wie flüchtig er — ganz gegen seine Gewohnheit! — Abschied genommen, ohne einmal zu fragen, ob sie nicht Aufträge hätte! Sie persönlich konnte nicht im Spiel sein, war sie sich ja keiner Schuld bewußt!
An Hollfeld dachte sie nun auch, und eher wie verschämt, als daß sie dabei ein Unrecht empfand. — Noch viel vortheilhafter hatte er sich entwickelt. So fesselnd war Alles, wovon er sprach! Wie viel er erlebt hatte! Das Leben in einer Großstadt mußte wohl interessant sein, und sogar bei Hofe war er vorgestellt worden. Ueber die Vergangenheit war natürlich zwischen ihnen kein Wort gefallen; nur fragend angesehen hatte er sie einige Male. Eine rechte Frau bemerkt das aber nicht. Er hatte sich nur verwundert und es gewissermaßen beklagt, daß sie so ganz im Landleben aufgegangen sei. Es war im Grunde auch seltsam — was muß aber mit der Zeit nicht still werden, wenn Dasselbe einen Tag wie den andern füllt?
In einem Seufzer hob sich Alma’s Brust, als aber ihr Blick dabei über den Garten fort in die reiche, blühend schöne Landschaft fiel, wußte sie, was es ihr so verhältnißmäßig leicht gemacht hatte, sich hier an’s Landleben zu gewöhnen.
Sie lauschte. Wenn Bob nicht erst Nachmittags gefahren wäre, so müßte dieses Rollen das ihres Jagdwagens sein. Oder kam noch Besuch? — Mit diesem Gedanken ging sie nach dem Hinterzimmer.
Es war wirklich der Jagdwagen; sie öffnete einen Flügel des Fensters und wollte Bob zuwinken. Er blickte aber nicht herauf.
Selbst das nicht? Dann konnte sich seine Stimmung kaum gebessert haben. Oder sollten etwa wieder so unerquickliche Zeiten bevorstehen, wie in früheren Jahren? Das wäre doch eine harte Prüfung. Und Mancherlei deutete beinahe darauf hin.
Mit dem bestimmten Empfinden, jedenfalls auf Abwehr gerüstet sein zu müssen, schloß sie das Fenster und ging ist das vordere Zimmer zurück. Als Bob noch immer nicht herüberkam, nahm sie ihren vorigen Platz wieder ein und die Näharbeit auf’s Neue zur Hand.
Endlich gingen ein paar Thüren, und Bob trat rasch herein. Sie stand auf, setzte sich aber bei seiner oberflächlichen Begrüßung wieder; auch sagte sie nichts über seine Blässe, welche sie erschreckt hatte, da dieselbe allmählich einer starken Röthe wich. Er mußte sehr erregt sein.
„Die Eltern,“ warf er hin, „grüßen beiderseits. Sie sind wohl. Die Mutter scheint sich in Lisdroy ganz erholt zu haben — — sie sprach überhaupt befriedigt von dem dortigen Aufenthalte.“
Bob hatte die Sätze unzusammenhängend herausgestoßen; so trat Alma an ihn heran und sagte in herzlichem Tone:
„Dir fehlt etwas?“
„O, nichts — nichts!“ wehrte er kurz ab. Nach einer Pause des scheinbaren Besinnens fuhr er aber in derselben abgebrochenen Weise fort: „Mir fehlt wirklich etwas. Wie so Menschenloos ist — ‚Heute roth — —‘ es hat mich seltsam ergriffen.“
„Was? Ein Unglück?“ fragte Alma besorgt.
Er nickte.
„Ich war bei Grumbachs angefahren —“
„Eins der Kinder —“
„Nein — nein! Von den Officieren — Du kanntest ihn von früher —“
„Hollfeld?“ Alma sah Bob, der sich ihr plötzlich zugewandt hatte, wahrhaft entsetzt an.
„Heute Morgen — sein Pferd stürzte — er ist —“
„Todt!“ rief Alma, schwerfällig nach der Wand fassend.
Bob nickte wieder.
„So lieb war er Dir?“
Sie erwiderte nichts, blickte nur regungslos vor sich hin; endlich sagte sie kaum hörbar:
„Er war mein Jugendfreund.“
Bob lachte grell auf.
„Blos Dein Jugendfreund? Also Lüge gegen Lüge! So würdig sind wir unser? Nun, ich darf die meinige zurücknehmen. Ja, starre mich nur an: der Bob hat gelogen — mit Absicht gelogen — vielleicht das erste Mal in seinem Leben! Dein Hollfeld lebt — verstehst Du mich nicht? — lebt! Ich weiß nichts von ihm — bloßer Spaß war Alles — brutal, wie? Ich mußte aber wissen, wie Dir um’s Herz ist.“
„Bob!“ rief Alma, die Hände vor das Gesicht schlagend.
„O, warte nur ab!“ fuhr dieser dumpf fort. „Solcher bitterliche Spaß bringt mitunter gute Frucht. Einen Theil der Schuld hat auch Dein Vater: er wollte mir einreden, Alles wäre bloße Liebelei gewesen. Da sann und sann ich, wie das Wahre zu finden wäre — und mein armer Kopf gab nichts Anderes mehr her, nichts als lauter brutales Zeug; so nahm ich denn das erste Beste, was am sichersten schien. Du wirst das wohl vergeben müssen. Der Himmel schütze Dich, daß Du nicht noch mehr zu vergeben brauchst! Wenn Du ahntest, wie mir im Herzen — nicht da, im Kopf, in dem wüsten Kopfe! — ah! — Doch denke, Du hättest eben nur geträumt — was träumt sich nicht! Damit half ich mir wohl — damals, als es noch anders um uns stand.“
Er lächelte, wie plötzlich Alles vergessend, still in sich hinein. Dennoch hörte er Alma’s Schritte und fuhr auf: „Du willst fort?“
„Ja,“ sagte sie mit vor schmerzlicher Erregung zitternder Stimme, „sollte ich darauf antworten? Oder könntest Du mich verurtheilen noch mehr zu hören?“
Als Bob sie nur mit seinen flehenden, todttraurigen Augen ansah, ging sie stumm weiter und verschwand in der Portière, welche das Nebenzimmer von dem ihrigen trennte.
