Seite:Steig Entstehungsgeschichte Maerchen Sagen Grimm.djvu/17

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen

Principien vorzunehmen, wie bei der Erzählung vom Fischer, als die Abschrift viel correcter und den Regeln des Plattdeutschen zusagender war, als bei dem Fischer, und daher die Änderungen viel weniger und unbedeutender waren. Zudem war auch eine nicht unbedeutende Ungleichheit in der Schreibart, wie ich aus der Handschrift beweisen kann, die daher den ganz wörtlichen Abdruck schon nicht gestattete und Correcturen durchaus nöthig machte; sodann glaube ich auch, daß es nicht rathsam sei etwas in einer Sprache drucken zu lassen, die nicht wirklich irgendwie einmal geredet worden, wie es z. B. Hagen anfänglich mit den Nibelungen zu vieler Mißfallen gethan hat.“ Lauter Scheingründe natürlich, die Reimer wie ein Redakteur, der ein schlechtes Gewissen hat, zur Bemäntelung eines verunglückten Übergriffes hervorsucht.

Eine ganz unerwartete Instanz, die Reimer noch für sich anführte, war – Ludwig Tieck. Schon am 28. November 1812 schrieb er an Wilhelm Grimm, die Kürze seines Schreibens entschuldigend: „Ich erwarte in dieser Stunde Tieck, der einige Zeit hier bei mir wohnen wird.“ Am 1. Dezember setzte Reimer nun hinzu: „Endlich hat mir auch noch zu meiner größten Beruhigung Tieck, dem ich die Sache mittheilte, gesagt, die Erzählung sei gar nicht so abgefaßt, wie er sie selbst häufig aus Runges eigenem Munde gehört habe, selbst in einigen Wendungen und Momenten der Entwickelung verschieden.“

Es ist, wie mir scheint, von weittragender Bedeutung, dies erst jetzt hervortretende neue Moment, daß Tieck in die Grimmschen Märchen, noch während ihres Entstehens, schon Einsicht genommen hat. Denn beim Machandelboom allein wird er nicht stehen geblieben sein. Man bedenke: er ließ 1812 den Phantasus erscheinen, in den er seine älteren und neuen Märchen einlegte. Man vergegenwärtige sich von den früheren den blonden Eckbert oder den dramatisierten Blaubart, von den neuen den Liebeszauber oder die Elfen, um zu erkennen, wie Tieck die Pflichten und Rechte eines Dichters dem Märchen gegenüber auffaßte. Er betrachtete das Märchen an sich als Stoff, als Material, und „Jeder bearbeitet es auf eigene Weise und denkt sich etwas anderes dabei“ läßt er eine der sich unterredenden Personen sagen. Wie hätte ihn da die Grimmsche Sammlung,

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Georg Westermann, Braunschweig 1907, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Entstehungsgeschichte_Maerchen_Sagen_Grimm.djvu/17&oldid=- (Version vom 1.8.2018)