Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm

Textdaten
Autor: Reinhold Steig
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Titel: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm
Untertitel:
aus: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen, Band 107, S. 277–310
Herausgeber: Alois Brandl, Adolf Tobler
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1901
Verlag: Georg Westermann
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Erscheinungsort: Braunschweig
Übersetzer:
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Originalherkunft:
Quelle: Internet Archive, Commons
Kurzbeschreibung: Aufsatz über die Vorlagen der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm
Text auch als E-Book (EPUB, MobiPocket) erhältlich
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[277]
Zur Entstehungsgeschichte
der
Märchen und Sagen der Brüder Grimm.

An dem Märchenhause in Kassel, das ein Holzschnitt vor Albert Dunckers freundlichem Buche über die Brüder Grimm uns vor die Augen führt, ist eine Inschrift angebracht, auf der zu lesen steht, daß in diesem Hause die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm einst ihre Kinder- und Hausmärchen geschrieben hätten. Das Wort „geschrieben“ wird manchem aufgefallen sein. Es kann sehr viel und sehr wenig bedeuten. Goethe hat den Faust „geschrieben“, von der Hand des Fräuleins von Göchhausen ist der Urfaust „geschrieben“ worden. Auch wer sich berechtigt hielte zu glauben, daß die Märchen und Sagen von den Brüdern treu-gewissenhaft nach mündlichen Erzählungen aufgezeichnet oder aus älteren Quellen hervorgezogen worden seien, würde schwerlich in ihrer Thätigkeit nur die niedere Art des Schreibens erblicken wollen. Also nur im höheren, gestaltenden und dichtenden Sinne kann der Wortlaut der Kasseler Inschrift verstanden werden. Ich weiß nicht, wem die Formgebung zu verdanken ist. Das aber muß ausgesprochen werden, daß der, welcher sie vorschlug, bewußt oder unbewußt das Richtige getroffen hat.

Die Märchen und die Sagen sind in Wahrheit von den Brüdern, wie von Dichtern, litterarisch geschaffen worden. Sie haben auf Grund der Erfahrungen, die sie an den Liedern des Wunderhorns (ich gedenke einmal ihren Anteil festzustellen) und an den altdänischen Liedern gemacht hatten, der Überlieferung der Märchen, die ihnen roh und ungelenk zukam, dichterisch die Form gegeben, die sie für die Kunstform des Märchens hielten. Die Ansichten über das, was die Kunstform des Märchens sei, [278] gingen in ihrer Zeit weit auseinander: die Auffassung der Brüder Grimm allein ist durchgedrungen. Sie blieben auch nicht starr und unbeweglich bei der zuerst gestalteten Form stehen, sondern von Ausgabe zu Ausgabe fortschreitend waren sie bemüht, ihr Werk zu erhöhen und zu vervollkommnen. Als junge Talente, die dichterisch emporkommen wollten, wurden sie in ihren Anfängen dem deutschen Publikum bekannt; die gelehrte Thätigkeit, die sie begannen, war zunächst nur für sehr wenige Kenner und Gönner da. Noch 1815 konnte daher Eichhorn mit vollem Rechte Jacob Grimm dem Grafen Gneisenau (Pick S. 342) als den „Gelehrten und Dichter“ empfehlen, der mit deutschem Herzen nichts versäumen werde, in Paris das Verlorene wieder zu entdecken und die Herbeischaffung des Verlorenen zu bewirken.

Die deutsche Litteraturgeschichte betrachtet als eine ihr obliegende Aufgabe, die Entstehung und Wandelung ausgezeichneter Werke zu erforschen und darzustellen. Daß Arbeiten dieser Art doch nur spärlich vorhanden sind, liegt an der Schwierigkeit, Feinheit und Unerschöpflichkeit der Aufgabe. Wer sie in großem Stile angreift, müßte nicht nur im Besitze alles hierzu nötigen geschichtlichen Wissens sein, sondern auch über ästhetische Kraft und allgemeine menschliche Erfahrung verfügen. Die Märchen der Brüder Grimm sind noch, wenn man Luthers Übersetzung der Bibel den Vorzug läßt, vielleicht das gelesenste Buch im deutschen Sprachgebiet aller Erdteile. Wieviel tausend und abertausend Exemplare sind, seit Goethe sie in die Kinderhände seiner Enkel und Bettina sie in die ihres kleinen Johannes Freimund legte, bis auf den heutigen Tag verbreitet worden. Welch ein froher Dank kommt immer noch zurück, so oft ungezählte Exemplare, als Geschenk im Sinne der Brüder, auch über unseres Reiches Grenzen hinaus den Weg in deutsche Häuser und deutsche Herzen finden, wo unser Volkstum nicht mehr schwinden wird. Die Grimmschen Märchen haben sich die deutsche Welt erobert.

Wenn man erwägt, welche wissenschaftlichen Bemühungen bei uns seit hundert Jahren eingesetzt worden sind, um die Entstehungsgeschichte der homerischen Dichtungen oder der Nibelungen oder der Edda zu erforschen, so kann es befremden, daß für die Grimmschen Märchen und Sagen eigentlich noch nichts [279] Ähnliches versucht worden ist. Unsere neueste Kenntnis der Nibelungen und der Edda ist nicht viel älter als das erste Hervortreten der Märchen der Brüder Grimm. Hier liegt noch alles, was man ahnen darf, wissenschaftlich im Dunkel. Die Methode wird erst zu suchen sein. Den uralten Dichtungen gegenüber verfügen wir über ein verhältnismäßig enges Überlieferungsmaterial: die modernen Märchengebilde der Brüder Grimm sind aus dem Zusammenstrom persönlicher, mündlicher, publizistischer, litterarischer, wissenschaftlicher Wirkungen individuell hervorgegangen, und wieviel davon unwiederbringlich für uns verloren sei, so ist doch noch eine ungeheure Stoffmasse da, die herangezogen werden muß.

Es hat sich im Laufe der Zeit allmählich mancherlei bei mir angefunden, was zur Aufhellung der Entstehungs- und Wandelungsgeschichte der Grimmschen Sammlungen dienen könnte. Ich lege ausgewählte Stücke aus den Märchen und Sagen vor.


1. „Machandelboom“ und „Fischer un sine Fru“.

Zu den besten Stücken der Grimmschen Märchensammlung sind immer, seit ihrem Hervortreten, die beiden plattdeutschen Märchen „Vom Machandelboom“ und „Der Fischer un sine Fru“ gezählt worden. Der Maler Otto Runge hat sie aufgeschrieben. Runge stammte aus Wolgast in Pommern, lebte aber damals, als die beiden Märchen aus seiner Hand ausgingen, nicht in seiner Heimat, sondern in Hamburg. Er hatte unter den Romantikern als Künstler und Farbentheoretiker die Stellung inne, die Novalis als Poet einnahm. Goethe erkannte, trotz seiner antiromantischen Neigungen, achtungsvoll das Streben Runges in seiner Farbenlehre an. Die Romantiker vergötterten ihn und erwarteten von ihm das Heil der neuen Kunst. Seine wundervollen Gebilde der vier Tageszeiten haben auf alle ihm gesinnungsverwandten Künstler und Kunstwerke tief gewirkt. Er starb, wie Novalis in jungen Jahren, 1810 schon an der Auszehrung und hinterließ seinen Freunden die schmerzliche Sehnsucht nach Vollendung des Werkes, das in ihm vor der Zeit abgebrochen schien.

Runge hat auch, wenngleich mehr rezeptiv, an der zeitgenössischen Litteratur in weitem Umkreise teilgenommen. Seine [280] Schulzeit unter dem Dichter Kosegarten in Wolgast, sein Aufenthalt in Dresden und Verkehr daselbst mit Tieck, seine Freundschaft mit Perthes in Hamburg bildeten für ihn litterarische Centren, die alle neuen Erscheinungen an sich zogen. Die eigenen, mehr zufälligen Aufzeichnungen zeigen die Gabe Runges, das Geistige im Menschen mit dem Leben der ihn umgebenden Natur in Rapport zu setzen, das eine als bedingt durch das andere hinzustellen. Die naturphilosophische Weltanschauung eines Steffens, der sein innigster Freund war, tritt uns in Runge wieder entgegen. Sie ist das entscheidende, tiefsinnige Merkmal der bildenden Kunst, die er übte.

Unter diesem Zeichen stehen auch die Märchen „Vom Machandelboom“ und „Vom Fischer un siner Fru“. Sie sind beide in der reinsten Kunstabsicht gedichtet worden. Kein Gedanke daran, daß Runge sie blos nach dem unbeweglichen Wortlaut mündlicher Erzählung aufgezeichnet habe. Man fasse den Aufbau beider in das Auge. In dem einen Märchen nimmt der Wachholderbaum wie ein still Mitlebender an den Geschicken der Menschen teil, die den Bauernhof bewohnen; in dem anderen erscheint das Meer wie ein Bundesgenosse des Fischers beim Widerstande gegen den unbezähmbaren Frevelsinn seiner Frau. Wie ist im Machandelboom die durch die Monate aufblühende Erfüllung des einen Wunsches, den die schöne junge Frau in ihrem Herzen hegt, in die allmähliche Entfaltung der Natur um sie herum zart, genau und liebevoll hineingezeichnet; wie spiegelt die immer wachsende Bewegung der Wogen, der Luft, des wolkenbedeckten Himmels, so oft sich der Fischer wider Willen mit den Wünschen seiner Frau dem Ufer naht, die den sittlichen Menschen ergreifende Empörung ab. Dies alles ist so plan- und kunstvoll angelegt wie die Umrisse zu den tiefsten Gebilden, die Runge als Maler geschaffen hat. Seine Kompositionen, die künstlerischen wie die litterarischen, zeichnet die größte Einfachheit der Linie bei Unergründlichkeit des Gedankeninhalts aus. Beiderlei Gebilde seiner Phantasie sind eines Wertes, einer Herkunft und Kunstausübung.

In Runges Kunstauffassung mischt sich ein katholisierendes Moment. Man sieht das seinen Werken an, und es verbirgt sich nicht im „Fischer“. Runge stammte aus niederdeutscher Gegend, [281] wo für das protestantische Volksbewußtsein der Begriff „Papst“ gewiß keine Hoheitsinstanz bedeutet. Trotzdem heben sich die Wünsche der Fischerfrau über König und Kaiser weg bis zum Papst und dann zum lieben Gott empor; und der Mann widersteht vergebens: „Pobst is man eenmal in de Kristenheet“. Diese Stufenfolge der Gewalten kann nicht aus protestantischem Volksbewußtsein hervorgegangen sein. Erst der Künstler Runge hat sie in das Märchen hineingedichtet.