Einige Tage waren vergangen, herrliche, lichte Sonnentage. Erntewagen, bis zur höchsten Höhe aufgeschobert, schwankten nun unablässig mit ihrer goldenen Last in den Sundittener Hof wie in die Höfe seiner beiden Vorwerke. Es war in diesem Jahre ein Segen ohnegleichen, als hätte die Natur einmal versuchen wollen, wie viel sie ihren geliebten Menschenkindern zu schenken vermöchte. Frohsinn herrschte allerwegen; selbst in die kleinste Hütte war es gleich einem Strahle gedrungen, der auch hier Licht auf die Zukunft warf.
Ein Einziger hatte von dem Allem nichts bemerkt, obwohl es ihn Tag für Tag unstät hinausgetrieben: Bob mied die Menschen; er suchte die einsamsten Waldwege auf oder machte lange Ritte, und oft war es Nacht geworden, bevor er auf schaumbedecktem Pferde zurückkehrte. Je ferner Allen — um so wohler, hatte es geschienen, fühle er sich, bis er eines Morgens den Befehl gab, zwei Pferde zu satteln, da ihn der Reitknecht nach Lisdroy begleiten solle.
Dieser war förmlich froh, einmal mitgenommen zu werden. Hatte er doch schon zu den anderen Knechten gemeint: dem Herrn müsse etwas sonderlich Schweres in den Gliedern stecken — daß es nur kein Unglück gäbe!
Die Pferde waren schnell gesattelt — man ritt. Und je näher die Beiden ihrem Ziele kamen, um so ruhiger, um so ergebener sah Bob nach dem Meere hinüber, welches sich in mattem Blau, nur hier und da gleichsam von einem dunkleren Flaume überhaucht, vor ihnen ausbreitete.
Nach Bob’s Berechnungen mußten die Officiere mit ihren Aufnahmen bereits bis nach Lisdroy gekommen sein, und da heute ein Sonntag, durfte er annehmen, Den, welchen er suchte, wenigstens am Orte zu treffen — was auch der Fall war.
Hollfeld — so erfuhr Bob von dem Burschen des Herrn Lieutenant — sei so eben an die See gegangen, nach der Königshöhe zu. Dieser Zufall berührte Bob angenehm: spricht es sich doch im Angesichte des Meeres leichter als in der Enge eines Zimmers.
Er ging die bekannte Straße, die wenigen Villengärten entlang, später durch das Wäldchen, bis er, aus diesem heraustretend, nach den Dünen abbog. Drüben auf dem schattigen Wege an der Königshöhe promenirten Gruppen von Menschen; vor ihm am Strande suchten nur einige Knaben Bernstein, und in der Ferne unterschied er eine einzelne Gestalt. Ob es ein Officier sei, vermochte er noch nicht zu erkennen. So eilte er vorwärts und sah nun auch bald im grellen Lichte der Sonne, die inzwischen aus einer verschleiernden Wolke hervorgetreten war, das Glitzern von Uniformknöpfen.
[504] Trotz des ungedämpften Sonnenlichts war hier die Hitze nicht drückend: jede der langhingestreckten Wellen, die wie leise plaudernd daher rollten, schien neue Kühlung zu bringen. Bob wurde das Herz weit und weiter: diesen milden, traumhaften Zug, der Allem ringsum ausgeprägt war, empfand er als etwas ihm Verwandtes – sein Element fortan. Und er hatte einst geglaubt, daß es der Sturm – die Leidenschaft wäre.
Der Officier, welcher sich nicht umgesehen hatte, war, je mehr sich Bob ihm genähert, um so langsamer gegangen, wie in Gedanken vertieft. Jetzt stand er still und blickte nach den nächsten Hügeln der Düne, als wollte er landeinwärts gehen und so die große Straße nach Lisdroy gewinnen. Dabei blickte er zurück, den Strand entlang und erkannte nun bald den auf ihn Zuschreitenden. Daß Zellina ihn suche, mußte er wohl als selbstverständlich annehmen. So schritt er ihm entgegen und grüßte mit Bob zugleich, nur noch gemessener als dieser.
[514] „Sie werden,“ begann Bob das Gespräch, „wenn Sie mich angehört haben, hoffentlich vergeben, daß ich Sie bis auf Ihren Spaziergang verfolgte.“
„Ich bitte gehorsamst.“
„Wäre es Ihnen genehm,“ setzte Bob hinzu, „so dächte ich, wir gingen noch ein Stück weiter am Meere hin.“
„Befehlen Sie ganz über mich!“ unterbrach Hollfeld und schloß sich Bob, der bereits wieder vorwärts schritt, an.