Die beiden Märchen sind plattdeutsch von Runge aufgeschrieben worden. Es liegt in der Anwendung des Volksdialektes wieder bewußte Kunstabsicht, nicht innere Notwendigkeit. Die Brüder Grimm haben Märchen und Sagen, die sie aus Bauernmunde hörten, dennoch in hochdeutscher Sprache vorgetragen. Runge verstand als einer der ersten, sich der Darstellungsmittel der plattdeutschen Mundarten litterarisch wieder zu bedienen. Er ist der Vorläufer der nach ihm einsetzenden norddeutschen Dialektdichtung geworden. Er handhabte leicht und geschickt das Platt seiner Heimat. In der Schilderung einer Fußreise durch dänisches Land, 1800, hat er ganze Partien zu seinem und der Seinigen Pläsir in plattdeutschen Reimzeilen ausgeführt: man erhält fast einen Vorgeschmack des humorvollen Treibens, das in Reuters Gedichten steckt. Runge hatte viele Übung im Dialektschreiben bereits, als er seine plattdeutsche Mundart auch für die Märchen wählte. Er wußte, welche Wirkung er damit hervorbringen könne. Das Plattdeutsch des Vortrages hat sehr wesentlich dazu beigetragen, die Märchen, namentlich hochdeutschen Lesern gegenüber, mit dem frischen Dufte des Volkstümlichen zu umgeben.

Die Märchen sind niemals von Runge selbst publiziert worden, fremde Hände thaten ihnen diesen Dienst. Runge gehörte in Hamburg, wie bemerkt, zu den Hausfreunden des patriotischen Buchhändlers und Verlegers Friedrich Perthes und wurde dort mit Johann Georg Zimmer bekannt, der in Perthes’ Handlung thätig war. Zimmer begründete dann in Heidelberg einen eigenen Verlag, und das erste Werk, das er verlegte, war Des Knaben Wunderhorn. Er schickte es 1805 auch Runge. Als Zeichen seiner Teilnahme an den neuen Heidelberger Bestrebungen übersandte Runge 1806 die beiden Märchen vom Machandelboom [282] und Fischer. Von Zimmer empfing sie 1808 in der Originalhandschrift Achim von Arnim. Er veröffentlichte das Märchen „Von den Machandel Bohm“ in einer Juli-Nummer seiner Einsiedlerzeitung. Über die Einzelheiten dieser Dinge, die ich nicht weiter verfolge, liegen uns in den Briefen der beteiligten Männer ausgiebige und leicht zusammenzubringende Nachrichten vor.

Arnims Veröffentlichung des Machandelbooms brachte den Freunden der deutschen Volkspoesie eine große Überraschung. Mit glücklicher Hand hatte er sofort den Punkt herausgehoben, in welchem das Märchen mit der gleichzeitig hervortretenden „romantischten“ Dichtung, die je geschrieben worden ist, dem Faust, in Wechselwirkung stand. Arnim that dar, daß die Verse des Märchens, die der schöne Vogel singt, in Gretchens irrem Liede im Kerker wiederklingen. So stellte Arnim seine und seiner Freunde neue Erwerbungen in dem noch unentdeckten Märchenlande unter den Schutz und die Oberhoheit Goethes.

Wir haben hier dieselbe Erscheinung wie gleichzeitig bei der Leonore des Wunderhorns, die Arnim zu Bürgers Ballade in Beziehung setzte. Gerade diese Vergleichungsmöglichkeit wird für Arnim der bestimmende Grund gewesen sein, weswegen er den Machandelboom zuerst drucken ließ. Das Märchen vom Fischer und siner Fru hat er nicht mehr selbst veröffentlicht. Ein Blick in die Einsiedlerzeitung genügt, zu erkennen, weshalb es nicht geschehen konnte. Für die paar Juli-Nummern, die ausstanden, war anderes Material in Masse vorhanden. Dann trat, durch Arnims Reise bedingt, die große Lücke im Erscheinen bis zum 27. August ein. Und die beiden Nummern nebst der Beilage, die überhaupt noch gegeben wurden, befaßten sich mit Dingen, zwischen denen ein Märchen nicht mehr hätte atmen können.

Arnim hielt niemals karg mit dem zurück, was er besaß. Freigiebig teilte seine Hand den Freunden mit. Heimreisend von Heidelberg überließ er die beiden Rungeschen Märchen seinen Freunden Grimm in Kassel, 1809, die sich zu ihren „Märchen“ und zu ihren „Sagen“ rüsteten. Schon begann sich damals, verschärft durch Wilhelm Grimms Arbeit an den altdänischen Liedern, ein Gegensatz zwischen Grimms in Kassel und Friedrich Heinrich von der Hagen in Berlin herauszubilden, den Arnims sachliche Behandlung der Dinge vorerst noch auszugleichen [283] suchte. Er nahm keinen Anstand, jetzt, 1809, auch Hagen beide Märchen mitzuteilen. Von diesem empfing sie für seine geplante Märchensammlung Johann Georg Büsching, Hagens naher Freund und gleichgearteter Arbeitsgenosse. Die Urschrift Runges gab Arnim in die Hände Clemens Brentanos, der damals auch mit der Absicht, Märchen erscheinen zu lassen, umging. Diese Absicht hatte keine Folge. Aber Büschings „Volks-Sagen, Märchen und Legenden“ und Grimms „Kinder- und Hausmärchen“ traten in dem einen Jahre 1812 hervor: jene früher, diese später. Beide Sammlungen enthielten die beiden Märchen Runges, dergestalt, daß uns für den Machandelboom Arnims Einsiedlerzeitung als der erste Druck, für den Fischer Büschings und Grimms Märchensammlungen als die ersten Drucke zu gelten haben. Das Urmanuskript Runges ist nicht wieder aufgetaucht.

Was die Brüder Grimm mit ihren Sammlungen geleistet haben, das empfindet man erst dann, wenn man ihre Ausgabe und die Büschings, mit der sie einzelne Stücke sogar gemeinsam haben, in Parallele rückt. Es sinkt alsdann der Irrtum, als ob die Brüder Märchen und Sage so aufgeschrieben hätten, wie sie aus dem Munde der Märchenerzähler ihnen zugekommen wären. Grimms Verdienst bestand vielmehr in der kunstgemäßen Stilisierung, in der litterarischen Wiedererschaffung längst vorhandener allgemeiner Stoffe. Das poetische Princip des Wunderhorns, nicht das wissenschaftlich-philologische, war geschäftig in ihnen. Sie erst gaben dem Märchen und der Sage ihre Form, wie Arnim und Brentano den zerfetzten Liedern aus dem Munde derer, die sie sangen. Der von ihnen geschaffene Stil beruhte auf dem Studium der älteren deutschen Poesie, deren unschuldige Weise sie dem modernen Empfinden anzupassen unternahmen. Es war der richtige Takt, von dem sie sich leiten ließen. Bei Büsching ist keine Spur von alledem zu finden. Er hat keinen Stil für Märchen, für Sage oder für Legende. Er weiß die Gattungen nicht zu scheiden. Wie gut gewollt, aber schlecht gekonnt ist, was er über sich und seine Stoffe dem Leser zu eröffnen hat. Wie wendet sich dagegen Grimms Blick in alle Tiefen und Höhen der Märchenpoesie. Bei Büsching läuft das Verschiedenste bunt durch- und nebeneinander her. So sagenungemäß z. B., wie sein Eingang zum „Wunderring im Hause derer von [284] Alvensleben“ (S. 200), ist niemals eine Sage begonnen worden. Die prächtig vorgetragenen Märchen Runges erscheinen bei Büsching innerhalb einer Gesellschaft, in die sie nicht gehören. In Grimms Sammlung stehen sie wie unter ihresgleichen. Kein greller Wechsel des Stiles und des Vortrages stört unser Empfinden, wenn wir sie mit den übrigen in einem Zuge lesen. Grimms waren sich des Unterschiedes zwischen ihrer Arbeit und der Büschings wohl bewußt; zu Görres (8, 350) hat sich Wilhelm darüber ausgesprochen, Jacob öffentlich in einer Recension (6, 130).

Dieses vergleichende Lesen der beiden Märchen trug mir nun aber die sonderbare Bemerkung ein, daß die Texte des Machandelbooms an den drei Urstellen und die des Fischers an den zwei Urstellen formell und dialektisch ganz verschieden lauten, während sie materiell im wesentlichen sich decken. Ich suche diese Verhältnisse anschaulich zu machen:


a) Machandelboom.

Arnim hat das Märchen in zwei Nummern seiner Einsiedlerzeitung gegeben. Über dem ersten Teile steht die Überschrift „Von den Mahandel Bohm“, über der Fortsetzung jedoch „Von den Machandel Bohm“; im Texte dagegen findet sich nur die Form „Machandelboom“. Büsching überschreibt „Von dem Mahandel Bohm“ und normiert im Innern des Textes stets „Mahandelboom“. Bei Grimms begegnet „Van den Machandel-Boom“ als Überschrift und nur „Machandelboom“ im Texte. Man sieht, wie Arnims ungleichmäßiges Verfahren fortgewirkt hat. Wahrscheinlich, wie ich darthun werde, hatte Runge selbst keine Überschrift gesetzt, sie rührt wohl erst von Arnim her.

Um den Unterschied der dreifachen Schreibung und der Dialektfärbung zu zeigen, will mir kein anderes Mittel als die Gegenüberstellung der Texte als ausreichend erscheinen. Ich wähle die wundervolle Stelle gleich am Eingange des Märchens aus, wo erzählt wird, wie sich der schönen frommen Frau ihr heißester Wunsch erfüllt. Sie steht im Winter unter dem Wacholderbaum auf ihrem Hofe und schält sich einen Apfel. Sie schneidet sich in den Finger, daß das Blut in den Schnee fällt. Da wünscht sie sich ein Kind, so rot wie Blut und so weiß wie Schnee. Und nun heißt es weiter bei

[285]
Arnim:
… un ging een Maand

hen, de Snee vör ging
un twee Maand dar
was dat groin, un Dree
Maand da kemen de
Bloimer ut de Erde,
un Veer Maand dar
drangen sik alle Boi-
mer in dat Holt un
de groinen twige wee-
ren all in een anner
wussen dar sungen
de Vägelkens dat dat
ganze holt schallt, un
de Blöten felen von
de Boimes dar was de
fyfte Maand weg, unse
stand ienner den Ma-
handelboom de rook
so schoin do sprang
eer dat hart vör freu-
den unse feel up
eere knee un kande
sik nich laten, un as
de seste Maand vörby
was dar ward en de
früchte dik un stark
da ward se gans still,
un de söben de Maand
da greep se nade Ma-
chandelbeeren un att
se so nidsch, da ward
se trurig un krank,
darging de Achte
maan hen, un se
reep eeren Mann un
weende un sed, wen
ik starve so begrave
my ünner den Machan-
delboom, da wurde se
gans getrost un freute
sik bett de neegte
maand vorby was dar
kreeg se een Kind so

[286]

witt as Snee un so
rot as bloot un as se
dat sah so freute se
sik so dat se sturv.

Dar begrob eer Man
se unner den Machan-
delboom.

Büsching:
… un ging een Maand

hen, de Snee vör ging,
un twee Maand dar
was dat groin, un dree
Maand, da kemen die
Bloimer ut de Erde,
un veer Maand, dar
drungen sik alle Boi-
mer in dat Holt, un
de groinen Twige wee-
ren all in een ander
wussen. Dar sungen
de Vägelkens, dat dat
ganze Holt schallt, un
de Blöten felen von
de Boimes. Dar was
de fyfte Maand weg,
un se stand ünner den
Mahandelboom, de rook
so schoin; do sprang
eer dat Hart vör Freu-
den, un se feel up
eere Knee un konnde
sik nich laten. Un als
de seste Maand vörby
was, dar warden de
Früchte dik un stark,
da ward se gans still.
Un de söbende Maand,
da greep se na de Ma-
handelbeeren un att
se so nidsch, da ward
se trurig un krank.
Dar ging de achte
Maand hen, un se
reep eeren Mann un
weende un sed: „wen
ik starve, so begrave
my ünner den Mahan-
delboom“. Da wurde se
gans getrost un freute
sik, bett de neegte
Maand vorby was, dar
kreeg se een Kind, so

witt as Snee un so
root as Bloot; un as
se dat sah, so freute
se sik so, dat se sturv.

Dar begrob eer Man
se unner den Mahandel-
boom.

Grimms:
… un ging een Maand

hen, de Snee vörging,
un twee Maand, daar
was dat grön, un dree
Maand, daar kemen de
Blömer ut de Eerde,
un veer Maand, daar
drungen sick alle Bö-
mer in dat Holt, un
die grönen Twige wee-
ren all in een ander
wussen; daar sungen
de Vägelkens, dat dat
ganze Holt schallt, un
de Bleujten felen van
de Bömer, daar was
de fyfte Maand weg,
un se stund ünner
den Machandelboom,
de rook so schön; do
sprung eer dat Hart
vör Freuden, un se feel
up eere Knee und kunde
sick nich laten, un as
de söste Maand vörbi
was, daar wurden de
Früchte dick un stark,
do wurd se ganz still,
un de söwende Maand,
do greep se na de
Machandelbeeren un att
se so nidsch, do wurd
se trurig un krank;
daar ging de achte
Maand hen, un se
reep eeren Mann, un
weende un sed: wenn
ick starve, so begrave
my ünner den Machan-
delboom! Do wurde se
ganz getrost un freute
sick, bett de neegte
Maand vörby was, daar
kreeg se een Kind, so

witt as Snee und so
rood as Blood; un as
se dat sach, so freute
se sick so, dat se sturv.

Daar begroof eer
Mann se ünner den
Machandelboom.

Man erkennt, daß Arnim und Büsching, der letzte nur die Schreibung abgleichend, gegen den Text bei Grimms zusammenstehen. Büsching hat das Märchen, wie seine Anmerkung S. 451 besagt, direkt aus der Zeitung für Einsiedler entlehnt und thatsächlich auch Arnims Irrtum betreffs der Vornamen Runges (das Kindermärchen sei „nacherzählt von Ph. D. Runge“) unberichtigt beibehalten. Aber Grimms?


b) Der Fischer.

Brentano, der Runges Originalhandschrift in Händen hatte, nannte das Märchen Runge selbst gegenüber „Buttje Buttje“. Bei Büsching heißt es „Von den Fischer und syne Fru“. Grimms bieten „Von (Register: Van) den Fischer un siine Fru“. Ich glaube, daß sowohl dies wie das vorige Märchen in Runges Manuskript keine Überschriften hatten: niemals werden in Briefen zwischen Runge, Zimmer und Arnim die beiden Märchen bei einer Überschrift genannt. Arnim erst gab, wie er bei den Volksliedern des Wunderhorns auch verfuhr, dem ersten Märchen bei der Veröffentlichung die Überschrift. Diese Annahme, wenn sie zutrifft, würde leicht erklären, woher es kommt, daß die Schreibung des Titels (Ma[c]handel-Bohm) von der des Rungeschen Textes (Machandelboom) abweicht; und dann folgte daraus, daß nur die Form „Machandelboom“ mit ch, nicht die erste (durch Druckfehler bei Arnim entstandene) Form „Mahandelboom“ mit h, die Büsching durchführt, der ursprünglichen Absicht Runges entspräche. Der so geformten Überschrift des ersten Märchens ist vielleicht schon von Arnim, vielleicht von Büsching die des zweiten nachgebildet worden, die in Grimms Sammlung überging. Büsching sagt in der Anmerkung S. 452 über das Märchen: „Soll auch aus der Erzählung des verstorbenen Mahlers Runge aufgenommen sein und ward mir handschriftlich durch meinen Freund von der Hagen mitgetheilt.“ Die [287] unklare Fassung des vorderen Satzes läßt erkennen, daß Büsching über die Dinge nicht Bescheid wußte; den Inhalt des zweiten Satzes ergänzen die Brüder Grimm im Anhang ihrer Märchen (1812, S. X) dahin, daß Arnim es von der Hagen überlassen habe. Eigentlich stehen sich also bei diesem Märchen von der Hagen und die Brüder Grimm gegenüber, als diejenigen, die von dem Original die Abschrift nahmen. Indessen citiere ich zu den folgenden Parallelstellen doch nur Büschings Namen.

Es war einmal ein Fischer und seine Frau, die wohnten zusammen im Pispott, und –

Büsching:
un de Fischer ging alle Dage hen,

un angelt. So ging, un gin he hen,
lange Tyd.

Grimms:
un de Fischer ging alle Dage hen

un angelt, un ging he hen lange
Tid.

Der Fischer saß einst am See (B: an’n See, Gr: an de See) und holte mit der Angel einen großen Butt heraus:

Dar sed de Butt to em: „ik bid dy,
dat du my lewen lest, ik bin keenen
rechten Butt, ik bin een verwünschter
Prins, sett my wedder in dat Water,
un laat my swemmen.“

de Butt sed’ to em: „ick bidd di,
dat du mi lewen lettst, ick bin keen
rechte Butt, ick bin een verwünscht’
Prins, sett mi wedder in dat Water
und lat mi swemmen“ –

Der Fischer erfüllt die Bitte:

Dar sett he em wedder in dat
Wader, un de Butt ging furt weg
to Grunde un leet eenen langen
Strichen Bloot hinner si.

Dar sett’t he en wedder in dat
Water, un de Butt ging fuurts weg
to Grun’n un leet eenen langen
Stripen Bloot hinne si.

Der Mann erzählt (B: vortellt, Gr: vertellt) die Geschichte seiner Frau, und nun geht, auf ihren Antrieb, das Wünschen los. Er ruft den Butt herbei:

„Ach – sed de Mann – ik hev dy
doch fungen hot;

„Ach! sed’ de Mann, ick hev di
doch fangen hätt,

und wünscht sich von ihm eine kleine Hütte. Der Wunsch ist, wie er heim kommt, schon erfüllt. Eine Stube, Kammer und Küche, und –

un der achter was een lütje Garn
mit allerley Grönigkeeten un een
hof, da weeren honne un Eenden.

und da achter was een lütte Gaarn
mit allerhand Grönigkeiten un een
Hoff, da weeren Höner und Aanten.

[288] Als die Frau weiter drängt, erklärt der Mann zuerst:

„ik mag nu nich all wedder kam,
den Butt mag et vordreeten.“

„ick mag nu nich all wedder kamen,
den Butt mügt et verdreeten.“

Indes es nützt ihm alles nichts. Zuletzt wünschen und erhalten sie ein großes Schloß (B: groten Pallas, Gr: groten Pallast):

Mit das gingen se tosamen hein;
dar weeren so veel Bedenten, un
de Wende weeren alle blank, un
goldne Stöhl un Dischen weeren in
de Stuve –

Mit des gingen se tosamen herin,
daar weeren so veel Bedeenters, un
de Wände weeren all blank, un
goldne Stööl un Dische weeren in
de Stuw –

Die Frau ist aber noch nicht zufrieden:

„Na, dann will ik König syn –
seyd de Fru – ge hen tun Butt,
ik will König syn.“ –

„Ach Fru – sed de Mann – etc.

na denn will ick König sin –

(das Übrige fehlt)


„Ach! Fru etc.

Der Mann widerrät auch seiner Frau des weiteren:

watt wist du Pobst waren; Pobst
is man eenmal in de Kristenheet

wat wist du Pabst warden, Pabst
is man eenmal in de Christenheit.“

aber vergebens, und zuletzt sind der Fischer und seine Frau wieder in ihrem Pispott angelangt:

Dar sitten se noch hüt up dissen
Dag.

Daar sitten se noch hüt un dissen
Dag.

Aus diesen Zusammenordnungen ersehen wir, daß jede Partei, Büsching wie Grimms, in allem Formalen ungefähr sich gleich geblieben ist, beide aber gleich weit, wie beim Machandelboom, voneinander abstehen. Zwar schreibt Büsching wieder die Hauptwörter mit großen Anfangsbuchstaben, beläßt jedoch in ein paar Fällen, z. B. oben „honne“ und „hof“, die kleinen Anfangsbuchstaben, so daß man schließen muß, daß der principlose Wechsel der Anfangsbuchstaben der Substantiva, den Arnims Druck des Machandelbooms aufweist, bereits in Runges beiden Urschriften vorhanden war. Arnims Druck des Machandelbooms und Büschings Druck des Fischers halten gleichmäßig den Diphthong oi fest, wo bei Grimms ein ö begegnet, z. B. schoin und schön. Aber was zwischen den drei Druckstellen des Machandelbooms nicht der Fall war, tritt bei den beiden Druckstellen des Fischers hervor: es schleichen sich einzelne stilistische, darstellerische Differenzen [289] ein. An der ersten (oben ausgehobenen) Stelle neigt sich jedoch unsere Entscheidung zu Gunsten des Büschingschen Textes; denn das iterierende „So ging un gin he“ ist volksmäßig, dem Stile beider Rungeschen Märchen gerecht und vortrefflich an seiner Stelle: Grimms bieten hier also den geringeren Text. Bei der drittletzten Probe oben fehlt Grimms ein Sätzchen, das Büsching bietet, das aber gerade so wie die anderen Aufforderungen der Frau: „ga tum Butt, ik wull Kayser syn“ oder „ga hen tun Butt, ik will waren as de lewe Gott“ berechtigt ist und später merkwürdigerweise wieder erscheint. Also auch hier hat Büsching den besseren Text. Den Büschingschen Schluß „noch hüt up dissen Dag“ ziehe ich gleichfalls dem Grimmschen „noch hüt un dissen Dag“ vor; der Ausgang vieler Grimmschen Märchen, z. B. „De Gaudeif un sien Meester“, bestimmt mich dazu. Während also der Büschingsche Text des Fischers sich als der Urschrift näherstehend zu empfehlen scheint, behauptet der Anhang der Grimmschen Sammlung (1812, S. X) das gerade Gegenteil: Büsching erhält den Tadel, dies Märchen sei von ihm „nicht ohne Fehler“ abgedruckt worden.