„Nicht wahr,“ fuhr dieser fort, „Sie gestatten mir so zu sprechen, wie es der Augenblick mir eingiebt? Vielleicht manchmal formlos – sogar mit Gedankenstrichen? Es würde mir schwer fallen, müßte ich die Worte wägen.“
„Ich kann nur wiederholen,“ versicherte der Officier mit höflicher Wärme, „daß Sie über mich verfügen dürfen, Herr Zellina. Durch welcherlei Vertrauen Sie mich ehren wollen – ich stelle das Was und das Wie völlig in Ihr Ermessen.“
„Besten Dank!“ antwortete Bob, indem er leicht den Kopf neigte. „Und so denn ohne weitere Einleitung! – Ich habe nie gewußt, Herr Baron, daß meiner Heirath eine Herzensgeschichte vorangegangen; diese Vermuthung lag mir ganz fern, da der Widerstand, den Alma meiner Werbung entgegensetzte, zu gering blieb, um irgend ein Mißtrauen zu erwecken; er fand auch in ihrem Verhältniß zum Vater eine ausreichende Erklärung – wenigstens für mich, dessen – erste Liebe Alma war! Solche erste Liebe, wissen wir ja, ist nicht besonders hellsehend. So ging ich mit dem Gefühl in die Ehe, zwar keine heiß Liebende mein zu nennen, doch mindestens ein Herz, welches sich noch zu verschenken hätte. Ich hoffte ja damals noch von Tag zu Tage, nun müsse sich mir der Kelch erschließen, und das wurde mir anfangs nur ein Reiz mehr; später steckte ich schon weitere Grenzen, immer weitere – und endlich – doch was soll ich Ihnen mit Einzelheiten lästig fallen? – endlich sah ich ein, daß mein Ringen umsonst. Aber da eile ich doch zu sehr. Bevor Sie kamen, hoffte ich wohl immer noch – leise, schwach.“
Die Weise seines Sprechens hatte etwas Monotones, aber ihre Wirkung war darum nur um so eindringlicher.
„Bevor ich kam?“ fragte Hollfeld erregt. „Ich habe Ihre Frau Gemahlin jetzt ein einziges Mal längere Zeit, das heißt ein paar Minuten allein gesprochen, sonst blos Worte mit ihr gewechselt, wie das eine allgemeine Unterhaltung mit sich bringt. Und selbst in jenen Minuten des Alleinseins! – sie hatte nach meinem Leben in Berlin gefragt, ich schilderte ihr das – –“
,O Herr Baron,“ fiel Bob ein, „ich bin überzeugt, daß weder von Ihrer noch von Alma’s Seite das Geringste begangen werden könnte, was meiner Ehre zu nahe träte. Mit meinem Ausdruck – ,bevor Sie kamen!‘ wollte ich auch nicht anklagen: ich mußte ihn brauchen, da er mir zum Ausgangspunkte für Neues geworden ist, für etwas Neues, von dem ich herzlich hoffe, daß Sie es hinnehmen werden — nicht blos als Nothwendiges, auch als das einzig Rechte und darum Gute. – Bevor ich davon spreche, muß ich aber Wahrheit gegen Wahrheit fordern. Ich will nichts von Schonung. Ich bedarf deren nicht mehr: Sie mögen das im Augenblick noch nicht so begreifen – ich stehe nun aber darüber, und Alles ist für mich wie ein Fremdes.“
Bob war stehen geblieben und hatte unverwandt in die Ferne gesehen, hinüber nach der zarten Linie, in der sich das Meer vom Himmel schied.
„So weit ich verstanden, wollten Sie eine Frage thun?“ begann Hollfeld die Unterhaltung von Neuem.
Bob wandte sich langsam um und sagte:
„Gewiß – eine Frage, auf welche die Antwort so selbstverständlich ist. – Was Sie damals für Alma empfanden – es ist nicht anders geworden?“
„Herr Zellina!“
„Ich kann es Ihnen noch leichter machen: es braucht nur einer Antwort, wenn ich im Irrthum sein sollte. Dann hätten Sie also vergessen, und das wäre jetzt ein Unglück, Herr von Hollfeld.“
„Ich fasse Sie nicht.“
„Sie werden es sogleich; denn ich darf ja nun annehmen, daß Alma uns noch Beiden so lieb ist – wie sie es freilich nur um Sie verdient hat.“
„Um mich?“ fragte Hollfeld finster. „Wenn Sie wüßten! – Aber unser Gespräch ist so seltsam – auf Alles wäre ich eher vorbereitet gewesen, als darauf. Ja wie Sie eben kamen, fragte ich mich, ob irgend ein Zufall Ihnen eine Veranlassung gegeben haben könnte, mich zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Und nun?“
„Nun,“ rief Bob schmerzlich lächelnd, „stehen sich zwei Männer gegenüber, einander gleichwerthig, gleich liebend – vielleicht sogar ebenso glücklich. Wir müssen dieses Glück nur tief genug fassen. Ihnen soll jene blaue Blume erst jetzt erblühen – für mich hat das große Welken schon begonnen, dem Keiner von uns entgeht, und wenigstens das Alterthum pries auch Den, der bereits überwunden hatte. Ja, Hollfeld!“ – er reichte ihm die Hand, in welche dieser einen Augenblick die seinige legte – „fort mit allem Aeußeren, Fremden! Lassen Sie uns thun, als ob wir Freunde wären! Schon seit Tagen habe ich nicht anders an Sie gedacht, nur als solcher zu Ihnen gesprochen – in Gedanken! Jetzt also in Worten. Und dem Freunde muß es ja leicht werden, bis in das Herz des Freundes zu sehen und nach dieses Herzens Wunsch zu thun. – Ich werde mich auch äußerlich von Alma trennen –“
„Um nichts –“
„Lassen Sie mich aussprechen!“ unterbrach Bob bittend. „Was nichts war und nie etwas werden kann, hat nirgends ein Recht, zu bestehen. Ich bin gewiß nicht für leichtgesinntes Scheiden: die Ehe ist vielleicht das Höchste, Unirdischste, was wir erringen [515] können – es sollte Niemand daran rütteln, schon um der Schwächeren willen – Niemand, der nicht muß. Das muß aber, wer vor sich selbst, diesem höchsten Richter, fühlt und weiß, daß seine Ehe ein Hohn auf diesen großen Gedanken ist. Und ein solcher Hohn wurde die meinige – ich muß es wiederholen – in dem Augenblicke als Sie kamen. Nein, sie ist es ja von jeher gewesen; ich hatte es nur nicht gewußt oder mich betäubt – was geht uns das heute noch an? Seit ich aber wissend geworden, da mußte der Kampf beginnen, der Sieg jedoch war mir von Anfang an sicher.“
„In diesen wenigen Tagen!“ warf Hollfeld bestürzt ein. „Es scheint uns da wohl Manches errungen, was die Zeit wieder ändert oder doch mildert.“