Wir stehen wie vor einem Rätsel. Was berechtigte Grimms zu diesem Tadel? Warum verändert ihre Dialektbehandlung den beiden Märchen das ihnen von Arnim und Büsching gleichmäßig verbürgte Äußere? Sprachwissenschaftliche Bedenken waren schwerlich das Motiv dazu. Denn in eine bewußte Dialektforschung, die eine so weit ihnen abliegende Mundart, wie die pommersche, schon herbeigezogen hätte, waren die Brüder um jene Zeit nicht eingetreten.

Keine abstrakte Methode würde erschließen können, was eine Quelle, die ich öffne, mühelos hervorbringt. Diese Quelle sind Briefe des Verlegers Georg Andreas Reimer an Wilhelm Grimm. Bei der Sichtung und Ordnung der Grimmschen Nachlaßpapiere, wie sie durch Vermächtnis der Erben, allein wissenschaftlichen Studien dienstbar, auf der Königlichen Bibliothek zu Berlin verbleiben werden, nahm ich Reimers die Herstellung der ersten Märchenausgabe begleitende Briefe durch. Wilhelm Grimms Briefe an Reimer sind leider nicht erhältlich. Die große Nachlaßmasse Reimers ist – durch Diebstahl, wie ich höre – [290] einst zerstreut und verzettelt worden. Hier und da tauchen noch immer einzelne Stücke auf, bei denen Reimers, als des Adressaten, Name entweder herausgeschnitten oder durch Federstriche unleserlich gemacht worden ist. Ich besitze selbst derartig mißhandelte Blätter von Arnim und von Heinrich von Kleist an Reimer, die noch nicht gedruckt sind. Es verschlägt indes nicht viel für unsere Frage, daß Grimms Briefe aus dieser Zeit fehlen. Die Zeugnisse, die ich beizubringen vermag, reichen aus, um darzuthun, daß die Dialektbehandlung der beiden Märchen nicht von Grimms herrührt.

Georg Reimer war ein Pommer von Geburt. Die Verlagsbuchhandlung, die er in Berlin begründet hatte, stand in hohem Ansehen. Er hing, vor den Freiheitskriegen, freundschaftlich mit denjenigen preußischen Patrioten zusammen, die den Kampf gegen Napoleon wollten und der Kanzlerschaft Hardenbergs widerstrebten. Er war der Verleger von Werken E. M. Arndts, Achims von Arnim, Heinrichs von Kleist, und alle die Drangsale, die das Hardenbergische Regime nacheinander über „seine Autoren“ (wie Verleger sagen) brachte, hatte er schließlich selber durchzukosten. Ein eben erschienenes Lebensbild aus der Feder seines Sohnes Hermann Reimer bringt uns gerade diese Verfolgungen wieder näher. Arnim vermittelte seinen Freunden Grimm in Kassel den Verlag der Märchen bei Reimer. Er benachrichtigte sie (13. Juni 1812), Reimer wolle ihre Kindermärchen drucken und sich so mit ihnen setzen, daß er ihnen dann erst ein gewisses Honorar gebe, wenn eine bestimmte Zahl von Exemplaren verkauft sei, womit Wilhelm Grimm sich einverstanden erklärte.

Diese Dinge bilden die Voraussetzung für die Mitteilungen aus Reimers Briefen, die nun folgen sollen. Reimer, der im Sommer 1812 seine Geburtsstadt Greifswald besucht hatte, schrieb auf der Rückreise, in Anklam, an Wilhelm Grimm (17. September 1812): „Ihren Brief vom 15. August habe ich erst vor wenig Tagen in Greifswald erhalten, lieber Grimm; er wurde mir dahin nachgesandt … Es freut mich, daß Sie meinen durch Arnim Ihnen gemachten Vorschlag annehmlich gefunden haben.“ Auf sein Ersuchen schickten die Brüder Grimm sofort Manuskript ein, und der Druck begann. Reimer am 30. Oktober 1812: „Ihre beiden [291] Manuscriptsendungen (die letzte heute) sind richtig bei mir eingetroffen, lieber Grimm. Der Druck war inzwischen so weit vorgerückt, daß es an Manuscript zu fehlen beinahe anfing, indem schon elf Bogen gesetzt sind, ich Ihnen auch hiebei bereits Aushängebogen senden kann. Möchten Sie sowohl in Ansehung des Äußern als besonders auch der Correctur sich für befriedigt erklären!“ Da das Märchen vom Fischer und siner Fru, das bei Grimms zuerst kommt, in der Ausgabe von 1812 die Seiten 68 bis 77 umfaßt, also auf dem fünften Bogen steht, so kam es den Brüdern auf den Aushängebogen, die sie jetzt erhielten, bereits im Reindruck zu. Reimer empfand, daß ihnen die äußere Gestalt desselben auffallen müßte, und fortfahrend in seinem Briefe gestand er zu seiner Entschuldigung und ihrer Beruhigung ein: „Das plattdeutsche Märchen habe ich aber vor dem Druck selbst noch der Correctur unterwerfen müssen, und ich hoffe deshalb Ihre Verzeihung zu erhalten, da die Erzählung aus meinem Geburtslande stammt und ich also einige Einsicht darin zu haben glaube; auch habe ich mit aller Sorgfalt jeden zweifelhaften Ausdruck genau mit Dähnerts plattdeutschem Wörterbuche verglichen und überdies mich noch eines verständigen Freundes Rath und Hülfe bedient. Freilich kommen immer noch einige Ausdrücke vor, die eigentlich nur dem Hochdeutschen entlehnt sind, allein diese ließen sich nicht ausmärzen, ohne ganze Perioden zu ändern. Wie erfeulich würde es mir seyn zu hören, daß mein Verfahren Ihnen weder ungeschickt noch eigenmächtig erschienen sei, und Ihre Billigung erhalten habe.“

Also Reimer hatte eigenmächtig und ohne Auftrag gehandelt. Zwar Greifswald und Wolgast liegen nicht weit voneinander. Aber war Reimer mit dem Plattdeutsch wirklich so vertraut? Ich habe als die Regel erfahren, daß Städter, selbst Kleinstädter, das Platt des umliegenden Landes nicht beherrschen; schon zwei benachbarte Dörfer können verschiedene Mundart sprechen. In Runges Person war uns eine Einheitlichkeit der mundartlichen Behandlung gewährleistet, die vielleicht, was ich nicht weiß, in Kleinigkeiten irren mochte. Reimer dagegen hob diese Einheitlichkeit auf. Den Rungeschen Wein verschnitt er nicht nur mit eigenem, sondern auch mit Dähnertschem Gewächse. Das 1781 erschienene Plattdeutsche Wörterbuch von dem Greifswalder Professor [292] Johann Carl Dähnert war „nach der alten und neuen Pommerschen und Rügischen Mundart“ zusammengestellt und sollte etwas wie ein gemein-pommerisches Platt, ohne örtliche Färbung der Mundarten, darstellen. Reimers unberufene Thätigkeit läßt sich jetzt von uns genauer kontrollieren und bestimmen. Abweichungen, innerhalb der oben gegebenen Proben, wie: Tid, bidden, daar, Water, Höner, Aanten, Dische als Plural entsprechen den Aufstellungen Dähnerts in seinem Wörterbuche. Hingegen die Veränderung des Rungeschen „to Grunde“, das auch nach Dähnert zu recht besteht, in „to Grun’n“ fällt allein Reimer zur Last; ebenso „Bedeenters“, ein Wort, das bei Dähnert überhaupt nicht begegnet. Dähnert bietet für „werden“ als zwei mögliche Formen „waren“ und „warden“, seine Beispiele enthalten jedoch nur die Form „waren“: Runges Form „waren“ ist aber stets von Reimer durch „warden“ ersetzt worden. Dagegen „eenen langen Strichen Bloot“ bei Büsching mag wirklich ein auf Schrift beruhender Irrtum für „Stripen“ sein, was Reimer einsetzte. Das wäre denn auch die einzige Verbesserung, die durch Reimer in die Überlieferung gekommen wäre. Alles übrige ist Trübung der ursprünglich reineren Lautgestalt des Märchens. Die Mundart in der Grimmschen Sammlung hat also nimmer existiert.

Derselben Behandlung unterwarf Reimer auch den Machandelboom. Z. B. Eerde, Bleujte, söwende ist nach Dähnert, begroof von Reimer. Das Märchen steht in Grimms Sammlung auf den Seiten 203–217, nimmt also ungefähr einen Bogen ein. Reimer hatte von dem früheren Abdruck in Arnims Einsiedlerzeitung keine hinderliche Ahnung. Aber als die Texte ausgedruckt waren, kamen die wissenschaftlich-litterarischen Nachweisungen des Anhangs an die Reihe. Jetzt geriet Reimer ins Gedränge. „Ich bin genöthigt,“ schrieb er am 1. Dezember 1812, „meinem am vorigen Posttage an Sie erlassenen Brief diesen sogleich folgen zu lassen, lieber Grimm, weil mir bei der Correctur der Anmerkungen die die Erzählung vom Machandelboom betreffende ein großes Bedenken gemacht hat. Es steht nemlich daselbst: es sei diese wörtlich nach mündlicher Mittheilung Runges abgedruckt, um damit die eigenthümliche Behandlung des Plattdeutschen darin zu rechtfertigen. Ich der ich diese Absicht nicht zuvor kannte, habe mich um so mehr berechtigt gehalten, die Aenderung nach denselben [293] Principien vorzunehmen, wie bei der Erzählung vom Fischer, als die Abschrift viel correcter und den Regeln des Plattdeutschen zusagender war, als bei dem Fischer, und daher die Änderungen viel weniger und unbedeutender waren. Zudem war auch eine nicht unbedeutende Ungleichheit in der Schreibart, wie ich aus der Handschrift beweisen kann, die daher den ganz wörtlichen Abdruck schon nicht gestattete und Correcturen durchaus nöthig machte; sodann glaube ich auch, daß es nicht rathsam sei etwas in einer Sprache drucken zu lassen, die nicht wirklich irgendwie einmal geredet worden, wie es z. B. Hagen anfänglich mit den Nibelungen zu vieler Mißfallen gethan hat.“ Lauter Scheingründe natürlich, die Reimer wie ein Redakteur, der ein schlechtes Gewissen hat, zur Bemäntelung eines verunglückten Übergriffes hervorsucht.

Eine ganz unerwartete Instanz, die Reimer noch für sich anführte, war – Ludwig Tieck. Schon am 28. November 1812 schrieb er an Wilhelm Grimm, die Kürze seines Schreibens entschuldigend: „Ich erwarte in dieser Stunde Tieck, der einige Zeit hier bei mir wohnen wird.“ Am 1. Dezember setzte Reimer nun hinzu: „Endlich hat mir auch noch zu meiner größten Beruhigung Tieck, dem ich die Sache mittheilte, gesagt, die Erzählung sei gar nicht so abgefaßt, wie er sie selbst häufig aus Runges eigenem Munde gehört habe, selbst in einigen Wendungen und Momenten der Entwickelung verschieden.“

Es ist, wie mir scheint, von weittragender Bedeutung, dies erst jetzt hervortretende neue Moment, daß Tieck in die Grimmschen Märchen, noch während ihres Entstehens, schon Einsicht genommen hat. Denn beim Machandelboom allein wird er nicht stehen geblieben sein. Man bedenke: er ließ 1812 den Phantasus erscheinen, in den er seine älteren und neuen Märchen einlegte. Man vergegenwärtige sich von den früheren den blonden Eckbert oder den dramatisierten Blaubart, von den neuen den Liebeszauber oder die Elfen, um zu erkennen, wie Tieck die Pflichten und Rechte eines Dichters dem Märchen gegenüber auffaßte. Er betrachtete das Märchen an sich als Stoff, als Material, und „Jeder bearbeitet es auf eigene Weise und denkt sich etwas anderes dabei“ läßt er eine der sich unterredenden Personen sagen. Wie hätte ihn da die Grimmsche Sammlung, [294] die ja aus der Arnim-Brentanoschen Gruppe, wie er wußte, kam, nicht zur Lektüre reizen sollen? Von dieser Gruppe stand er abseits, ob er gleich von ihnen, auch von Grimms zum Blaubart, Kater u. a., ehrenvoll genannt wurde. Grimms Art, Märchen zu erzählen, war eine andere als die Tiecks. Grimms litterarische Formgebung der Märchen machte fast da schon Halt, wo Tiecks Arbeit erst begann. Brentano selbst, als Grimms Märchen erschienen, äußerte sein Mißbehagen an denselben: natürlich, da er die Märchen wieder auf seine Art behandelte. Und so sehe ich in dem, was Reimer als die Ansicht Tiecks hinschreibt, zuerst eine gewisse Nichtzufriedenheit desselben mit der Sammlung der Brüder. Tieck hat kein kritisches Wort öffentlich gegen Grimms gesagt, ebensowenig Clemens Brentano: aber darin, daß beide an ihrer Manier festhielten, liegt eine unausgesprochene Kritik der Grimmschen Art verborgen. Die Widerstände selbst gegen ein Werk wie die Grimmschen Märchen waren ihrer Zeit viel stärker und zäher, als es heute, wo sie allgemein durchgedrungen sind, uns scheinen möchte. Die Angabe, daß Tieck von Runge selbst die Märchen anders, als die schriftliche Gestaltung lautete, gehört habe, ist doch gar zu interessant für uns. Reimer hat sie nicht sich aus der Luft gegriffen; denn auch Steffens erzählte Wilhelm Grimm 1809 in Halle, von Runge, der sonst keine Märchen kenne, die beiden plattdeutschen öfters gehört zu haben. Ich glaube daher an die Richtigkeit der ganzen Reimerschen Aussage. Diesen Glauben erleichtert mir die allmähliche Ansammlung unvollständiger Varianten der beiden Märchen bei Grimms und ihren Nachfolgern und erschwert mir keineswegs der Brief Runges an Arnim vom 31. Mai 1808, worin er allzu bescheiden jedes Verdienst für seine Person ablehnte, „da es bloß Zufall sei, daß er die beiden Märchen vollständig zu hören bekommen habe“. Tiecks Erinnerung konstatiert nur das, was bei unbefangener Betrachtung des Aufbaus der Märchen sich ohnehin ergeben muß.

Trotz Tieck fühlte sich Reimer doch noch immer in der Klemme. „Inzwischen“, fuhr er zu Wilhelm Grimm am 1. Dezember 1812 fort, „sind alle diese Gründe bei weitem nicht hinreichend, um Ihrem Autorrecht nur die geringste Kraft zu entziehen, und ich bescheide mich gern, wenn Sie es verlangen, die [295] ganze Erzählung, welche gerade einen Bogen einnimmt, genau nach der Handschrift abdrucken zu lassen, wenn Sie aus irgend einem Grunde dies für besser achten. Verzeihen Sie sodann nur meinen Eingriff in Ihr Recht, der aber in der besten Absicht geschah. Billigen Sie hingegen, wie ich nach den Umständen doch kaum erwarte, mein Verfahren, so werde ich die angezogene Stelle der Anmerkung dahin ändern, daß der Eigenthümlichkeit des Ausdrucks keine Erwähnung geschieht. Ihre kurze Antwort erwarte ich umgehend, damit der Druck und die Ausgabe des Büchleins nicht verzögert werde; vielleicht ist es möglich, sie mit der Abschrift des fehlenden Märchens („Von den drei Schwestern“, nach anderen Briefen) zugleich zu erhalten.“

Die Brüder Grimm werden von diesen Bekenntnissen nicht erbaut gewesen sein. Allein Weihnachten und das Weihnachtsgeschäft stand vor der Thür. Einspruch von ihrer Seite bedeutete Verzögerung und Verlust. Einige Ausstellungen allgemeiner Art scheinen sie gemacht zu haben. Am 20. Dezember 1812 sandte Reimer ihnen mit den noch übrigen Aushängebogen die geforderten Exemplare auf gewöhnlichem und Druckpapier. Er habe in möglichster Eile den Druck beendigen lassen, weil die Zeit höchst knapp geworden sei: „So mag es wol gekommen seyn, daß am Schluß vielleicht einiges versehen worden, oder bei der Correctur die Sorgfalt weniger genau gewesen ist. Doch, denke ich, soll Alles ohne bedeutende Fehler abgegangen seyn, was ich jetzt nicht durchsehen kann, da selbst diese Revision Mangel an Zeit nicht gestattet.“

Und weiter dann in demselben Briefe: „Ihrer Erlaubniß gemäß, sind also die plattdeutschen Märchen geblieben, wie ich sie anfangs habe abdrucken lassen. Die Abweichungen von dem landesüblichen Dialekt waren in der That nur aus Unkenntniß oder Mangel an Gedächtniß beim Erzähler entstanden, und da diese Abweichungen in sich nicht einmal consequent durchgeführt waren, wie ich aus vielen Stellen deutlich beweisen kann, so würden sie nur als Unvollkommenheiten erschienen seyn; deshalb halte ich die Aenderungen wirklich für eine Verbesserung.“ Es bereitet einem ein psychologisches Vergnügen, zuzusehen, wie sich Reimer ganz unschuldig zu dem Bewußtsein einer verdienstlichen That hinauftäuscht.

[296] Nun werden wir die sonderbare Fassung der Anmerkungen im Grimmschen Anhang begreifen. Zum Fischer S. X: „Dieses Märchen welches der seel. Runge aus der pommerschen Mundart treflich niedergeschrieben, theilte uns Arnim 1809 freundschaftlich mit, von demselben durch v. d. Hagen erhielt es auch Büsching und hat es in seiner Sammlung wiewohl nicht ohne Fehler abdrucken lassen.“ Das Schlußsätzchen entstand so unter der Fassung Reimers. Über das Märchen vom Machandelboom heißt es nur noch S. XXIX: „Dieses wunderschöne Märchen ist uns von Runge mitgetheilt worden,“ alles Ursprüngliche ist von Reimer bis zur Wesenlosigkeit abgestreift worden.

Unter diesen Umständen hatten die Brüder Grimm vor dem eigenen Texte, den sie mit ihrem Namen deckten, keinen Respekt. Jacob trug am Rande des Handexemplares eine Reihe von Bemerkungen, Bedenken oder Berichtigungen ein. Zum Fischer z. B.: S. 69 hinner anstatt hinne, lüttje anstatt lütte; S. 70. 73. 76 tom Butt anstatt tum Butt. S. 75 in dem Satze „Dar ging he recht vörzufft staan und sed“ markierte Jacob durch Unterstreichen und Fragezeichen sein Nichtverständnis des Wortes „vörzufft“, wo Büsching „vörtogtsten“ darbietet: „vörzufft“ ist jedoch später beibehalten worden und wird durch einen Klammerzusatz bei Grimms durch „verzagt“ erklärt. Zum Machandelboom z. B.: S. 204. 205 in stund das d notiert; S. 205 in „keene ruhige Stede“ das Adjektiv „ruhige“ als mundartlich fehlerhaft unterstrichen, was nach Dähnert „rauig“ heißen würde; S. 207 notierte er „daröver vörschrak“ anstatt „daräver varschrak“; S. 216 strich er in dem Satze „daar truck se de nien rooden Scho an“ das Verbum „truck“, wofür er am Rande tog, toog oder treckt versuchte, als bedenklich an und traf damit unbewußt auf Büschings Lesart „took“.