„Nicht bei mir!“ versetzte Bob heftiger. „Ich habe es Ihnen schon gestanden, es zum wenigsten angedeutet – muß ich mich noch mehr demüthigen? Es giebt ja Leichtsinnige unter uns, die dergleichen tragen, auch Glückliche, die solche Liebe ihres Weibes bezwingen, denen die Kraft – die Willensherbigkeit zu eigen, sich ihr Weib zu Füßen zu werfen, daß es nichts mehr weiß und sieht, als diese Gewalt über sich, über all sein Empfinden – und darum vergessen lernt, was gewesen! Mir ist solche Kraft nicht gegeben: für mich blieb Alma stets die geschlossene Blüthe, die ihren Duft, ihr süßestes Sein – wie aus Instinct, möchte ich sagen – wahrte, liebend wahrte für den Einen, den sie sich erwählt hatte. Und könnten wir sie darum gering achten? Könnten Sie es – Sie, der dieser Eine ist? Aber auch ich bin meiner so weit Herr geworden, daß ich Alma wie Ihnen gönne, was mir nicht beschieden war.“
„Wo hinaus wollen Sie?“ erwiderte Hollfeld gepreßt. „Möchten Sie mich mitstraucheln machen, daß Sie mir Bilder wachrufen, das Herz fiebern lassen um Unmögliches?“
„Diese kurze Unmöglichkeit! – Ein Jahr! So will es das Gesetz – und warum sollten Sie gesetzlicher sein als das Gesetz?“
„Auch Alma weiß darum?“
„Noch nicht!“
„Nun, ebenso wenig wie ich,“ rief Hollfeld etwas erlöst, „könnte sie darein willigen –“
„Meinen Sie?“ fragte Bob, indem er nun umkehrte, mit dunkler Stimme. „Und sie ist Ihnen doch keine Fremde? Ich weiß zufällig durch einen Brief ihres Vaters, der sich nach seiner Art damit rein zu waschen suchte, was sie Ihnen damals angethan hat: das ist einmal ihrem Charakter gemäß, muß also getragen werden. Und so wird sie auch jetzt vielleicht Thränen finden, sich wieder gezwungen dünken, doch schließlich thun, was wir nun Beide wünschen müssen. Dabei mag es ihr noch zu einer gewissen Erleichterung werden, daß ich durch eine Schuld meinerseits momentan mit ihr gespannt stehe. Aber noch einmal: richten dürfen wir da nicht. Sie ist ein holdes, schwaches Weib – nichts weiter – ein echtes Weib in ihrem Denken, Fühlen und Handeln, so scheu wie lenkbar und sanft im Dulden. Nur ihr eigenstes Selbst – wie ich ja schon sagte – das wußte sie zu schützen, zu behüten. Darum gepriesen der, der diesen Schleier heben darf!“
„Wohl! Gepriesen der! Und dennoch – es kann ja nicht sein –“
„Wollen Sie mir sagen, warum nicht?“ fuhr Bob in weichem Tone fort. „Sie lieben Alma noch; daß sie nicht weniger für Sie fühlt, weiß ich seit dem Tage, wo ich Sie zusammen gesehen – und aus jener Schuld, einer traurigen Probe, zu der ich mich hinreißen ließ, von der sie Ihnen wohl einmal sprechen wird. Beurtheilen Sie mich dann nicht zu streng! Auch unserer Scheidung können wenig Hindernisse in den Weg gelegt werden: keine Kinder fordern eine Mutter; Alma mag es leicht erscheinen, ihrer Abneigung Worte zu leihen. Mir? Was bedeute ich noch? – Vermögensfragen dürften ebenso wenig Schwierigkeiten –“
„Wenn auch nicht bei Ihrer Scheidung,“ unterbrach Hollfeld hastig, „so würden doch gerade diese, selbst wenn sonst an meine Vereinigung mit Alma zu denken wäre, dieselbe unmöglich machen. Ich bin arm – noch Jahre –“
„Auch das habe ich reiflich bedacht,“ fiel Bob in derselben gelassenen Weise ein. „Ich kenne ja die Vorurtheile, die Alle, welche zur Gesellschaft gehören, dem armseligen Gelde entgegenbringen: man nimmt wohl, ohne sehr hinzusehen, des Anderen Leben an, zertritt meinetwegen sein Herz – verfügt aber bei Leibe nicht über dieses so Unnütze, wenn das Uebrige fehlt. – Darum werde ich auch Alma nur die Summe übergeben, deren Zinsen ihr schon bisher als Nadelgeld gehörten. Und ich würde so unendlich gern reicher geben, da ja Niemand auf der Welt darum verkürzt würde. Sie ist immer meine Frau – meine liebe, getreue Frau gewesen. Ich wage es aber nicht, um bei Ihnen keine Scrupel zu erwecken; denn dieses Wenige werden Sie ihr doch gönnen? Sie könnten nicht verlangen, daß meine Frau entbehre. Schon das Gesetz würde das fordern, über Nothwendiges hinaus aber biete ich nicht. Sie schweigen?“
„Mann – Freund!“ rief Hollfeld. „Sie kehren mir das Herz um und um – ich begreife ja Ihren Edelmuth, die ganze Größe Ihres Wollens – und trotzdem, ich kann nicht. Denken Sie auch an mich! Bis jetzt hatte ich Sie kaum gekannt, wenn mich aber etwas an Sie erinnerte – daß dann nicht gerade freundliche Gefühle in mir wach wurden, vermöchten Sie mich deshalb anzuklagen? Und von Ihnen soll ich die Gattin, Ihre Gattin – und noch Vermögen dazu nehmen! Wäre das möglich ohne Einbuße an Selbstachtung – an Ehre?“
„Wer von uns,“ versetzte Bob langsam, „ist wohl stets so rein geblieben, daß Nichts – Nichts in seiner Vergangenheit wäre, über das er nicht erröthen würde, wenn er es sich recht zurückriefe? Und doch muß man es tragen und trägt es, weil wir dunkel fühlen, das sei einmal Menschenart, Menschenloos. So gebe ich Ihnen zu – ein gewisser Vorwurf möchte bleiben; es wäre gütiger vom Geschick gewesen, wäre es ohne diesen Vorwurf gegangen, aber fragen wir uns, was hier auf dem Spiele steht! Hollfeld, nicht blos Ihr Glück – das unserer Alma vor Allem, verlangt diese winzige Demüthigung von Ihnen – in Wahrheit winzig, wenn Sie denken – was Anderen aufgegeben wird. Zudem sehen Sie mich wohl nie wieder – von dem Ganzen erfährt Niemand etwas Bestimmtes. Sie gehen nach Berlin zurück – bald hat alle Welt uns wieder vergessen; sie hat viel mehr zu thun, als an uns zu denken. Worin also läge das, was Ihrer Selbstachtung zu nahe treten sollte?“
„So rasch faßt das mein Gewissen nicht,“ erwiderte Hollfeld ausweichend. „Sie mögen auch in Vielem Recht haben, doch mein Gefühl hat nicht minder Recht.“
„An meiner Wittwe würde Ihr Gefühl aber nichts auszusetzen wissen?“ fragte Bob in finsterem Ernst.