An die zweite Ausgabe der Grimmschen Märchen, von 1819 bis 1822, tritt man daher mit der Erwartung heran, daß die Mißverständnisse nun ins reine gebracht sein werden. Aber da irrt man sich. Die Fassung der Anmerkungen, jetzt zuerst gesondert im dritten Bande, zeigt zwar, daß den Brüdern die Erinnerung noch nicht verloren war. Beim Fischer, S. 29, ist der ganze Passus über von der Hagen und den angeblich fehlerhaften Text bei Büsching fortgelassen. Der Machandelboom, [297] S. 79, erhält jetzt nur noch den Vermerk: „Von Runge nach der Volkserzählung aufgeschrieben“ – weiter nichts. Im übrigen aber ist der Text der ersten Ausgabe eine Macht geworden, die sich durch ihr Dasein behauptet und weiterfristet. Die Veränderungen sind minimal. Im Fischer die folgenden nur. 1819 S. 97: Von dem Fischer un siine Fru (1812 S. 63: … den … und …); S. 98 hinner sich (S. 69 hinne sich) – stimmt, wenn nicht etwa bloßer Druckfehler, mit Jacobs Forderung; S. 98 Prins, daar hadd he (S. 69 … doon …); S. 104 der Schlußsatz: Daar sitten se noch hüt up dissen Dag – also wie die Betrachtung oben S. 289 als das Richtige ergeben hatte. Beim Machandelboom sind die Varianten fast noch geringfügiger. 1819 S. 231 toriden (1812 S. 206 toreden); S. 238 kamm de Vagel anflogen (S. 214 auflegen); S. 238 früdig (S. 214 freudig); S. 240 Weld (S. 216 Werld). Jacobs Bedenken sind also weder für den Fischer noch für den Machandelboom praktisch geworden.

Diese so zu stande gekommenen Texte bleiben nun fest bei Grimms bis zur kleinen Ausgabe, der fünften Auflage, vom Jahre 1841: nur daß hier, S. 156, wieder die Wortform „Werld“ zu finden ist. Dann aber erscheint plötzlich eine ganz andere Gestalt der beiden Märchen, die in jedem Worte fast, mundartlich oder stilistisch, von der früheren abweicht.

Ich führe zur Veranschaulichung ein paar oben ausgehobene Stellen in der neuen Gestalt hier an, und zwar citiere ich nach der großen Ausgabe vom Jahre 1857. Aus dem Machandelboom:

1, 232 (vgl. oben S. 285) un’t güng een Maand hen, de Snee vorgüng: un twee Maand, do wöör dat gröön: und dre Maand, do kömen de Blömer uut der Eerd: un veer Maand, do drungen sik alle Bömer in dat Holt, un de grönen Twyge wören all in eenanner wussen: door süngen de Vögelkens dat dat ganße Holt schalld, un de Blöiten felen von den Bömern: do wöör de fofte Maand wech, un se stünn ünner dem Machandelboom, de röök so schön, do sprüng ehr dat Hart vör Freuden etc.

Aus dem Fischer:

1, 100 (vgl. oben S. 287): un de Fischer güng alle Dage hen un angeld: un he angeld un angeld.

Ebenda. Do säd de Butt to em „hör mal, Fischer, ik bidd dy, laat my lewen, ik bün keen rechten Butt, ik bün ’n verwünschten Prins. Wat helpt dy dat, dat du my doot maakst? ich würr dy doch nich recht smecken: sett my wedder in dat Water un laat my swemmen“.

[298] 1, 103 (vgl. oben S. 288): „Na“, säd de Fru, „wult du nich König syn, so will ik König syn, Ga hen tom Butt, ik will König syn.“ „Ach, Fru“, säd de Mann etc.

1, 108: Door sitten se noch bet up hüüt un düssen Dag.

Die Erklärung dieses auffallenden Wechsels bei den Brüdern Grimm erbringt der Umstand, daß inzwischen, 1840 und 1841, die Hinterlassenen Schriften Otto Runges erschienen waren, in denen die Texte in dieser Gestalt gedruckt sind.

Daniel Runge faßte bald nach seines Bruders Otto Tode den Entschluß, die hinterlassenen Schriftstücke des letzteren zu sammeln und herauszugeben. Er hat sich, wie wir wissen, an Goethe, an Görres, an Tieck und an andere Freunde des Verewigten gewandt und deren thätige Mithilfe zu seinem Unternehmen sich erbeten. 1812 schrieb er auch an Arnim, welcher Brentano (S. 306) gelegentlich davon Mitteilung machte: „Der Runge hat mir nochmals geschrieben wegen der Briefe seines Bruders an Dich. Weißt Du, wo sie hier liegen? kann ich sie finden? Auch wünscht er das Originalmanuscript seines Bruders von den beiden Märchen, das ich Dir einst gegeben habe; kannst Du es ihm verschaffen?“ Was Brentano darauf gethan oder geantwortet hat, darüber besitzen wir leider kein direktes Zeugnis. Es sind schließlich über der Sammlung an drei Jahrzehnte hingegangen. Wie das Werk vorliegt, enthält es Otto Runges Briefe an Brentano und Brentanos Nachruf auf Runge in Kleists Berliner Abendblättern vom Jahre 1810. Brentano selbst muß diese Stücke hergegeben haben; er, Bettina von Arnim, Görres, Jacob Grimm gehören zu den Subskribenten, die das Erscheinen des Werkes möglich machten; ich benutze das Grimmsche Exemplar, das jetzt der Berliner Universitäts-Bibliothek gehört. Daß aber das Originalmanuskript der Märchen mit zurückgekommen sei, wird nirgends gesagt oder angedeutet. Es ist auch nicht wahrscheinlich. Denn sonst würde das Schriftstück Wort für Wort abgedruckt worden sein, und man läse nicht 1, 372 die auffällige Anmerkung: „Es sind die Plattdeutschen Stücke in diesem Abdrucke meist dem Hamburgischen Dialekte anbequemt worden; welches doch nicht vollständig hat geschehen können.“ Also Daniel Runge gesteht auch wieder, eigenmächtig und nicht konsequent verfahren zu sein. [299] Die „plattdeutschen Stücke in diesem Abdrucke“ sind aber die oben schon besprochenen Reimereien Otto Runges in der Beschreibung seiner „Fußreise in Seeland“ und außerdem noch unsere beiden Märchen. Daniel Runge selber ist Zeuge dafür, daß die Stücke ursprünglich in einer anderen Mundart, der pommerschen natürlich, abgefaßt worden waren.

Aber ist sonst Treue gegen die Überlieferung beobachtet worden? Bei dem Machandelboom: ja. Ganz vereinzelt ist einmal ein kleines Wörtchen zugesetzt oder (wie in dem Liede des verwandelten Vogels) ein „un“ fortgelassen worden, offenbar in der Absicht, damit die Verse des Liedes je dreimal gleichmäßig beginnen möchten. Also

ursprünglich bei Grimms:
min Moder de mi slacht’t,

min Vader de mi att,
min Swester de Marleeniken,
söcht alle mine Beeniken
un bindt se in een siden Dook,
legts unner den Machandelboom etc.

bei Daniel Runge:
Mein Mutter der mich schlacht’,

Mein Vater der mich aß
Mein Schwester der Marlenichen
Sucht’ alle meine Benichen,
Bind’t sie in ein seiden Tuch,
Legt’s unter den Machandelbaum etc.

Im allgemeinen ist der anfängliche Bestand des Märchens durchaus bewahrt.

Anders steht es mit dem Fischer und siner Fru. Hier hat Daniel Runge so gründlich in die Textgestalt eingegriffen, daß fast ein neuer Text entstanden ist. Die Verschiedenheit macht sich in dem Maße geltend, daß es nicht einmal möglich wäre, die Varianten neben dem ursprünglichen Texte zu notieren. Man müßte die Texte nebeneinander ausdrucken lassen. Die Beschreibung der Situationen ist voller gemacht worden, die Motive sind weiter ausgesponnen. Der Einschub der neuen Sätze zieht die Veränderung der alten nach sich. Durchweg hat eine Verschlechterung des ursprünglichen Märchenvortrages stattgefunden. Die Annahme etwa, daß Daniel Runge auf dem Originalmanuskript oder auf einem wiedergefundenen Koncepte seines Bruders fuße, ist nach dem Befunde gänzlich ausgeschlossen.

Und vor diesen Texten beugte sich trotzdem Wilhelm Grimm. Zwar zeigt das Grimmsche Exemplar der Hinterlassenen Schriften Runges gerade zum Fischer einzelne Bleistiftnotizen von der Hand Wilhelms. Aber seine Bedenken waren doch, ich meine [300] immer noch im Gefühl des mundartlichen Zustandekommens der eigenen Texte, nicht stark genug, um sich der Aufnahme der neuen Texte zu widersetzen. Damit stimmt nun aber keineswegs die Fassung, die Wilhelm Grimm der Neubearbeitung des Anmerkungen-Bandes 1856 gab. Da heißt es (S. 28), das Märchen „de Fischer un siine Fru“ habe Runge zu Hamburg in der pommerschen Mundart trefflich aufgeschrieben: „Es ist hernach auch in Runge’s Werken abgedruckt worden.“ Ja, Grimms Abdruck hatte aber jetzt den pommerschen Dialekt verloren! Zum Machandelboom (S. 77) wird jetzt nur noch bemerkt: er sei von Runge nach der Volkserzählung aufgeschrieben. In dieser letzten, von Wilhelm Grimm angenommenen Form stehen die beiden Märchen noch heute in unseren Ausgaben.

Ich fasse zusammen. Die bei Grimms von 1812 bis 1841 vorhandene Lautform der beiden Märchen ist unecht, durch Reimers Schuld. Die in Runges Hinterlassenen Schriften und bis heute in Grimms Märchen dafür eingetretene Form ist gleichfalls unecht, durch Daniel Runges Schuld. Niemals hat es diese beiden Sorten von Dialekt lebendig gegeben. Die wahre Form der beiden Märchen, wie sie aus der Hand Otto Runges mundartlich und stilistisch hervorgegangen ist, bietet uns, kleine Fehler abgerechnet, für den Machandelboom Arnims Einsiedlerzeitung 1808, für den Fischer und sine Fru Büschings Märchensammlung vom Jahre 1812.


2. Die Sage von Rodensteins Auszug.

In Grimms Deutschen Sagen, 1816 S. 244, wird die Sage von Rodensteins Auszug erzählt. Die Brüder Grimm berufen sich daselbst auf eine mündliche Quelle und laden ein, die Zeitung für die elegante Welt Nr. 126 vom 25. Juni 1811 und den Gothaischen Reichsanzeiger in mehreren Nummern des Jahres 1806 zu vergleichen.

Der Aufsatz der Eleganten Welt giebt erst die Sage selbst und läßt darauf eine Anzahl urkundlicher Belege folgen. Wie gänzlich andersgeartet die Sage bei den Brüdern Grimm zunächst auch scheinen möge, so lehrt eine Vergleichung dennoch ihre Abhängigkeit von der Darstellung in der Eleganten Welt: wie [301] sich das herausstellen wird. Ein Verfasser ist nicht genannt. Die Nummer der Eleganten Welt müßte uns somit für die gedruckte Urquelle der Grimmschen Sage gelten.

Indessen die anscheinend so einfache Lage der Dinge nahm für mich ein anderes Aussehen an, als ich die Sage vom Rodenstein, vier Monate früher als in der Eleganten Welt, in Heinrich von Kleists Berliner Abendblättern fand: in Nr. 42 vom 19. Februar 1811. Ebenfalls anonym und ohne Herkunftsbezeichnung. Übereinstimmend mit der Eleganten Welt und nur in kleinen Einzelheiten davon abweichend. Aber gerade aus einer einzigen Variante ließ sich erschließen, daß die Abendblätter den besseren und richtigeren Text lieferten. Die Abendblätter citieren ordnungsgemäß die „amtlichen“ Protokolle; die Elegante Welt dagegen die „sämtlichen“ Protokolle, was den Sinn verdirbt. Die „sämtlichen“ Protokolle bietet noch ein anderer Abdruck des Rodensteins, auf den ich in den Hamburger Gemeinnützigen Unterhaltungs-Blättern stieß, in Nr. 43 vom 17. Juli 1811: der also wahrscheinlich nach dem Druck der Eleganten Welt veranstaltet worden ist.

Der Text der Berliner Abendblätter entzieht also, durch seine frühere Erscheinung und bessere Gestalt, der Eleganten Welt die Quellbedeutung für die Sage. Aber nun entsteht die Frage: ist Kleist wohl der Verfasser? oder wenigstens, ist der Text bei Kleist der erste Druck der Sage? Es hat immer seine schweren Bedenken, eine verhältnismäßig kurze Darstellung, auf die bloße Sprache hin, einem Autor zuzusprechen oder abzusprechen. Kleist konnte den Stoff der Sage irgendwo selbst erhalten haben. Möglicherweise aber konnten auch seine Freunde und Mitarbeiter Arnim und Brentano, die den Odenwald durchstreift hatten, die Sage und die urkundlichen Belege dazu mitgebracht haben. Arnims und Brentanos anregende Teilnahme an Grimms Märchen und Sagen ist bekannt. Aber auch Kleist und seine Schriften, darunter die Abendblätter, stehen, wie ich an anderem Orte zeige, nicht außer Zusammenhang mit den nachfolgenden Märchen- und Sagensammlungen der Brüder, sind ja auch Übersetzungsproben nordischer Sagen von Wilhelm in Kleists Abendblätter hineingeraten. Arnim war eben der Mittelsmann. Wie sollte ich mich da entscheiden?

[302] Ein glücklicher Zufall kam mir zu Hilfe. Ich nahm für andere Zwecke den in Nürnberg damals erschienenen Korrespondenten von und für Deutschland durch, den mir hierher zu leihen das Germanische National-Museum so freundlich war. Ein wundervoll gedrucktes, klug redigiertes, gesinnungsloses Rheinbundsblatt. Das schöne Folio durch einen Strich in zwei verschiedene Regionen abgetrennt. Über dem Striche liest man die im Napoleonischen Sinne zurecht gemachten Politica, für welche die Leser unter dem Striche durch allerlei amüsante, inhaltsreiche und belehrende Literaria eingefangen werden mußten. Im südlichen Deutschland wurde der Korrespondent sehr eifrig gelesen und hatte großen Einfluß. Kleist hat 1809 auf einen seiner politischen Aufsätze, um ihn als vaterlandslos zu brandmarken, in einem (von Köpke zuerst aus der Handschrift veröffentlichten) satirischen Briefe die Antwort eines deutschen Patrioten gesetzt, worüber noch einmal gesprochen werden muß. 1810 und 1811 benutzte Kleist, wie viele andere Blätter, so auch den Korrespondenten für seine Berliner Abendblätter.

In diesem Nürnberger Korrespondenten, in Nr. 37 vom 6. Februar 1811, erscheint nun zuallererst die Sage vom Rodenstein. Von hier also, sehen wir jetzt, hat Kleist sie in seine Abendblätter (vom 19. Februar 1811) übernommen, nichts verändernd, kaum ein Wort hinzufügend. Auch dort ist der Name des Verfassers nicht genannt, noch irgendwie die Herkunft der Sage angedeutet. Aber wir werden es im Korrespondenten mit einem Originalartikel zu thun haben. Die rationalistische Auffassung von Sage und Aberglauben paßt trefflich in das „aufgeklärte“ Rheinbundsblatt. Ein Nürnberger Blatt konnte wohl dergleichen Beiträge aus dem nicht fernen Odenwalde, der so reich an volkstümlicher Litteratur war, unmittelbar an sich ziehen.

Nachdem wir so an den Anfang dieser Überlieferung der Rodensteinsage gelangt sind, fragen wir zunächst, ob und in welchem Verhältnisse die Grimmsche Sage zu ihr stehe? Es wird nötig sein, beide Fassungen zur Veranschaulichung nebeneinander zu setzen. Ich wähle aber, da auch Kleinigkeiten mitsprechen, die Textgestalt der Eleganten Welt, die die Brüder ja allein benutzten, und füge nur hier und da ein paar Varianten an:

[303]
Elegante Welt 1811.
Der Rodenstein.
(Eine Volkssage.)
In dem Odenwalde herrscht

eine Sage, welche von Gene-
ration zu Generation übergehet,
und durch ihr Alter, bei der
in der Aufklärung noch etwas
zurückstehenden Volksklasse
dieser Gegend, den höchsten
Grad der Glaubwürdigkeit er-
halten hat. Nahe an dem, zum
gräfl. Erbachischen Amte Rei-
chenberg gehörigen, Dorfe Ober-
kainsbach, liegen auf einem
Berge die Trümmern[1] eines
vom Alter zerstörten Schlosses,
Schnellerts genannt. Gegen
über, eine Stunde davon, in
einer schauerlich-romantischen
Gegend, in der großen Roden-
steiner Mark, lebten ehemals
gewisse Herrn[2] von Rodenstein,
deren Geschlecht in der männ-
lichen Linie erloschen ist. Noch
sind die Ruinen der alten Burg
zu sehen, ein mächtiges Raub-
schloß, dessen letzter Besitzer,
durch Reichthum und Menge
seiner reisigen Knechte, über
die Gegend ein gewisses furcht-
bares politisches Uebergewicht
behauptete, und die Nachbarn
weit umher befehdete. Er war
durch ritterliche Thaten das
Wunder der Gegend geworden;

[304]

sein Andenken lebt noch bis
auf den heutigen Tag fort; sein
Schicksal hat ihn bestimmt, zu
gewissen Perioden unsichtbar
aus der Geisterwelt hervor zu
treten, der Verkündiger von
Krieg und Frieden zu werden,
und im Reiche des Aberglau-
bens Erwartungen der Dinge,
die da kommen sollen, zu er-
regen. Droht Kriegsgefahr, und
der Tempel des Janus[3] ist ge-
schlossen, so zieht Rodenstein
von seinem gewöhnlichen Auf-
enthaltsorte, Schnellerts, bei
grauender Nacht, mit Rossen
und Hunden in Gefolg seines
Hausgesindes und unter dem
Schmettern der Trompeten,[4] von
der verfallenen Burg. Er nimmt
seinen Weg durch Hecken[5] und
Gesträuche, durch die Scheuer
Simon Daums[6] zu Oberkains-
bach nach dem Rodenstein, um,
wie die Legende sagt, „gleich-
sam als ob er flüchten und das
Seinige in Sicherheit bringen
wolle.“ Dorten[7] verweilt er;



[305]

 

beginnen aber Hoffnungen zum
Frieden, so kehrt er in eben
dem Zug, jedoch in ruhiger
Stille nach dem Schnellerts zu-
rück. So lächerlich und aben-
theuerlich die Sage auch klingt,
so ist sie doch einmal so tief
in die Gemüther eingewurzelt,
daß es eine Art politischen
Unglaubens geworden ist,[8] die
Wahrheit derselben[9] zu bezwei-
feln, die das Alter geheiliget,
und der Aberglaube zum Volks-
glauben gemacht hat. Ehedem
hielt es sogar die Obrigkeit
ihrer Aufmerksamkeit nicht un-
würdig, der Sache näher auf
den Grund zu sehen. Bei dem
gräfl. Erbachischen Amt Rei-
chenberg, zu Reichelsheim, wur-
den viele Personen abgehört;
ihre Aussagen bezeichnen so
genau den Geist der Zeit, daß
sie, als Belege der damaligen
Denkungsart und des Grades
der Aufklärung, hier vermerkt zu
werden verdienen. Die sämmt-
lichen Protokolle,[10] welche Ein-
sender vor sich liegen hat, fangen
mit dem Jahr 1742[11] an, und
endigen mit dem Jahr 1764.
Im erstgenannten Jahre depo-
nirte Simon Daum, Einwohner
zu Oberkainsbach : „Sein Vater

[306]

selig, welcher Jeremias Daum
geheißen, seye des Orts Schult-
heis gewesen, und ein alter
Mann geworden, habe diesen
Geisterzug von Schnellerts ab-
und wieder zurück gar viel-
malen gehört, und es hernach-
malen wieder erzählet, Depo-
nent könne auch auf sein gut
Gewissen sagen, daß er dieses
Wesen gar vielmalen von Schnel-
lerts auf- und abziehen hören,
aber noch niemals etwas ge-
sehen, es bestünde allezeit in
einem großen Getöse und Ge-
räusche, gleich vielen Fuhr-
werks-Pferden, und dergleichen,
es komme gemeiniglich eine
Stunde nach eingetretener Nacht,
oder eine Stunde vor Tag, ge-
rade durch Deponentens Hof,
und zwar zu der Zeit, wenn Krieg
und Völkermärsche sich er-
eignen wollten. Wie denn Depo-
nent es damalen,[12] als der König
von Preußen vor 2 Jahren den
Krieg in Schlesien angefangen,
gar eigentlich gehört, daß es
von Schnellerts ab- und nach
dem Rodenstein gezogen; es
seye zu der Zeit ein halbes
Jahr außen geblieben,[13] und her-
nach wieder zurückgezogen; und
wie der jetzige Kaiser Karl VII
zu Anfang dieses Jahres in
Frankfurt gekrönt worden, seie

[307]

es wieder abgezogen, aber gleich,
und zwar nach zweien Tagen,
wieder zurück gekommen.“ 1763,
den 3. Februar, zeiget Johannes
Weber von Oberkainsbach an:
„Am letztverwichenen Dienstag
vor 14 Tagen seie bekanntlich
der Geist ausgezogen, und von
seinem Nachbarn, dem Johannes
Hartmann, gehört worden; den
folgenden Donnerstag, als den
20. letztverflossenen Monats Ja-
nuar, nach ungefähr 8 oder 9
Uhr, habe er, Deponent, da er
eben in seine Scheuer[14] gehen
wollen, ein starkes Getöse wahr-
genommen, als wenn einige
Chaisen den Berg hinauf gin-
gen, und gegen das Schnellerts-
Schloß zu führen, immer Ho!
Ho! rufen hören, wie man ins-
gemein zu rufen pflege, wenn
man die Pferde, welche eine
große Kutsche[15] zu führen hät-
ten, antreiben wollte; weil der
Geist auf diese Art einzuziehen
pflege, wenn es ruhig werde,
so werde insgemein dafür ge-
halten, daß jetzo alles still und
ruhig bleiben werde.“ Der letzte
Auszug Rodensteins soll im Mo-
nat Juli 1792 geschehen seyn.[16]

Grimms deutsche Sagen 1816.
Rodensteins Auszug.