Hollfeld preßte die Hand auf’s Herz und sah ihn an, als ob er ihn nicht verstanden hätte.
„Ich bin darauf nicht gekommen,“ fuhr Bob eintönig fort. „Vielleicht nur aus Schätzung Ihrer Person. Erst hier am Meere fiel auch das mir ein. So lasse ich Ihnen die Wahl: Tiraden darüber widerstehen mir – Sie dürften aber auf mich bauen. Wählen Sie frei – das oder das! Ein Drittes gäbe es nicht.“
„Sie sind furchtbar, Zellina!“ rief Hollfeld, indem er einen Schritt zurücktrat. „Ich lese in Ihren Augen –“
„Daß ich sterben kann,“ fiel Bob mit wehmütigem Lächeln ein. „Wer kann das nicht, wenn sein Abend gekommen? Und der meine ist da! Ueberlegen Sie nun! Ich will schweigend neben Ihnen hingehen, doch lassen Sie es uns jetzt zu Ende bringen! Ich bin tief erschöpft und bedarf des Friedens.“
Nach einer Strecke stummen Dahinwanderns sagte Bob, der auf Hollfeld gesehen hatte: „Nennen Sie es vor Allem keinen Zwang oder doch nur einen, wie ihn der Arzt anwenden muß! Wäre ich früher darauf gekommen, hätte ich Ihnen die Wahl erspart. Jetzt geht es wohl nicht mehr – jetzt würde, wie ich Sie nun zu kennen glaube, ein solcher Todter noch viel mehr im Wege stehen als der Lebende.“
„Viel mehr!“ versetzte Hollfeld schaudernd. „Dann wäre es ganz undenkbar.“
„O, so geben Sie mir die Hand!“ bat Bob ungestüm. „Jetzt höre ich es schon wie fernherüber, wenn Sie Alma sagen werden: ‚Endlich mein!‘ Und nehmen Sie immer an, Freund, daß auch ich nicht unglücklich sei: ich dachte bisher nur zu viel an mich selbst und gab so den Uebrigen nicht, was ihnen gebührte. Das soll nun anders werden. – Sie nannten vorher mein Wollen groß: ich las oder hörte aber einmal, das Große thue nur, wer nicht anders könne. Das ist es. Nicht einmal des Dankes also bedarf es, weil ich einfach so thun mußte. Und Sie müssen nun auch – nicht wahr? Fort mit allem Kleinen! Blicken wir auf’s [516] Meer, in den Himmel – da sind auch Wolken wie Untiefen, und doch sind sie groß – Himmel wie Meer. So bedeutete auch das Wölkchen auf Ihrer Ehre nichts.“
„Bleibt es dennoch ein Zwang –“ rief Hollfeld, „so ist es ein Zwang, wie vielleicht noch nie einer geübt wurde. Und, Zellina, gegen Sie bin ich doch der Kleinere.“
Bob verneinte heftig.
„Sicherlich!“ fuhr Hollfeld in tiefster Bewegung fort. „Muß ich also von einem Menschen nehmen, so meint es mein Geschick wohl noch gütig, daß Sie es sind.“
Mit einem erstickten Ausruf schlossen sich die Männer fest in die Arme; dann schritt Hollfeld dem Wäldchen zu, das bereits vor ihnen lag. Bob sah ihm still nach, bis er verschwunden war. Als er sich dann dem Meer zuwandte, rollte es ihm in leisem Schluchzen eine goldene Welle vor die Füße.
[526] So kampflos und ergeben, wie Bob es Hollfeld zwar dargestellt, bei tieferem Besinnen aber doch kaum selbst erwartet hätte, nahm Alma das über sie Beschlossene keineswegs hin. Quälend genug, ja, tief schmerzlich empfand sie, daß in dem Handeln beider Männer wenig Rücksichtnahme, ja kaum die Achtung lag, welche sie bei der vollen Reinheit ihres Gewissens fordern durfte. Dabei fand sie in ihrem immerhin freundlichen Leben an Bob’s Seite längst volle Befriedigung und achtete und schätzte ihn wahrhaft hoch. Und nun sollte sie dem Allen entsagen? Vielleicht war auch eine Ahnung in ihr aufgestiegen, ein Zweifel mindestens – ob ihr Vater, der seit jener Auseinandersetzung mit Bob auf diesen einen heimlichen Groll geworfen hatte und darum auf Alma fortdauernd im Sinne der Trennung einzuwirken suchte – ob ihr Vater wirklich Recht hätte, wenn er ihr immer und immer wieder sagte, Hollfeld sei von den beiden Männern der so viel edlere.
Sie schwankte in bangem Zweifel, und Bob kam ihrer Rathlosigkeit, ihrem feineren inneren Gefühl nicht zu Hülfe; er mied sie vollständig – wohl in dem Wunsche, ihr nichts schwerer als nöthig zu machen, oder vielleicht sogar aus dem Bangen, auf Augenblicke lang schwächer zu werden, als er durfte, irgend einer allzu mächtigen Aufwallung zu erliegen. So wurde Alma schließlich an Allem irre, ja redete sich selbst ein, daß Bob sie nicht mehr liebe und daß sie schon um seinetwillen das Opfer bringen müsse. Ein wenig mehr Muth und Entschlossenheit gab ihr auch eine Unterredung, welche sie nach Bob’s Willen mit Hollfeld gehabt, der ihren Stolz durch seine glühende Beredsamkeit aufgestachelt hatte – und da Bob nach wie vor dabei blieb, von ihrem Leiden nichts zu bemerken, scheinbar immer nur eisiger zu werden, so fuhr sie denn eines Morgens, während er in den Wald geritten war, ohne einen besondern Abschied von ihm zu nehmen, nach der Stadt.
Als Bob den Wagen ohne sie zurückkehren sah, und nun beim Durchschreiten ihrer einsamen Zimmer überall an dem Fehlen von Diesem und Jenem, was als Alma’s Eigenthum mit ihr verschwunden war, seinen Verlust ganz inne wurde, da war es auch mit seiner so lange aufrecht erhaltenen künstlichen Fassung vorbei. Immer wieder rief er verzweiflungsvoll ihren Namen. Laut aufschreien hätte er mögen.
Doch nur der antike Held durfte ja aufschreien in seiner Qual, der christliche ist gewöhnt worden, das als seiner unwürdig zu empfinden – so unterdrückte auch Bob sein Weh.
Zu seinem anscheinenden Genügen und jedenfalls in wahrhaftem Feuereifer nahm er in der nächsten Zeit Allerlei vor, was er längst geplant, aber in einer gewissen Lässigkeit immer von Neuem hinausgeschoben hatte. So wurde der Abbruch und dann der Neubau eines Wirthschaftsgebäudes in’s Werk gesetzt, und im Garten an dem Platze, welchen Alma noch dafür bestimmt, wurden die Fundamente zu einem großen Gewächshause gelegt.
Dazwischen kam und ging sein Rechtsanwalt, und es gab Conferenzen mit der Gegenpartei; denn so scharf und unangreifbar Alma’s Begründung ihres Scheidegesuches von vornherein gefaßt war, so wenig zweckentsprechend erschien immer wieder die seinige – bis der Rechtsanwalt dieselbe aufsetzte und Bob nur zustimmend zu nicken brauchte. Da kam es endlich zum Letzten, was das Gesetz forderte, und einige Wochen darauf wurde die Scheidung „dieser Gatten, die eine so unüberwindliche Abneigung vor einander empfanden“, gerichtlich vollzogen.
Die nun folgende Zeit ertrug Bob fast leichter, als die eben vergangene: er war sich jetzt völlig selbst überlassen, der Anwalt, vor welchem er eine Art von Grauen empfunden hatte, wie vor einem Arzte, der eine Wunde offen halten muß, kam nicht mehr, und Alles ging seinen gleichmäßigen Gang. Er besuchte Niemand in der Nachbarschaft – und so schonte man auch allgemein seine, wie man hoffte, nur momentane Neigung zur Zurückgezogenheit. Daheim aber stieß er nirgend auf Widerstand; seine Leute hätten ihm noch eher Alles erleichtern mögen, da er zu den liebenswerthen Naturen gehörte, welche der eigene Schmerz nicht verbittert und herbe macht; nur im Wohlthun fand er Vergessen.
In solcher Weise war ihm der Frühling, der lange Sommer vergangen. Das Wirthschaftsgebäude stand längst unter Dach. Die Mauern des Gewächshauses erhoben sich – nicht unzufrieden mit dem, was erreicht worden, konnte Bob dem Winter entgegensehen. Er hatte auch mit Clavierübungen wieder begonnen und seine Bibliothek durch das beste Neue vervollständigt; in dieser ruhigeren Stimmung wäre er wohl der stilleren Zeit begegnet, die ihn natürlich mehr an’s Haus und dessen Erinnerungen gefesselt hätte, bevor es aber Winter wurde, bei den Stürmen des Spätherbstes schon, als es täglich vom Meer her um das Sundittener Schloß ächzte und heulte, fing er plötzlich an ruheloser zu werden. Keine Beschäftigung schien ihn mehr zu fesseln; selbst das Clavierspiel vernachlässigte er bald wieder, und wie unwillkürlich horchte er nur auf jedes stärkere Geräusch, als erwartete er immer Besonderes.
In der Mittagszeit, wenn die neuen Zeitungen einmal länger als gewöhnlich ausblieben, konnte er öfter fragen, ob der Postbote noch nicht gekommen wäre, oder ging in ein Eckzimmer, von wo er eine Strecke der Chaussee übersah, welche der Bote passiren mußte. Wonach er suchte, was er erwartete, das ergründete Niemand aus seiner Umgebung. Wer aber genauer auf ihn geachtet hätte, dem wäre nicht entgangen, daß Bob nur die Zeitungen der nächsten Stadt interessirten, und dabei nicht einmal deren Haupttheil – nur die kleine, einfache Rubrik der Familiennachrichten.