Nah an dem zum gräflich
erbachischen Amt Reichenberg
gehörigen Dorf Oberkainsbach,
unweit dem Odenwald, liegen
auf einem Berge die Trümmer
des alten Schlosses Schnellerts;
gegenüber eine Stunde davon,


in der rodsteiner Mark, lebten
ehemals die Herrn von Roden-
stein, deren männlicher Stamm
erloschen ist. Noch sind die
Ruinen ihres alten Raubschlosses
zu sehen.

Der letzte Besitzer desselben
hat sich besonders durch seine
Macht, durch die Menge sei-
ner Knechte und des erlangten
Reichthums berühmt gemacht;
von ihm geht folgende Sage.












Wenn ein Krieg bevorsteht, so

zieht er von seinem gewöhn-
lichen Aufenthaltsort Schnellerts
bei grauender Nacht aus, be-
gleitet von seinem Hausgesind
und schmetternden Trompeten.


Er zieht durch Hecken und
Gesträuche, durch die Hofraithe
und Scheune Simon Daum’s zu
Oberkainsbach bis nach dem
Rodenstein, flüchtet gleichsam,
als wolle er das seinige in
Sicherheit bringen. Man hat
das Knarren der Wagen und
ein ho! ho! Schreien, die Pferde
antreiben, ja selbst die einzelnen
Worte gehört, die einherziehen-
dem Kriegsvolk vom Anführer
zugerufen werden und womit

ihm befohlen wird. Zeigen sich
Hoffnungen zum Frieden, dann
kehrt er in gleichem Zuge vom
Rodenstein nach dem Schnellerts
zurück, doch in ruhiger Stille
und man kann dann gewiß sein,
daß der Friede wirklich abge-
schlossen wird.*









* (Das Folgende ist Anmerkung in
Grimms deutschen Sagen:)
Bei dem erbachischen Amt

Reichenberg zu Reichelsheim
hat man viele Personen deshalb
abgehört;





die Protokolle fangen mit

dem Jahre 1742 an und endigen
mit 1764.








































































Im Juli 1792 war ein Auszug.

Die Abhängigkeit der Grimmschen Fassung von der gedruckten Vorlage, die die Brüder hatten, ist evident. Zugleich [308] jedoch gewahren wir, daß sie daneben einer anderen Quelle folgten, die sie als „mündliche“ bezeichneten. Aber wie haben sie verstanden, den reinen Sagengehalt aus beiden Quellen herauszuheben und, befreit von jeder fremden Zuthat, wieder zu neuer Sageneinheit zu verbinden. Grimms wollten mit ihren Märchen und Sagen auf die lebendige Gegenwart einwirken. Eine Beziehung auf die Zeitverhältnisse, aber eine rationalistische und sagengegnerische, war freilich schon im Nürnberger Korrespondenten gegeben; namentlich den Schlußsatz, daß der letzte Auszug Rodensteins 1792 geschehen, der Rückzug aber noch nicht erfolgt sei, legte sich ein echter Rheinbundsgeist 1811 natürlich in dem Sinne aus, daß die Ära der Napoleonischen Kriege und Siege noch andauern werde. Ein Kleist dagegen in Berlin, als er den Schlußsatz mit abdruckte, meinte sicherlich, daß für Preußen die Kämpfe, die die Folgen der französischen Revolution erdrücken würden, nach dem Ratschlusse höherer Gewalten in naher Zukunft stünden. Daß der Schlußsatz im Zeitsinne eine Bedeutung hatte, zeigt das Verfahren der weichmütigen Zeitschrift für die elegante Welt, die ihn einfach strich und fortließ. Er kam daher auch den Brüdern Grimm nicht vor die Augen. Trotzdem ließen sie, die ihrer Vorlage alles Sagenfeindliche, Antiromantische wieder abstreiften, ihre Sage in das Vaterländische auslaufen. „Ehe (schlossen sie, 1816) Napoleon im Frühjahr 1815 landete, war bestimmt die Sage, der Rodensteiner sei wieder in die Kriegsburg ausgezogen.“

Die von den Brüdern ferner angezogenen Nummern des Gothaischen Reichsanzeigers 1806 haben keinen unmittelbaren Einfluß auf die Gestaltung der Sage ausgeübt. Der Reichsanzeiger hielt eine ständige Rubrik für litterarische Anfragen, Antworten und Auskünfte offen, deren Vermittelung die Redaktion besorgte. Die Brüder Grimm haben sich dieses Vorteils, den der Reichsanzeiger bot, des öfteren bedient, in viel größerem Maße, als die beiden Sammlungen ihrer Kleineren Schriften es bezeugen. Die Verbindung mit dem Reichsanzeiger gestaltete sich dadurch so bequem für sie, daß sie durch ihre Tante Zimmer, die in Gotha lebte, jederzeit den litterarischen Zugang zum Regierungsrate Geisler (dessen Frau Benedicte Nauberts Tochter war), zu Friedrich Jacobs und zu Zacharias [309] Becker haben konnten. Diese Männer, die zunächst Brentanos und Arnims Bekannte waren, lernten sie bei gelegentlichem Besuch in Gotha persönlich damals kennen. Darum citierten sie auch den Reichsanzeiger.

Hier also finden wir 1806 auf eine litterarische Anfrage über den Schnellertsgeist eine ganze Anzahl ziemlich weit zurückliegender und neuerer Äußerungen über die Sage vom Rodenstein vereinigt. Der erste und beste Bericht gründet sich, wie der anonyme Verfasser ausdrücklich bemerkt, auf die Akten über Zeugenverhöre von 1742 bis 1766, ohne daß die Akten selbst im ganzen Wortlaut mitgeteilt würden. Da dies jedoch dieselben Akten sind, die der Mitarbeiter des Nürnbergischen Korrespondenten auch benutzte, so sind von vornherein Übereinstimmungen zwischen den beiden Schriftstücken gegeben, die sich natürlich bis in die Gestaltung der Grimmschen Sagen forterstrecken. Man kommt unwillkürlich auf den Gedanken, daß der, der 1806 die Beantwortung in den Reichsanzeiger sandte, und der, der 1811 das vollständige Schriftstück in den Korrespondenten lieferte, identisch sind.

Unabhängig von und gleichzeitig mit Grimms Deutschen Sagen, 1816, erschien nun ein Büchelchen von Theodor von Haupt, betitelt: Aehrenlese aus der Vorzeit. Haupt, der mit einer Reihe von Schriften und dramatischen Dichtungen seiner Zeit hervorgetreten ist, war Mitarbeiter an zahlreichen Journalen und Zeitungen zu Anfang des vorigen Jahrhunderts. Ich habe Beiträge von ihm an noch viel mehr Stellen gelesen, als im Neuen Goedeke beispielsweise verzeichnet sind. Immer geht etwas wie ein rationalistischer Zug durch seine Schriftstellerei, der seiner Vorrede zur genannten Aehrenlese auch nicht mangelt. Ein besonderer Abschnitt dieses Büchelchens bringt nun unter der Überschrift „Der Schnellertsgeist (Ritter Rodenstein) als Kriegs- und Friedensherold nach amtlichen Berichten und Zeugenaussagen“, S. 281–316, erst den Aufsatz aus dem Reichsanzeiger, dann, leise überarbeitet, die Darstellung des Nürnberger Korrespondenten; eine Abbildung der Ruine Rodenstein im Odenwalde ist beigegeben. Man ziehe in Betracht, daß Theodor von Haupt seit 1805, auf ein paar Jahre, Amtsadvokat in Erbach war, und halte die oben bezeugte Thatsache daneben, daß aus [310] Erbachischen Akten sowohl für den Reichsanzeiger wie für den Korrespondenten geschöpft worden ist. Darum wird mein Schluß berechtigt sein, daß Haupt selber die beiden früheren Darstellungen verfaßt und sie nachher für seine Aehrenlese als sein Eigentum, über das er frei verfügen könne, zurückgenommen hat.

So entstand Grimms Sage von Rodensteins Auszug thatsächlich nur aus zwiefacher Quelle: aus einer mündlichen, die sie selber gefunden hatten, und aus dem aus Aktenmaterial geschöpften Berichte Theodors von Haupt. Wir haben nun für den Bericht den Autor fest. Die Brüder Grimm sind aber über ihn hinausgegangen. Haupts übrige Arbeiten sind verschollen: nur was er einst für die Sage vom Rodensteiner gethan hat, ist durch die Brüder Grimm, ihnen selber unbewußt, gerettet worden. Was echt in Sage und Märchen ist, lebt unverloren im Besitz des Volkes fort.

Berlin-Friedenau. Reinhold Steig.     

  1. Korr. und Abendbl.: Trümmer.
  2. K: Herren.
  3. KA: der Tempel Janus
  4. K: mit Rossen, Hunden, in Gefolge seines Hausgesindes und dem Schmettern der Trompeten – A ebenso, hat jedoch noch: und unter dem Schmettern
  5. KA: durch die Hecken
  6. KA: durch die Scheune des Simon Daums
  7. KA: „Rodenstein, gleichsam (wie die Legende Legende sagt) als ob er flüchten und das Seinige in Sicherheit bringen wolle“; dort
  8. „ist“ fehlt in K
  9. nur A: Wahrheit derselben
  10. KA: Die amtlichen Protokolle
  11. A: 1741
  12. KA: Wie dann sogar es [A: er] damalen
  13. KA: ausgeblieben
  14. KA: Scheune
  15. eine große Last
  16. KA: geschehen, der Rückzug aber noch nicht erfolgt seyn.