Das Jahr war ja herum; jeder Tag konnte ihm nun die Bestätigung bringen, daß sein Opfer nicht umsonst gewesen. Doch wochenlang suchte er vergeblich – seine Ruhelosigkeit, seine Sorge stieg immer höher. Sollte irgend etwas Hinderndes vorgefallen sein?
Absichtlich hatte er jede Verbindung mit Ruland’s aufgehoben; jetzt peinigte ihn diese Ungewißheit aber noch mehr, als es die Gewißheit vermocht hätte.
So hatte seine Erregung sich schon bis zur Krankhaftigkeit gesteigert, als er endlich unter den Aufgeboten das von Hollfeld und Alma fand, und zwar gleich ein für alle Mal. Dieses ein für alle Mal erschreckte ihn im ersten Momente – schien damit doch unmöglich zu werden, was er seinem Herzen wie ein letztes Almosen versprochen hatte – Alma noch einmal zu sehen.
[527] Vielleicht gestern schon – heute spätestens mußte die Hochzeit sein. – Was bedeutete es im Grunde auch, ob er Alma noch einmal sah oder nicht? Doch das Herz, wenn ihm bereits viel auferlegt worden, läßt sich nichts mehr nehmen. So bestand auch sein Herz auf diesem Einen, was er eigensinnig wie sein volles Recht empfand – wie ein Scheiden vor dem Tode, wo Alles gestattet ist – Alles. – Und wenigstens der Versuch konnte gemacht werden. Irgendwo, und wäre es auch auf dem Wege zu der Bahn, ließe sich der Wunsch doch erfüllen? – Nur noch ein Sehen!
Trotzdem zögerte Bob und zögerte, schien einmal schon entschlossen, auch jetzt noch fest zu bleiben – dann zog er aber plötzlich die Klingel und befahl dem Reitknecht, für ihn und sich Pferde zu satteln. Sobald der Befehl gegeben war, überkam es ihn wie eine Genugthuung – es war das Rechte gewesen.
Eine halbe Stunde darauf ritt er langsam, wie immer, vom Hofe und grüßte nur mit einem langen Blicke noch die Fenster, die zu Alma’s Zimmer gehört hatten. Erst jenseits des kleinen Friedhofes am Rande des Waldes, wo seine Mutter unter einem Marmorkreuze ruhte, das jetzt groß und feierlich über die entlaubte Dornenhecke emporragte, erst dort begann er rascher zu reiten. Dabei räthselte er zum ersten Male darüber, warum sein Vater ausdrücklich bestimmt hätte, nicht auf diesem Friedhofe begraben zu werden. War seine Mutter auch eine Verlassene gewesen? So früh war sie fortgestorben? Bald aber wandte er sich wieder der Gegenwart zu und grübelte und malte es sich aus, ob und wo er Alma sehen würde.
Schon kurz nach Vier traf er in der Stadt ein. Die Frau seines Verwalters, dem die Sorge für Villa und Garten übergeben worden, erzählte ihm ungefragt, daß heute ja die Hochzeit der gnädigen Frau wäre und dieselbe darauf bestanden hätte, in der Kirche getraut zu werden. Um Aufsehen zu vermeiden, solle die Trauung jedoch erst Abends stattfinden.
In der Kirche wollte sie mit Hollfeld verbunden werden! Bei ihm hatte sie sich in die Trauung zu Hause gefügt. Wie einfach sich nun aber sein Zweck erreichen ließe! – dachte er – in der Marien-Kirche gab es genug Ecken ober Pfeiler, hinter denen verborgen er den Zug vorübergehen lassen konnte.
Er sah an sich nieder: der schmutzbespritzte Reitanzug paßte allerdings kaum zu einer Hochzeitsfeier, und warum nicht selbst im Verborgenen festlich? War es doch eigentlich das höchste Fest seines Lebens!
Mit heiserem Lachen ging er nach seinem Ankleidezimmer. In einem der Schränke mußte noch sein Hochzeitsanzug hängen: wie passend der gerade war! – Ohne sich weiter zu besinnen, suchte er ihn hervor und legte ihn an.
Es war ein eigenes Gesicht – wenig hochzeitlich, das ihm aus dem Spiegel entgegenstarrte. Mehr Ruhe bedurfte er unbedingt. Ein Gang durch den Garten mochte diese Ruhe geben.
Als er hinab kam, fuhr ihm der Wind stärker als vorher entgegen – schien in Sturm übergehen zu wollen. Ihn fröstelte. Dennoch drängte es ihn vorwärts, und er schritt um das Rondel herum nach jener Hauptallee, die dem Meere zulief. Aus der Ferne wogte es grau heran; Meernebel wälzten sich näher – in der ganzen Natur war bald nichts wie Gräue und klagende Laute, als ginge es mit ihr zum Sterben. Ruhe gewann sich da nicht – so trieb es Bob vor der Zeit nach der Kirche.
Das Schweigen hier, die volle Dunkelheit, welche sich bereits über die niedrigen Seitenschiffe gebreitet hatte, berührte ihn wohlthuend: hier in einer Kirchenbank ließ sich Alles ruhig erwarten.
Lang währte es auch nicht mehr, da zündete man Lichter auf dem Hauptaltare an, einen Kronleuchter selbst und einzelne der Lampen an den Pfeilern. Ein Mädchen streute Laub und Blumen im mittleren Gange, und Bob bemerkte, wie auch der Platz am Altare durch hochstämmige Gewächse geschmückt war. Er sah das Alles, wie er meinte, unbewegt – ja er wunderte sich fast, wie viel der Mensch über sich vermöchte. Einmal freilich wollte es ihm auch scheinen, als wäre all sein heutiges Thun und Treiben so seltsam – wie das eines Wahnsinnigen: da drängte es ihn fort; es war ihm, als brenne der Anzug, den er trug.
Schon gingen die Kirchthüren unaufhörlich, und das Geräusch heranrollender Wagen drang näher. Bob erhob sich mühsam und schritt bis an einen Pfeiler, an welchem eine hohe Tafel mit weit ausgezacktem Rahmen hing. Hier mußte er für die im mittleren Gange Hinschreitenden unsichtbar sein, während er selbst Alle sah.
Und fern öffnete sich wieder eine Thür; die Frauen in den vorderen Kirchenbänken blickten der Richtung nach dem Portale zu; dann schleifte und rauschte Seide über die Fliesen hin.
Bob wurde gleichsam ein Sehen; Nichts lebte an ihm als der Blick – und dieser sah dieselbe weiße, umschleierte Gestalt, welche einst neben ihm gegangen war, nun am Arme des Andern hinschreiten. Den Kopf wie damals gesenkt – dennoch schien er anders getragen zu werden. Das Glück macht den Kopf anders senken als die Ergebung. – Hollfeld ging straff aufgerichtet: in seinen Zügen war etwas fest in sich Geschlossenes, mehr Ernst als das Strahlen des Siegers. So hatte er ihn sich gedacht.
Von der Trauung vermochte Bob nichts zu sehen – es drängte ihn auch nicht darnach. Ebenso hörte er nur Hollfeld’s „Ja“, nicht das Alma’s. Gesprochen war es jedoch. Die bald darauf folgende Unruhe der Zuschauerinnen bezeugte es ihm.
Ueber eine kleine Weile sah er den Zug dann noch einmal vorübergehen: jetzt trug auch Alma den Kopf erhoben, und auf ihrem Gesichte lag der Ausdruck, jenes heiße Leuchten, das er nur einmal gesehen, und das er noch einmal hatte sehen müssen.
Man löschte die Lampen: es wurde dunkler; nur in der Ferne tönte noch das Gerassel der Wagen – da schwankte auch Bob aus der Kirche. Der Sturm hatte die Nebel verjagt oder ballte sie in mächtige Wolken zusammen, bis auch die aus einander getrieben wurden und das falbe Licht des letzten Mondviertels niederschimmerte.
Bob kam endlich wieder in der Villa an, geisterhaft blaß und auf Nichts um sich her achtend. Da er schon vorher satteln gelassen, warf ihm der Reitknecht nur den Mantel über, dann sprengten sie vom Hofe. Als Bob die freie Straße gewonnen hatte, ging er in volle Carrière über.
Der Reitknecht vermochte auf seinem weniger tüchtigen Pferde seine Distanz nicht inne zu halten und blieb zurück: das schien Bob zu beabsichtigen – er setzte sein Jagen fort und verschwand beim Beginn des Waldes ganz den Blicken des Dieners.
Es war wohl nicht blos der Wunsch des Alleinseins, der ihn zu seinem wilden Reiten stachelte – die Gährung, in welche er körperlich und geistig immer tiefer hineingerieth, als stimme so Gleiches zu Gleichem. Die klaren Gedanken schwanden mehr und mehr; bald drang nur noch mitunter einer durch: vor Allem das inbrünstige Verlangen, der zu bleiben, als der er sich erwiesen hatte, zu zeigen, daß sein Opfer nicht größer gewesen war, als seine Kraft. Was vermochte ein rechter Mann nicht Alles! – Immer rascher verdämmerten solche Gedanken; es waren bald nicht mehr Gedanken – bloße Visionen noch.
Das junge Pferd, welches er ritt, flog dabei mehr, als daß es den Boden berührte – und flimmerte einmal ein Stamm zu licht, so versuchte er es abzudrängen, bis eine eiserne Faust dazwischen fuhr. Auf der Waldwiese gar, wo überall noch Nebel wie Geister hockten und es in Spukgestalten nebenher trieb, plötzlich emportauchte und dann wieder verschwunden war – da knirschte und schäumte das Pferd im Zügel. Auf dem fliegenden Mantelkoller hatte einmal etwas Weißes gesessen und Bob mit Augen angesehen, als wären es Alma’s Augen: schwarze Flügel waren freilich darüber zusammengeschlagen – und dann wieder bloß Nacht ringsum, vorn hinschlängelnd nur der graue Waldweg, hier und da Lachen von Mondlicht darauf!
Bob vermochte nichts mehr zu denken; selbst die heisere Stimme war endlich verstummt, die von neuem Brautglück zu flüstern gewußt – von einem neuen? Wie es da irre in seinen Gedanken, immer irrer geworden war! Wie es nur noch in lauter Feuerfunken vor seinen Augen blitzte – und der einzige Wunsch ihn beseelte, so fortzurasen – weiter, nur weiter! O bis an’s Ende!
Doch schon lag die Biegung zwischen dem Friedhofe und dem Abhange vor ihm: weich vom Monde beschienen, erglänzte das weiße Kreuz der Mutter. Unwillkürlich richtete er sich höher auf, als wollte er, wie immer, hinübergrüßen, dabei mußte aber auch der Rappe das gespenstische Kreuz erblickt haben – mit einem mächtigen Satze warf er sich nach der anderen Seite. Bob, wieder ganz an irgend ein Phantom von Gedanken hingegeben, verlor den Schluß, die Bügel – ein zweiter Sprung des Pferdes [528] vorwärts – und schwer schlug ein Körper gegen die Prellsteine des Abhanges.
Der Rappe flog in toller Flucht davon – sein Herr war plötzlich sehr still geworden: nur in der Brust hob es sich krampfhaft, und Blut strömte aus einer klaffenden Stirnwunde. –
Nach einer längeren Weile, als fern herüber ein Pfiff ertönte, das Signal des Eilzuges, welcher eben die nächste Station passirte – dieses Zuges, der gen Süden geht und ein glückselig Paar mit sich führte, da schwankte eine Trage, auf der ein Todter lag, an dem Friedhofe von Sunditten hin. Und dasselbe weiche Mondlicht webte um ein hohes Kreuz und um das Antlitz des Todten.